Pro: Margot Enz Kuhn, 53, ist seit 17 Jahren Hausärztin in Baden und im Vorstand der Hausärzte Schweiz verantwortlich für Gesundheitspolitik.

Kontra: Daniel Bracher, 71, war bis vergangenen August 32 Jahre lang Kinderarzt in Bern. Heute ist er Präsident des Vereins für freie Arztwahl.

Quelle: Monika Flückiger

Beobachter: Die sogenannte Managed Care soll Doppelspurigkeiten, unnötige Untersuchungen und häufigen Arztwechsel verhindern. Macht das unser Gesundheitswesen besser?
Margot Enz: Absolut, denn wir bewegen uns heute mehrheitlich im maximalen Betreuungsbereich, was nicht immer im Sinne des Patienten ist. Ein Beispiel: Eine 79-jährige Frau, wie sie täglich bei uns in der Praxis erscheint, hat fünf Diagnosen: Arthrose, Osteoporose, Diabetes, Bluthochdruck und eine Lungenkrankheit – ein fiktiver, aber realitätsnaher Fall, kreiert vom Institut für Hausarztmedizin. Gemäss den Richtlinien für eine «gute Medizin» müsste diese Frau wie folgt behandelt werden: vier Spezialisten verordnen zu fünf Tageszeiten zwölf Medikamente. In sieben Bereichen besteht die Gefahr für eine medikamentöse Wechselwirkung, und in acht Bereichen wird die Therapie durch die Ernährung beeinträchtigt. Eine verbindliche Zusammenarbeit der Ärzte in einem Netzwerk ist für eine solche Patientin besser, sicherer – und es lässt sich zudem extrem viel Geld sparen.
Daniel Bracher: Ich habe 30 Jahre lang ohne Mitgliedschaft in einem Netzwerk gearbeitet. Integrierte Versorgung hat immer mit einem konkreten Patienten zu tun. Was nützt ein Netzwerk mit 120 Hausärzten, wenn es um den Fall eines bestimmten Patienten geht? Darüber muss ich nicht mit den 119 übrigen Hausärzten sprechen. Hinter der propagierten «Behandlung aus einer Hand» versteckt sich ein gefährliches Machtstreben gewisser Hausärzte.
Enz: Es geht nicht um die Behandlung «aus einer Hand», sondern die Koordination der Behandlung durch «verschiedenste Hände». Was Herr Bracher sagt, ist typisch. Immer wieder erlebe ich es, dass ältere Kollegen ihr Lebenswerk in Frage gestellt sehen. Etwas, was sie immer gemacht haben, soll plötzlich nicht mehr richtig sein. Anders als unsere Gegner schauen wir aber nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft. Dort werden wir es mit jungen Ärzten und Ärztinnen zu tun haben, die nicht mehr Vollzeit arbeiten – der Frauenanteil beträgt 60 bis 70 Prozent. Viele werden sich schon deshalb in Netzen zusammenschliessen.
Bracher: Dann müsste der Verband Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte auch für die Vorlage sein, ist er aber nicht.

Beobachter: Würden Sie selbst auf freie Arztwahl verzichten?
Enz: Ich bin bereits in einem solchen Modell versichert. Ich empfehle es nicht primär wegen der Kosten, sondern weil es eine qualitativ bessere und sicherere Medizin bietet. Nur wer gut über sämtliche Behandlungsmethoden informiert ist, kann seinen Arzt gezielt frei wählen. Die meisten Patienten brauchen für diese Informationen einen kompetenten Hausarzt. Dafür sorgt der Vernetzungsgedanke von Managed Care.
Bracher: Für mich kommt ein Budgetnetz unter keinen Umständen in Frage, es ist qualitativ schlechter und birgt grosse Gefahren für den Patienten. Zudem steckt eine falsche Philosophie dahinter. Ich bin heute telemedizin-versichert. Das ist ein vernünftiges System, in dem ich mich nicht mit jenen solidarisch zeigen muss, die Ärztetourismus betreiben, und ich trotzdem die freie Arztwahl habe. Sollte die Vorlage angenommen werden, verschwinden solche alternativen Modelle allerdings.
Enz: Das ist falsch. Das neue Gesetz sieht als wichtigstes Modell Managed Care vor, aber auch die freie Arztwahl und Alternativen wie Telemedizin bleiben bestehen.
Bracher: Die alternativen Versicherungen werden zwar nicht verboten, aber die Versicherten müssen dafür 15 Prozent Selbstbehalt bezahlen. Diese Modelle werden deshalb nicht mehr konkurrenzfähig sein.

