Franz Pieren* lebt mitten im Dorf und ist doch ganz allein. Ohne feste Verbindung zu allen und allem da draussen. Seine Angststörungen stehen ihm im Weg. Deswegen verlor er vor fünf Jahren seine Stelle in der Fabrik unten im Tal. Kurz darauf starb seine Mutter, sein emotionaler Anker, dann zerbrach auch noch die Beziehung zu seiner Partnerin. Von da an isolierte er sich erst recht. Er schaffte es kaum mehr aus dem Haus, das ihm seine Mutter hinterlassen hat, liess niemanden mehr an sich heran. Eine stille Katastrophe in der heilen Bergwelt des Berner Oberlands.

Als Draht zur Restwelt verblieb dem 54-Jährigen Rita Graber* von der sozialpsychiatrischen Spitex. Einmal pro Woche trafen sie sich zum Gespräch. Dabei konnte Pieren über seine Belastungen reden. Die Pflegefachfrau besorgte ihm aber auch seine Einkäufe und regelte den Alltagskram. Die Treffen fanden stets ausserhalb seines Hauses statt. «Das war der einzige Weg, ihn nach draussen zu bringen», erzählt Rita Graber.

Dank ihr ist Franz Pieren nicht gestorben – gestorben aus Einsamkeit.
 

36,1% der Schweizer Bevölkerung ab 15 Jahren fühlen sich einsam.


Anfang Jahr schottete er sich vollends ab. Selbst auf Rita Grabers Kontaktversuche reagierte er nur noch selten. Als er einen Termin absagte und nicht mehr ans Telefon ging, überkam die Spitex-Pflegerin «ein komisches Gefühl». Sie alarmierte die Polizei.

Die Beamten fanden den völlig verwahrlosten Mann schwer krank in seinem eigenen Dreck. Fotos zeigen, wie der Müll knietief in der Wohnung stand. Während Tagen redete Rita Graber auf Pieren ein, «denn er sollte sich selber für einen Spitalaufenthalt entscheiden». Schliesslich willigte er ein – gerade noch rechtzeitig. Im Berner Inselspital diagnostizierte man eine akute Herzklappenentzündung, an den Beinen war bereits Gewebe abgestorben. Fünf Monate musste Franz Pieren im Spital und in der Reha bleiben.

Das unsichtbare Leiden

Franz Pierens Fall zeigt drastisch, wohin Einsamkeit führen kann. In der Regel sind die Folgen weniger offensichtlich. Einsamkeit nagt still und unsichtbar an der Seele. Mehr als 36 Prozent der Schweizer Bevölkerung fühlen sich «manchmal» bis «sehr häufig» einsam; bei den unter 34-Jährigen sind es noch etwas mehr. Das zeigen Zahlen des Gesundheitsobservatoriums von 2012. Frauen sind mit 42 Prozent viel häufiger betroffen als Männer (30 Prozent).

Übergewicht lässt sich mit der Waage messen, Einsamkeit nicht. Sie wiegt trotzdem schwer. Die Krankheit, die alle westlichen Gesellschaften befallen hat, breitet sich schnell aus. Das merkt auch Thomas Ihde als Chefarzt der Psychiatrischen Dienste im Berner Oberland. Er unterscheidet zwischen gefühlter Einsamkeit, die mit einem inneren Schmerz verbunden ist, und der Vereinsamung durch fehlende soziale Kontakte. «Beides gehört bei meiner Arbeit zu den häufigsten Themen, derentwegen sich Leute an mich wenden», sagt er (siehe Interview). Studien belegen, dass sowohl «innere» wie «äussere» Einsamkeit häufiger werden. 

In Grossbritannien richtete die Regierung deshalb Anfang Jahr gar ein Ministerium für Einsamkeit ein. Wohl eine imagefördernde Massnahme der umstrittenen Premierministerin Theresa May. Die Zahlen aus der «Hochburg der Einsamkeit» sind tatsächlich bedenklich. Gemäss Umfragen fühlen sich über neun Millionen Briten «häufig» oder «immer» einsam. 200'000 über 75-Jährige sprechen höchstens einmal im Monat mit einem Freund oder Verwandten. Jeder Fünfte, der einen Arzt aufsucht, beklagt sich explizit über Einsamkeit. Gegen vier Millionen Leute im Königreich bezeichnen den Fernseher als ihren besten Freund.

