Mit einem Leben beginnt manchmal auch eine Lüge. Simon Berger* schöpfte 38 Jahre lang keinen Verdacht, dass mit seiner Familie etwas nicht stimmte. Er entlarvte die Täuschung seiner Eltern per Zufall. Der Berner Ingenieur war nach einem Genetikvortrag so begeistert, dass er im Internet einen Gentest für 150 Franken bestellte. Die Auswertung seiner DNA zerriss seine Biografie.

Als sich Berger vor einem Jahr erstmals auf der Website der kalifornischen Gentestfirma 23andMe einloggte, sah er, zu wie viel Prozent er deutscher und italienischer Abstammung ist. «Das fand ich höchst spannend. Deshalb habe ich ja den Gentest gemacht.» Danach rief der verheiratete Familienvater die Verwandtensuche der Plattform auf. Auf dem Bürobildschirm erschien eine Warnung: «Bedenken Sie, dass Sie durch die Benutzung dieses Tools unerwartete Informationen entdecken können. Dabei können ungewöhnliche Verwandtschaften identifiziert werden, die Sie und Ihre Familie beeinflussen.»

Seine Welt ist plötzlich eine andere

Simon Berger klickte die Botschaft weg. Ein Algorithmus filterte aus den drei Millionen 23andMe-Kunden seine Verwandten heraus. «Ich schaute auf die Verwandtenliste und sah zwei Halbbrüder. Ich war durch den Wind.» Er fragte sich, ob das Labor seine Probe vertauscht habe. Sein Blutdruck spielte verrückt. «Als Einzelkind sollte ich also plötzlich zwei Halbgeschwister haben.» Er fragte sich, ob sein verstorbener Vater fremdgegangen war. Dass er nicht sein Erzeuger sein könnte, hielt er für unmöglich. Zu gut war sein Verhältnis zu ihm, so stolz war sein Vater immer auf ihn gewesen.

DNA-Auswertung.

Die Auswertung der kalifornischen Gentestfirma 23andMe kostete 150 Franken – und zerriss Simon Bergers* Biografie.

Quelle: PD

Ab diesem Moment veränderte sich Simon Bergers Welt radikal. Er fand heraus, dass er ein Kind der Samenbank ist, gezeugt 1979 in der Frauenklinik Bern. Dass sein biologischer Vater ein Unbekannter ist, dessen Personalien niemand notiert hatte. «Ich spürte eine grenzenlose Verwirrung. Auf der einen Seite entwickelte sich plötzlich meine ganze Identität neu. Gleichzeitig blieb alles genau gleich. Es war wie ein Riss, der plötzlich durch mich hindurchging.»

Simon Berger zählt zur ersten Generation von Spenderkindern, die heute erwachsen sind. Er wurde mit Sperma gezeugt, das zuvor in einem Metalltank voll Flüssigstickstoff bei minus 196 Grad gelagert war. Gespendet vermutlich von einem anonymen Berner Medizinstudenten. Berger wird seinen Spendervater deshalb kaum je finden. Es sei denn, der Unbekannte oder dessen Verwandte tauchen in einer Gentest-Datenbank auf.

Auf Vatersuche? So erhalten Sie Hilfe

Jahrgang 2001 und jünger: Spenderdatenbank des Eidgenössischen Amts für das Zivilstandswesen, E-Mail an: eazw@bj.admin.ch

Jahrgang 2000 und älter: Die Vatersuche ist schwierig, da Samenspendern Anonymität zugestanden wurde.

  • Betroffene tauschen sich hier aus: www.spenderkinder.ch.
  • Spenderkinder der Berner Frauenklinik am Inselspital erhalten Informationen auf www.inselmination.com.
  • Psychologische Beratung für Spenderkinder bietet die Fachstelle für Pflege- und Adoptivkinder: www.pa-ch.ch

→ Mehr zur Rechtssituation in der Schweiz lesen Sie im Ratgeber «Wie finde ich heraus, wer mein Vater ist?» Durch Samenspende gezeugt Wie finde ich heraus, wer mein Vater ist? .

Erst seit 2001 gibt es in der Schweiz eine gesetzliche Pflicht, die Identität von Samenspendern aufzuzeichnen. Ein Kind hat das Recht, die Identität seiner Erzeuger zu erfahren, sobald es volljährig ist. Für rund 7500 Spenderkinder bringt diese Regelung nichts, da sie zwischen 1974 und 2000 in Schweizer Spitälern geboren wurden. 

