Die Dienstpflicht in der Schweiz revolutionieren: Nichts weniger will der Verein Service Citoyen. Heute müssen die Männer ins Militär, in den Zivilschutz oder den Zivildienst; die Frauen dürfen. Beim neuen Modell müssten alle für einige Monate einen Dienst an der Gemeinschaft leisten, die genaue Dauer ist noch unbestimmt. Aber man könnte selber wählen, wo man sich einsetzen will. Zu den traditionellen Sicherheitsdiensten sollen Aufgaben in den Bereichen Umwelt und Gesellschaft hinzukommen.

Die Mitwirkung der gesamten Zivilgesellschaft sei wesentlich, um Herausforderungen wie die Folgen des Klimawandels oder die Alterung der Bevölkerung solidarisch anzugehen, sagen die Urheberinnen und Urheber der Idee.

Nach langer Vorbereitungszeit wurde das Projekt nun öffentlich: Am 1. August startete eine digitale Testkampagne mit dem Ziel, 40'000 Unterschriftsversprechen und 60'000 Franken an Spenden zu generieren. Wenn dies erreicht wird, werden anschliessend Unterschriften für eine eidgenössische Volksinitiative gesammelt. An die Urne kommen könnte das Projekt 2025 oder 2026.

Die frühere deutsche Bezeichnung «Bürgerdienst» ist nicht gendergerecht und soll deshalb nicht mehr verwendet werden. Im Vordergrund steht für alle Landesteile das französische «Service Citoyen». Auch weil «citoyen» von der ursprünglichen Bedeutung her der passendere Begriff ist: jemand, der eigenverantwortlich am Geschehen seines Gemeinwesens teilnimmt. «Und weil wir so die Türen offen lassen für die in der Schweiz lebenden Ausländerinnen und Ausländer», sagt Noémie Roten, Co-Präsidentin des Initiativvereins.

Die Lancierung der Idee kommt zu einem günstigen Zeitpunkt, denn die Debatte läuft bereits: Erst kürzlich forderte die Offiziersgesellschaft eine Wehrpflicht auch für Frauen.


Beobachter: Noémie Roten, das letzte Mal haben wir im April 2020 über das Projekt berichtet , zu Beginn der Pandemie. Da standen die Zeichen auf Solidarität – ganz im Sinn des Service Citoyen. Wie haben Sie die Entwicklung seither erlebt?
Noémie Roten
Was wohl allen klargeworden ist in dieser Corona-Zeit: Krisen brauchen zivilgesellschaftliches Engagement. Die Mobilisierung der Armee hat super funktioniert. Das gesamte institutionelle Zivilengagement wurde sichtbarer, der Nutzen klar erkennbar. Man hat gelernt, dass wir uns auf künftige Katastrophen gut vorbereiten müssen, um rechtzeitig gewappnet zu sein. 


Dass das gesellschaftliche Engagement sichtbarer wurde – hat das Ihrer Sache geholfen? 
Ja, thematisch schon. Aber: Es ist beunruhigend, zu beobachten, dass sich ein kleiner, aber lauter Teil der Gesellschaft aus der Pflicht nehmen will, Rebell sein will. Leute gehen gegen die Corona-Massnahmen, die die Gemeinschaft schützen sollen, auf die Strasse. Der Service Citoyen wäre etwas, um dieser Polarisierung entgegenzuwirken, weil er alle Bewegungen der Gesellschaft einbindet und jede und jeder Verantwortung darin übernimmt. Das Schweizer Milizsystem ist grundsätzlich etwas Verbindendes, das hat man auch gerade wieder beim gemeinschaftlichen Einsatz rund um die Hochwasserbekämpfung gesehen.


Corona hat deutlich gemacht, dass es für den Pflegebereich grossen Bedarf an Unterstützung gibt. Wäre es besser gelaufen, wenn es den Gemeinschaftsdienst schon gegeben hätte?
Im Pflegebereich könnte der Service Citoyen tatsächlich sehr viel ausrichten. Heute ist nur die Armee in kurzer Zeit mobilisierbar, der Zivildienst bleibt auf der Strecke. Die Debatte muss lauten: Wer soll was machen in einer Krisensituation? Jetzt wäre die Gelegenheit, das neu zu definieren. Es ist doch nicht die Kernaufgabe der Armee, Dienst in Zivilspitälern oder Heimen zu leisten. Das wäre eine Aufgabe für den Zivildienst. Heute werden aber zivile Dienstformen stiefmütterlich behandelt und lediglich als Armeeersatzdienste, Zweitklassdienste, definiert. 