Beobachter: Es besteht also die Gefahr, dass diese Modelle früher oder später verschwinden?
Bracher: Ja, durchaus. Das ist so, als würde man für ein Brot bei Migros oder Coop zwei Prozent Mehrwertsteuer zahlen und in der Bäckerei vier. Genau das stört uns daran: die Verzerrung des Wettbewerbs.
Enz: Das ist im Gesundheitswesen nichts Aussergewöhnliches. Auch die Wettbewerbskommission kommt im Übrigen zum Schluss, dass Managed Care Konkurrenz- und Effizienzsteigerungen begünstigt.

Beobachter: Krankenkassen werden mit Managed Care nicht mehr einzelne Ärzte überprüfen, wenn sie zu teuer arbeiten, sondern ganze Netzwerke zur Verantwortung ziehen.
Enz: Genau. Neu sollen die Netzwerke selber für Effizienz sorgen. Daraus entsteht auch eine gewisse soziale Kontrolle.

Beobachter: Es wird auch behauptet, die Netzwerke könnten unterschiedliche Tarife mit den Krankenkassen aushandeln.
Enz: Nein, die Abrechnung wird weiterhin im Einzelleistungstarif erfolgen. Die Netze handeln mit den Kassen Steuerungsgelder aus – also die Vergütung für den Aufwand des Hausarztes, um die ganze Behandlung zu koordinieren.
Bracher: Mit Managed Care sind zwei gefährliche Szenarien denkbar. Einerseits könnten Krankenkassen Ärztenetzwerke aufgrund von Preisdifferenzen gegeneinander ausspielen. Es ist aber auch möglich, dass Netze so mächtig werden, dass sie den Kassen die Konditionen diktieren. Übermächtige Netzwerke würden ihre Macht aber kaum lange behalten, weil wohl bald die Kartellkommission einschreiten würde.

Beobachter: Also würden solche Netze zerschlagen?
Bracher: Ja, das würden sie. Und dann wären die Kassen definitiv mächtiger.
Enz: Das sind reine Spekulationen. Die Erfahrung aus 20 Jahren Managed Care zeigt, dass dem nicht so ist.

Beobachter: Zahlen aus dem Ausland zeigen, dass sich die Kosten durch Managed Care vervielfacht haben.
Bracher: Das ist richtig. Bei der Budgetmitverantwortung wird ein virtuelles Budget erstellt. Wird dieses unterschritten, geht ein Teil des Gewinns ans Netz. Wird es überschritten, muss das Netz einen Teil des Defizits ausgleichen. Das schafft einen Anreiz zu sparen. Und zwar im Graubereich. Fälle, in denen kaum protestiert wird, aber in denen der Arzt Gefahr läuft, seine Sorgfaltspflicht zu verletzen.

Beobachter: Bei Betagten zum Beispiel, die ohnehin in absehbarer Zeit sterben?
Bracher: Ja, das ist absolut denkbar. Wenn man die Kosten im Gesundheitssystem reduzieren will, sollte das offen geschehen und nicht versteckt in einem Ärztenetz.
Enz: Es geht nicht um Rationierung. Wir haben in der Grundversicherung ein riesiges Leistungsangebot. Es gilt, sorgfältig zu überlegen, was für einen Patienten in einer bestimmten Situation optimal ist.

Beobachter: Dennoch würde sich die Haltung von «möglichst viel» zu «nicht mehr als nötig» verändern.
Enz: Sie können sich nicht vorstellen, was Patienten heute alles fordern. Die Konsummentalität hat auch vor dem Gesundheitswesen nicht haltgemacht.
Bracher: Sparen würde man mit Budgetmedizin nur dann, wenn die Hausärzte den Spezialisten die Behandlungen vorschreiben könnten. Dazu fehlt ihnen aber die Kompetenz. Darum werden sie ihre Patienten viel später zu einem Spezialisten schicken. Eine überhebliche Einstellung und eine gefährliche Entwicklung.
Enz: Ich muss nochmals betonen: Es geht nicht ums Selbermachen, sondern ums Koordinieren. Die Patienten kommen ohnehin sehr oft zuerst zu uns Hausärzten.