Den Samenspendern sicherten die Kliniken damals zu, sie nie zu outen. Den Eltern der Spenderkinder sagten die Ärzte, dass das nie ans Licht komme. Doch das Aufkommen günstiger Gentests via Internet macht diese Versprechen zusehends brüchig. Falls Tests hierzulande so populär werden wie in den USA, könnten Hunderte Spenderkinder von ihren wahren Wurzeln erfahren.

Das Beispiel von Simon Berger zeigt, was die Reproduktionsindustrie bis heute verdrängt: Wer Leben erzeugt, setzt Biografien in Gang. Paare weichen derzeit vermehrt ins Ausland aus, weil das Schweizer Gesetz Spenderkinder nur Verheirateten zugesteht und Eizellenspenden ganz verbietet. Und so entstehen im Ausland erneut Kinder aus anonym gespendeten Spermien oder Eizellen. Kinder, die ihre biologischen Eltern nie kennen werden.

«Ein gigantisches Loch tat sich in meiner biografischen Landkarte auf. Ich schaute mich im Spiegel an und dachte: Wer ist das?»


Simon Berger*, 38, Bern

DAS GESTÄNDNIS: DIE LEBENSLÜGE DER ELTERN PLATZT

In einem Einfamilienhaus in der Berner Agglomeration zerstörte Bergers DNA-Test ein Familienidyll. Marlies Berger* hütete an jenem Februarabend ihre zwei Enkelkinder. Nach dem Nachtessen stellte Ingenieur Berger seine Mutter zur Rede. «Wie du ja weisst, habe ich einen DNA-Test gemacht. Ich habe herausgefunden, dass ich zwei Halbbrüder habe. Mit einem habe ich heute Nachmittag telefoniert. Er sagte, seine Eltern seien in einer Fruchtbarkeitsklinik in Bern gewesen. Habt ihr je eine solche Behandlung gemacht?» – «Ja», sagte seine Mutter sofort. «Fritz* ist nicht dein Vater.»

Simon Berger war sprachlos. Marlies Berger fiel ein Stein vom Herzen. «Es war, als ob ich wieder atmen könnte», sagt die 70-Jährige. Nicht einmal ihre eigenen Eltern haben gewusst, dass ihr Ehemann nicht Simons Vater war. Nur ihr Mann und ihr Frauenarzt wussten Bescheid.

Mutter und Sohn fangen noch mal an

Als die Kinder im Bett waren, stand Berger im Badezimmer vor dem Spiegel und war sich fremd. «Ein gigantisches Loch tat sich in meiner biografischen Landkarte auf.» In den Tagen danach blieb er vor jedem Spiegel stehen. «Ich schaute mich an und dachte: Wer ist das? Das sind Erlebnisse, die ich niemandem wünsche.» 

In den Folgemonaten wechselten sich Wut und Verständnis für die Eltern ab. «Dass ich es selbst herausgefunden habe, ist der schlechtestmögliche Ausgang aus dieser Sache», sagt Berger. «Die Verschmolzenheit ist nicht mehr dieselbe. Wir müssen uns neu finden», sagt seine Mutter.

«Keine Kinder zu haben wäre für mich eine Option gewesen. Doch mein Mann konnte sich das nicht vorstellen.»


Marlies Berger*, Mutter von Simon

DIE GEBURT: SCHWANGER WERDEN UND SCHWEIGEN

Marlies Berger sitzt in der Küche und blickt zurück: «Ich war 30 und wurde seit Jahren nicht schwanger.» Erst spät wurde klar, dass es nicht an ihr lag. Ihr Ehemann war zeugungsunfähig. «Keine Kinder zu haben wäre für mich eine Option gewesen. Ich hatte bereits mit einer Lehrerausbildung angefangen, um dennoch mit Kindern zu arbeiten. Doch mein Mann konnte sich das nicht vorstellen. Er wollte eine Familie.» Marlies Berger stockt. Sie ist aufgewühlt. Es ist erst das zweite Mal, dass sie jemandem von damals erzählt.

Ein Gynäkologe wies die Bergers auf die Möglichkeit einer Befruchtung durch Fremdsamen hin, genannt heterologe Insemination. Er empfahl ihnen die Frauenklinik Bern. Das Paar meldete sich beim zuständigen Klinikarzt Ulrich Gigon zur Sprechstunde an. Der junge Oberarzt galt als Fachmann.

Gynäkologe und Geheimniskrämer

Kinder von Samenbanken waren in jenen Jahren gefragt. In die Berner Frauenklinik kamen Ende der siebziger Jahre im Durchschnitt jeden Tag neun Frauen, um gespendete Samen zu empfangen. Das zeigen die Jahresberichte.