Frauen sind häufiger einsam als Männer

Quelle: BFS/SGB – 2012

Einsamkeit darf nicht mit Alleinsein verwechselt werden. Man kann allein und trotzdem sehr glücklich sein. Einsam sind gemäss Definition Personen, die sich mehr zwischenmenschliche Beziehungen wünschen, als sie tatsächlich haben. Die wissenschaftliche Erklärung, wie es zu diesem Wunsch kommt, liefert Lutz Jäncke, Professor für Neuropsychologie an der Uni Zürich: «Einsamkeit entsteht, wenn einer der wichtigsten biologischen Antriebe des Menschen nicht befriedigt wird: die soziale Bindung.»

Bei Franz Pieren erschweren die Angstsymptome die sozialen Kontakte Soziale Phobie «Ich schäme mich in Grund und Boden» weiterhin. Aber es geht ihm heute besser. Im August kehrte er in sein Haus zurück. Seither schafft er es oft, einmal pro Tag auf ein Glas in die Dorfbeiz zu gehen. Er wird enger betreut, mit Mahlzeitendienst, Putzhilfe und Physio. Spitex-Frau Rita Graber schaut jetzt dreimal pro Woche bei ihm vorbei und achtet darauf, dass er seine Medikamente nimmt. Die beiden haben vereinbart, dass er nach dem Winter wieder in die Psychotherapie geht.

Dank SOS Beobachter saubere Wohnung

Dennoch blieben viele Fragen offen, nicht zuletzt materielle. Das Erbe der Mutter, von dem der langzeitarbeitslose Pieren gelebt hat, ist aufgebraucht. Und bis die IV über sein Rentengesuch entscheidet, dauert es; in dieser Zeit muss die Sozialhilfe einspringen. Trotzdem blieben Rechnungen offen. Deshalb hat SOS Beobachter einen Beitrag an die Reinigung der vermüllten Wohnung geleistet. Eine pragmatische Unterstützung, die sonst niemand erbringt, ganz im Sinn des Stiftungszwecks Über uns Über die Stiftung SOS Beobachter .

«Einsamkeit kann man nicht versichern», sagt SOS-Geschäftsleiter Walter Noser. «Einsamen Menschen hilft nur die Hilfsbereitschaft und die Solidarität von uns allen.» Die Solidarität der Beobachter-Leser habe geholfen, bestätigt Franz Pieren. «Dass ich bei meiner Rückkehr keine so hohe unbezahlte Rechnung hatte, hat mir den Neustart erleichtert.»

Krankheit ist oft eine Ursache für Einsamkeit – noch viel häufiger ist Krankheit allerdings eine Folge davon. Medizinische Untersuchungen lassen wenig Zweifel: Einsam sein schadet der Gesundheit.

Menschen, die sozial isoliert leben, haben ein um 30 Prozent erhöhtes Risiko, vorzeitig zu sterben, unabhängig von Alter, Geschlecht und Lebensstil. Das ergab 2015 eine weltweite Analyse, die auf Daten von 3,4 Millionen Personen beruht. Kurz darauf bestätigten skandinavische Wissenschaftler, dass Einsame signifikant häufiger an chronischen Krankheiten und unter depressiven Verstimmungen leiden als gesellige Menschen. In den USA warnen Experten deshalb vor einer «Einsamkeits-Epidemie». Einsamkeit ist nicht nur eine individuelle Tragödie, sie ist heute ein gesamtgesellschaftliches Problem.