Wie wirkt sich die Gleichstellungsdebatte auf Ihr Projekt aus?
Unsere Initiative ist eine direkte Antwort auf die Fragen, die die Gleichstellungsdebatte aufwirft. Das heutige System ist sexistisch, weil es systematisch einen Teil der Bevölkerung aufgrund des Geschlechts von diesem Erfahrungsraum ausschliesst. Dies passt überhaupt nicht mehr in die heutige Mentalität. Unser Projekt passt also gut zu unserer Zeit.


Gemäss einer aktuellen ETH-Studie stehen zwei Drittel der Bevölkerung hinter der Idee eines Service Citoyen. Lassen Sie schon die Korken knallen?
Wir sind auf jeden Fall sehr froh über diese Ergebnisse. Sie zeigen, dass unser Anliegen breit getragen wird. Wenn es um die reine Erweiterung der Wehrpflicht für Frauen geht, stimmen nur 40 Prozent zu. Hingegen sind beim obligatorischen Gemeinschaftsdienst für alle, bei dem der Einsatzbereich freier wählbar ist, plötzlich 67 Prozent der Befragten dafür. 


Die entscheidende Frage ist aber: Wer soll das alles bezahlen?
Die Frage der Finanzierung ist sicher die grösste Herausforderung. Was ich sicher sagen kann: Es wird keine Verdoppelung der Kosten geben, da die meisten zusätzlich Serviceleistenden nicht dem Militär angegliedert werden. Laut Einschätzungen kostet ein Zivileinsatz etwa fünfmal weniger als ein Einsatz für die Armee. Auch könnten sich die Einsatzbetriebe wie Heime oder Gemeinden mehr an den Kosten beteiligen. Es darf nicht alles auf die Erwerbsersatzordnung abgewälzt werden. Berechnungen zeigen, dass je nach Szenario der EO-Beitrag nur um etwa 0,2 Lohnprozentpunkte steigen würde. 

«Der Service Citoyen ist definitiv keine Modeerscheinung, das Thema ist ja seit den 1960er-Jahren auf dem Tisch. Aber erst jetzt ist die Zeit reif dafür.»

Noémie Roten, Co-Präsidentin Verein Service Citoyen

Der prominenteste Fan des Service Citoyen ist Bundesrätin Viola Amherd. Sie hat sich mehrmals öffentlich positiv geäussert. Wie kam es dazu?
Das ist nicht so erstaunlich, da die CVP-Frauen schon Anfang der 1990er-Jahre so einen Dienst aufs Tapet gebracht haben, das hat also Tradition in Frau Amherds Partei. Vor zwei Jahren haben wir ihr geschrieben und unsere Idee erläutert, und sie hat uns zum Gespräch eingeladen. Sie findet den Service Citoyen einfach eine gute Sache.  


Anders als Stefan Holenstein, Präsident der Schweizerischen Offiziersgesellschaft. Er sagt: «Wir dürfen das bewährte Milizsystem nicht wegen einer Modeerscheinung über Bord werfen.»
Wir haben mit Herrn Holenstein mehrfach das Gespräch gesucht, aber nie eine Antwort erhalten. Schade! Wir hoffen, dass sein Nachfolger da visionärer und näher am Puls der Bevölkerung ist. Der Service Citoyen ist definitiv keine Modeerscheinung, das Thema ist ja seit den 1960er-Jahren auf dem Tisch. Aber erst jetzt ist die Zeit reif dafür. 

Zur Person

Noémie Roten, 32, ist Co-Präsidentin des überparteilichen Vereins Service Citoyen, der die Initiative für einen obligatorischen Gemeinschaftsdienst lanciert. Sie arbeitet zudem für die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft und schreibt als Zürcher Korrespondentin für das Westschweizer Portal Heidi.news. Die Walliserin war im Militär Lastwagenfahrerin.

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