Das Erstgespräch mit Ulrich Gigon dauerte ungefähr eine Stunde: «Er wollte wissen, ob wir psychisch stabil genug sind, um das durchzuziehen.» Der Gynäkologe bläute dem Paar ein, ja nie etwas zu verraten. «Die Ehepaare sollen das weiss Gott niemandem sagen. Selbst ihren Eltern nicht. Je mehr Leute das wissen, desto grösser ist die Gefahr, dass es das Kind erfährt. Ich meine, das Kind soll es nicht erfahren. Das Kind gehört in die Familie und fertig», erklärte Gigon 1980 einer Reporterin des Schweizer Fernsehens. 

Rückblickend sind sich Fachleute einig, dass das falsch war. Doch die Frauenklinik Bern setzte alles daran, dass die Spender nicht aufflogen. Sie mischte sogar die Spermien gleicher Blutgruppe, wie Ulrich Gigon 1979 in einem Fachbuch schrieb. «Gigon sprach immer von Spermiencocktails», erzählt Marlies Berger. Auch das ist heute verboten.

Gentest

Heute sind Spenderkinder besser geschützt als früher.

Quelle: PlainPicture

Marlies Berger beschreibt Gigon als sympathischen und charismatischen Arzt. Er nahm ihr die Zweifel. In den folgenden 16 Monaten mass sie täglich ihre Temperatur. Sobald sie anstieg und ein Eisprung bevorstand, erhielt sie einen Befruchtungstermin. 16-mal legte sie sich für eine Stunde auf das Klinikbett. Eine Schwester spritzte ihr die Spermien durch ein Schläuchlein in den Muttermund. «Dass es so lange nicht klappte, hat mich geschlissen. Gigon machte mir Mut. Ihn habe ich aber nur dreimal gesehen. Die Inseminationen machte er nie selbst.»

Bergers erhielten keine Dokumente. Nicht einmal Rechnungen stellte die Frauenklinik aus. Marlies Berger legte nach jedem Besuch 200 Franken auf den Nachttisch. «Es war belastend. Mit meinem Mann konnte ich nicht darüber sprechen. Er wollte nichts davon wissen.» Sie habe viel verdrängt. An Details erinnere sie sich nicht.

Als das Baby auf der Welt war, äusserten zwei Bekannte einen Verdacht. Denn der Vater war hell, der Sohn aber dunkel. Sie fragten: «Warst du in Italien und bist schwanger heimgekommen?» Diese Unterstellung habe sie wütend zurückgewiesen.

Mit einer Lüge leben und sterben

Jahre später fragte ein guter Freund: «Simon ist nicht von Fritz, oder?» Marlies Berger leugnete es. «Wir lebten mit einer Lebenslüge. Ich hoffte, dass mein Mann auf dem Sterbebett milde würde.» Das Gegenteil traf ein. «Er nahm mir kurz vor seinem Tod das Versprechen ab, Simon nie aufzuklären.» Sie bereut, dass sie es nicht früher gesagt hat. «Mit einem anderen Partner wäre es vielleicht möglich gewesen.»

Noch heute haben viele Männer ein Problem, zu ihrer Zeugungsunfähigkeit zu stehen. Drei Viertel der Eltern verschweigen die Insemination nach wie vor, zeigt eine Studie der Uni Cambridge von 2011. Nur jedes vierte Spenderkind kennt mit sieben Jahren seine Herkunft. Wenn dagegen die Frau unfruchtbar ist, sind die Eltern viel ehrlicher: Bei Paaren, die eine Eizellenspende erhalten haben, wissen 40 Prozent der Kinder Bescheid.

«Die Ehepaare sollen das weiss Gott niemandem sagen. Selbst ihren Eltern nicht. Je mehr Leute das wissen, desto grösser ist die Gefahr, dass es das Kind erfährt.»


Ulrich Gigon, damaliger Gynäkologe an der Frauenklinik Bern, in einem TV-Beitrag von 1980

DER PLAN: DIE NEUE VATERJAGD PER GENTEST

«Who is my daddy», sagt Thomas Gruber*. «Das wäre doch ein guter Name für unsere Homepage.» Der Wiener Informatiker sitzt mit seinem Berner Halbbruder Simon Berger in der österreichischen Hauptstadt in einem Kaffeehaus. Sie diskutieren, wie sie weitere Halbgeschwister und andere Spenderkinder der Berner Frauenklinik finden könnten. Per Website wollen sie Betroffene auffordern, einen Gentest zu machen. Simon Berger googelt in seinem Smartphone, blickt von seiner Melange auf und schmunzelt. «Der Name Whoismydaddy.com ist schon besetzt. Eine Pornoseite.» Beide lachen laut.