Ein anderer Treiber der Vereinsamung ist Armut SOS Beobachter Mit Köpfchen gegen Armut . Wer in materielle Not gerät, trifft sich seltener als zuvor mit Freunden. Das hat ein deutsches Forscherteam nachgewiesen. Auch der Bekanntenkreis verändert sich. Ausserdem: Wer länger arbeitslos ist, verliert allmählich den Kontakt zu Leuten, die einen festen Arbeitsplatz haben. Dadurch verringern sich die Chancen, einen neuen Job und damit selber den Weg aus der Not zu finden.

Sozialer Abstieg

Wer wenig Geld hat, kann es sich oft nicht mehr leisten, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Diese Erfahrung machte die 51-jährige Manuela Müller aus dem Berner Vorort Bolligen. Vor zehn Jahren starb ihr Lebenspartner, es war der Anfang von Müllers sozialem Abstieg. Kurz darauf verlor sie ihren Job als Buffetdame in einem Restaurant. «Ich habe nur eine Anlehre gemacht und dann immer am Buffet gearbeitet – aber das ist nicht mehr gefragt.» Heute hat sie ein Minipensum als Katalogverteilerin, ist ausgesteuert und lebt von der Sozialhilfe Existenzsicherung Sozialhilfe von A bis Z .

Hinausgehen, etwas unternehmen, sich mit Leuten im Café treffen: Das lag nicht mehr drin. Die stämmige Frau mit den halblangen Haaren kapselte sich immer mehr von der Umwelt ab. Für etwas Begleitung und emotionale Wärme hätte sie gern einen Hund gehabt. Doch das war zu teuer. Mit ihrem Wunsch gelangte sie an SOS Beobachter. Die Stiftung klärte die Umstände ab und finanzierte ihr den Kauf eines Hundes Hundehaltung Tipps für die Anschaffung eines Hundes aus dem Tierheim – die Schäferhündin Rayly.

Das war vor vier Jahren. Heute zeigt sich: Es handelte sich um eine nachhaltige soziale Investition Haustiere Glück auf vier Pfoten . Manuela Müller und der neunjährige Vierbeiner sind unzertrennlich. Rayly gebe ihr Halt und Struktur, sagt Müller. Mindestens zweimal täglich für jeweils zwei Stunden geht sie raus mit ihr. Andere Hündeler kennt sie kaum, aber die Bewegung tue ihr gut. Sonst sässe sie die ganze Zeit nur in der Wohnung und wüsste nicht, was sie tun könnte. «Seit ich sie habe, bin ich nicht mehr so allein», sagt sie, und ihre Stimme wird weicher: «Rayly beschützt mich.»

Der Zerfall der Gruppe

Oft heisst es, Einsamkeit sei die Schattenseite der Moderne. Die heutige Zeit verstärke tatsächlich Einsamkeit, weil grössere Gruppen wie etwa Grossfamilien zerfallen, sagt Neuropsychologe Lutz Jäncke. Mehr Freiheit bedeute immer auch mehr Unsicherheit. «Wenn das aus Referenzen und Regeln bestehende Gefüge zerbröselt, droht im schlimmsten Fall die Einsamkeit, weil uns die Sicherheit verlorengeht», meint er. «Wir sind dann quasi frei schwebend, ohne oder mit wenigen Kontakten zu anderen.»

Lassen uns also die individualisierten Lebensformen vereinsamen? Ein wissenschaftlicher Zusammenhang fand sich bisher nicht. Klar ist gemäss einer norwegischen Studie nur, dass gewisse Gesellschaften anfälliger für Einsamkeitsgefühle sind: diejenigen, in denen Geselligkeit und Familienbande einen höheren Stellenwert haben.

In den wirtschaftlich schwächeren süd- und osteuropäischen Ländern bezeichnen sich 30 und 55 Prozent der Menschen als einsam, im kühlen West- und Nordeuropa dagegen nur 10 bis 20 Prozent. Die grösste Überraschung der Untersuchung ist aber: Ältere fühlen sich in individualistisch geprägten Gesellschaften weniger einsam. Vielleicht haben sie sich einfach nur ein Leben lang daran gewöhnt, für sich zu sein.

Kalte digitale Welt?