Beobachter: Was können Netzwerke mit den Krankenkassen aushandeln, ausser Steuerungsbeiträgen?
Bracher: Es ist erlaubt, Exklusivverträge mit Spitälern und Pflegeheimen abzuschliessen. Diese Verträge beinhalten auch Retrozession. Konkret darf ein Patient nicht mehr in ein Pflegeheim seiner Wahl, sondern in eines, mit dem sein Netz einen Exklusivvertrag hat. Das Netzwerk wiederum bekommt Geld, wenn es den Patienten in dieses Pflegeheim schickt. Tun wir doch nicht so, als wenn Geld in diesem Projekt keine Rolle spielen würde.

Beobachter: Für viele Bürger bleibt eine entscheidende Frage: Muss ich den Hausarzt wechseln, wenn dieser nicht an ein Netz angeschlossen ist?
Bracher: Dann hat der Patient tatsächlich ein Problem. Noch grösser ist es bei den Spezialisten, die nämlich im selben Netzwerk wie der Hausarzt sein müssen.
Enz: Richtig ist, dass es heute nur wenige Netze mit eigenen Spezialisten gibt. Überweisungen erfolgen darum unabhängig von der Mitgliedschaft des Hausarztes in einem Netz. Es beeinflusst uns gar nicht.
Bracher: Also bringt die ganze Übung auch nichts. Lassen Sie doch einfach den Patienten die Wahl, sich für oder gegen dieses System zu entscheiden – ohne es mit falschen Versprechungen und Wettbewerbsverzerrungen künstlich zu fördern.

Managed Care: Das sind die Folgen für die Versicherten

Am 17. Juni entscheiden wir an der Urne über die Zukunft unserer Krankenversicherungen. Die vom Parlament mehrheitlich befürwortete Revision des Krankenversicherungsgesetzes soll für eine bessere, sicherere und trotzdem günstigere medizinische Betreuung sorgen. Das Modell soll mit finanziellen Anreizen gefördert werden. Der Bundesrat erhofft sich, dass künftig über 60 Prozent der Versicherten dieses Modell wählen.

Das ändert sich bei Annahme der Vorlage

  • Mit dem neuen Managed-Care-Modell verzichten Versicherte auf die freie Arztwahl und suchen im Krankheitsfall immer zuerst ihren Hausarzt auf. Wer seinen heutigen Hausarzt behalten will, muss beim Abschluss der Versicherung darauf achten, dass dieser einem von der Krankenkasse angebotenen Netzwerk angeschlossen ist.

  • Das Netzwerk kann aus örtlich verteilten Hausärzten bestehen oder eine HMO-Praxis sein. In beiden Fällen tragen die Netzwerke eine Kostenmitverantwortung und entscheiden über eine angemessene Behandlung des Patienten.

  • Die Ärztenetzwerke handeln mit den Krankenkassen Budgets aus. Wird ein Budget unterschritten, profitiert das Ärztenetzwerk vom eingesparten Geld. Wird es überschritten, muss das Netzwerk für einen Teil der Mehrkosten selber aufkommen. Für den Patienten hat dies keine Konsequenzen.

  • Versicherte profitieren im Managed-Care-Modell von einer tieferen Kostenbeteiligung. Sie soll sich auf 10 Prozent der Kosten belaufen, die die Franchise übersteigen. Im Modell mit freier Arztwahl würden es 15 Prozent sein.

    Versicherte hätten zudem einen tieferen Selbstbehalt von maximal 500 Franken pro Jahr. Bei freier Arztwahl wären es 1000 Franken.

  • Versicherte in alternativen Modellen wie Telemedizin zahlen künftig 15 Prozent beziehungsweise maximal 1000 Franken pro Jahr.

  • Wer in einem Kanton lebt, in dem gar kein Modell oder zu wenige Modelle mit integrierter Versorgung angeboten werden, wird während der nächsten drei Jahre einen Selbstbehalt von 10 Prozent beziehungsweise maximal 700 Franken bezahlen.

  • In Notfällen kann der Versicherte auch einen Arzt ausserhalb des Versorgungsnetzes konsultieren.

  • Mit Managed Care muss sich der Versicherte zwischen Verträgen mit unterschiedlicher Dauer entscheiden. Neu ist für alle Versicherungsmodelle eine Vertragsdauer von bis zu drei Jahren möglich. Die Krankenkassen sind allerdings weiterhin verpflichtet, auch einjährige Vertragsdauern anzubieten.