Grubers Vater will nichts wissen

Thomas Gruber hat seine Abstammung vor zwei Jahren entdeckt – ebenfalls per Gentest, unabhängig von seinem Halbbruder. Der selbständige Informatiker hegte keinen Verdacht. «Ich wuchs als glückliches Einzelkind auf, mit einer starken Bindung zu meinem sozialen Vater», sagt der 40-Jährige.

Grubers Mutter ist verstorben, das Verhältnis zum Vater angespannt. Vier Monate lang hatte sich der 77-jährige Österreicher geweigert, über den Klinikbesuch in Bern zu sprechen. Dann sagte er, er erinnere sich nicht, was damals in der Schweiz genau passiert sei. Er habe seine Samen auch abgegeben.

Vater Gruber weiss bis heute nicht, dass sein Sohn drei Halbgeschwister gefunden hat. Über den Genprofil-Vergleichsdienst GEDmatch fand er die Halbschwester Marie Favre* aus Genf. Die 39-Jährige weiss seit drei Jahren von ihrem Spendervater und suchte intensiv nach ihm. Sie besuchte Ulrich Gigon in seiner Praxis. Der pensionierte Gynäkologe habe freundlich auf ihre Fragen reagiert. «Wer mein Vater ist, konnte er mir aber nicht sagen.» 

Marie Favre steht mit ihren neuen Halbbrüdern nur in losem Kontakt. Die Sprachhürde ist hoch. Immerhin tauschen sie sich aus. Der dritte Halbbruder hat bis heute nie auf Nachrichten seiner Halbgeschwister reagiert. 

Gruber und Berger haben schliesslich ihre Site Inselmination.com getauft. Dort informieren sie seit kurzem über die damaligen Umstände und warnen die Spenderväter: Die damaligen Akteure hätten ihre Rechnung ohne «Kommissar Fortschritt» gemacht, schreiben sie. «Die von Ihnen gezeugten Kinder sind heute dank DNA-Tests in der Lage, ihre Geschichte zu erfahren.» Die Anonymität der Spender sei bedroht. 

«Es gibt Hunderte Spenderkinder, die nichts von ihrem Erzeuger ahnen. Aber immer mehr Leute machen DNA-Tests», sagt Simon Berger. «Mich stört, wie berechnend die damals vorgegangen sind. Der Spender hatte jeweils dieselbe Blutgruppe wie der Ehemann. Die Vertuschung war also perfekt organisiert», erklärt Gruber.

«Mich stört, wie berechnend sie vorgegangen sind. Die Vertuschung war perfekt organisiert.»


Thomas Gruber*, 40, Wien

DER ZEITGEIST: ÄRZTE ONANIEREN FÜR DIE EIGENE KLINIK

Gynäkologe Ulrich Gigon riss an der Frauenklinik Bern gern Sprüche. «Ich weiss nicht, wie viele Kinder ich selbst habe», habe er oft erklärt, sagen zwei voneinander unabhängige Quellen. Onanierende Frauenärzte wurden in den siebziger Jahren toleriert: «Junge Studenten oder junge Ärzte mit einwandfreier Spermaqualität» taugten als Spender, schrieb Gigon 1974 in der «Schweizerischen Medizinischen Wochenschrift». Damals war er 33.

Was an der Klinik tatsächlich geschehen ist, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Ulrich Gigon ist vor wenigen Jahren gestorben. Und Dokumente gibt es nicht. Ein Beteiligter erzählt, Dozenten hätten die Berner Medizinstudenten damals in Vorlesungen um Samenspenden gebeten. Auch Assistenzärzte seien aufgefordert worden, für die Frauenklinik zu onanieren. Aus heutiger Perspektive eine Ungeheuerlichkeit.

Keine Prüfung, kein Kommentar

«Die Behandlung einer Patientin mit dem Sperma ihres Arztes wäre aus medizinethischer Sicht ein völlig unakzeptables Vorgehen», sagt Arzt Felix Häberlin, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Reproduktionsmedizin. 

Die Frauenklinik war damals eine Verwaltungseinheit des Kantons Bern. Wichtige Entscheidungen brauchten die Zustimmung des Gesundheitsdirektors. Die Berner Gesundheitsdirektion will die damaligen Vorkommnisse aber «weder prüfen noch kommentieren». Es gebe keine Akten mehr, begründet ein Sprecher.

Die Frauenklinik Bern betrieb damals das zweitgrösste Samenbank-Zentrum der Schweiz. Zwischen 1974 und 1979 wurden 605 Frauen behandelt, 454 wurden schwanger. Nur am Kantonsspital St. Gallen kamen noch mehr Spenderkinder zur Welt. Die Kliniken in Basel, Liestal und Locarno waren vergleichsweise klein. 