Auf der Anklagebank für den Tatbestand Vereinsamung sitzen auch die sozialen Medien. Virtuelle Kontakte seien keine echten Kontakte, heisst es. Tatsächlich sind sich Fachleute einig, dass die emotionale Verbundenheit in einem Gespräch von Angesicht zu Angesicht am stärksten ist. Denn wir sind auch auf nonverbale Informationen angewiesen, auf Gesten, Mimik, den Klang der Stimme, den Blick. Genau das, was in der digitalen Welt fehlt.

Neuere Studien warnen indessen vor voreiligen Verurteilungen. Jugendliche fühlen sich dank Instagram und Snapchat sogar stärker mit ihren Freunden verbunden. Einsamkeitsgefühle entstehen offenbar erst, wenn sie Social Media sehr intensiv nutzen. Eine britische Erhebung von 2017 fand bei Normalbenutzern jedenfalls keine Auffälligkeiten.

Die englische Psychologin Rebecca Nowland sagt es so: Mit Social Media baut man sich eine geschönte Welt auf. Das kann für Junge, die sich im Netz verlieren, gefährlich sein Depression bei Kindern Jung und schon des Lebens müde . Richtig eingesetzt, können sie die soziale Isolation aber sogar vermindern. Das gilt erst recht für ältere Leute. Die digitalen Kommunikationsmittel ermöglichen ihnen, den Austausch mit Kindern oder Enkeln besser aufrechtzuerhalten.

«Meine Tore zur Welt»

Lieber virtuelle Kontakte als gar keine – diese Schlussfolgerung würde Patricia Werder aus dem freiburgischen Schmitten sofort unterschreiben. Auf ihrem Stubentisch thront ein Laptop, daneben liegt ihr Smartphone. «Meine Schätze, meine Tore zur Welt», sagt die 50-Jährige euphorisch. Ihr weiches Gesicht strahlt.

Viel zu lachen hatte Patricia Werder nicht im Leben. Vor zehn Jahren erlitt die gelernte Pharmaassistentin eine Lungenentzündung mit einer schweren Blutvergiftung. Wochenlang lag sie im Koma. Als sie aufwachte, war nichts mehr wie früher. «Ich kann mich nicht mehr auf meinen Kopf verlassen», sagt sie. 2015 wurde ausserdem eine Fibromyalgie diagnostiziert; das bedeutet diffuse, chronische Muskelschmerzen rund um alle Gelenke. «Mir tut es ständig weh, ich muss mich oft hinlegen, und mir wird schnell alles zu viel.» Hinzu kommen Schlafstörungen , Erschöpfung und Depressionen.

Ihr Sofa ist voller weicher Kissen, ihr Rückzugsort. Die Wohnung verlässt sie kaum je. Und Besuch gibt es so gut wie nie. Umso wichtiger sind Laptop und Handy – dank ihnen hat sie überhaupt noch einen Zugang zur Gesellschaft. Ermöglicht hat das die Stiftung SOS Beobachter, die ihr beide Geräte bezahlte. Damit kann sie Kontakt zur Aussenwelt halten, besonders zu ihrem Exmann und der gemeinsamen Tochter. Die 15-Jährige wohnt in einem Schulheim; sie ist Autistin.

Wunschtraum Katze

Momentan nutzt Patricia Werder den Laptop vor allem dazu, um mit den Lehrpersonen der Tochter zu kommunizieren. Auch die Berufswahl ist ein Thema. Die Jugendliche möchte Köchin werden. Wegen ihrer körperlichen und psychischen Beschwerden kann Patricia Werder nicht mehr arbeiten, sie lebt von der Sozialhilfe. Vor kurzem hat sie versucht, mit einem Einsatzprogramm wieder Fuss in der Arbeitswelt zu fassen. Sie musste den Versuch abbrechen – es sei zu aufreibend gewesen. Dabei würde sie so gern wieder etwas Geld verdienen, damit sie sich eine Katze leisten könnte. «Etwas Gesellschaft wäre schön.»

* Name geändert

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Dani Benz, Ressortleiter
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