Gentest

Weil die Eizellenforschung in der Schweiz verboten ist, lassen sich noch immer viele Paare im Ausland behandeln.

Quelle: Science Photo Library

An Gesetze mussten sich die Ärzte nicht halten. Wie viele Kinder sie pro Samenspender kreierten, war weitgehend ihnen überlassen. Ulrich Gigon sprach in Aufsätzen von sechs bis zehn Kindern pro Spender. Doch selbst 50 Kinder pro Spender seien theoretisch ungefährlich, schrieb er. Selbst dann gäbe es höchstens alle fünf Jahre eine unerwünschte Heirat zwischen zwei Halbgeschwistern, die von ihrer Verwandtschaft nichts ahnten. Heute definiert das Gesetz ein Maximum von acht Kindern pro Spender. 

In Bern stoppte erst der neue Klinikdirektor Henning Schneider 1987 das Fremdsamengeschäft. «Eine saubere Dokumentation über die Samenspender und die behandelten Frauen gab es nicht, als ich mein Amt angetreten habe», sagt der heute 79-Jährige. «Die Sache ist sehr unsauber gelaufen.» Die Frauenklinik Bern habe zwar gegen keine damals gültigen Vorschriften verstossen. Doch er habe schwerwiegende ethische Bedenken gehabt. Sechs Monate nach Schneiders Amtsantritt fand in Bern die letzte künstliche Befruchtung statt, die einen Unbekannten zum Vater machte.

Heute ist man klüger

«Das Bedürfnis der Kinder, ihre biologische Identität zu erfahren, haben wir damals unterschätzt», sagt der 88-jährige Hans Ludwig, ehemals Inhaber des Lehrstuhls für Gynäkologie an der Uni Basel. Dort hat er während vier Jahren ebenfalls Frauen mit Samen von anonymen Medizinstudenten befruchtet. «Wenn mir klar gewesen wäre, wie intensiv Spenderkinder später nach ihrem biologischen Vater suchen, hätte ich weniger Befruchtungen mit Fremdsamen vorgenommen.»

Thomas Gruber und Simon Berger glauben inzwischen nicht mehr, dass sie ihren Spendervater je treffen werden. Trotz den Gentests. Gewisse Vorstellungen haben sie aber. «Ich denke, der Spender sieht uns ähnlich. Vielleicht hat er sogar den gleichen Humor wie wir», sagt Gruber. «Ein Gespräch mit ihm wäre spannend», sagt Berger. «Ich suche aber keine Vaterfigur. Der Samenspender ist mein Erzeuger. Einen Vater habe ich schon.»


*Namen geändert

Das Geschäft mit der Herkunft

23andMe, Family Tree DNA, MyHeritage aus den USA und Israel sowie Igenea aus der Schweiz bieten einfache Gentests für zu Hause an. Für 100 bis 200 Franken versprechen die Anbieter Antworten auf Fragen zu den genetischen Wurzeln.

Das Prozedere ist relativ einfach und läuft in folgenden fünf Schritten ab:

  1. Der Kunde muss in ein zugeschicktes Röhrchen spucken und dieses an ein Labor senden. Dort wird der Inhalt analysiert.
  2. Die Anbieter werten nur einen Teil der DNA aus, da es sonst zu teuer würde. Forscher mahnen daher zur Vorsicht bei der Interpretation der Resultate.
  3. Gentest-Anbieter wie 23andMe legen von allen Kunden ein Profil an.
  4. Auf Wunsch kann der Kunde sein Profil mit denjenigen der anderen Nutzer abgleichen lassen. Ein Algorithmus errechnet dann, ob zwischen den verschiedenen Genprofilen eine verwandtschaftliche Beziehung besteht.
  5. Daraus erzeugt der Anbieter eine Liste mit allen Verwandten. Je mehr Kunden in der Datenbank des Anbieters sind, desto grösser ist die Chance, per Gentest auf Verwandte zu stossen.
Vorsicht!

Die eidgenössische Expertenkommission für genetische Untersuchungen beim Menschen rät von diesen Tests ab, auch weil sie verstörende Resultate zur Folge haben können. Konsumenten sollten zudem die Datenschutzbestimmungen genau prüfen, bevor sie ihren Speichel in ein Labor in der Schweiz oder nach Übersee senden. Intimste Daten werden möglicherweise weitergegeben oder ewig gespeichert. Zudem sind genetische Selbsttests, die Auskunft über Krankheiten geben, in der Schweiz verboten. Diese dürfen nur Ärzte vornehmen.

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Tina Berg, Redaktorin
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