«Seit ich hier arbeite, ergeben meine Depressionen einen Sinn», sagt Andreas Ineichen und lächelt. Ineichen hat in den letzten 15 Jahren mehrere psychische Krisen durchlitten. Zweimal musste er sich in psychiatrischen Kliniken behandeln lassen. Das letzte Mal vor etwas mehr als zwei Jahren.

Heute sitzt der ausgebildete Holztechniker in einem kahlen Besprechungszimmer in der Psychiatrischen Klinik Liestal BL und spricht über Genesungsprozesse. Das hätte der 38-Jährige noch vor kurzem für unmöglich gehalten. Doch seit Februar ist er in der Klinik angestellt. Er arbeitet hier einmal pro Woche als Genesungsbegleiter – statt im Büro eines Fensterherstellers.

In der offenen Abteilung A1 der Klinik Liestal berät Ineichen Patienten, die das möchten. «Hier kann ich meine Erfahrungen mit dem riesigen Tabuthema Depression gewinnbringend einsetzen.»

Der Makel wird zum Mehrwert

Ineichens neuen Beruf gibt es in der Schweiz erst seit wenigen Jahren. Ausüben kann ihn nur, wer längere Zeit selbst Psychiatriepatient war und eine Weiterbildung mit Klinikpraktika gemacht hat. Die Genesungsbegleiter sollen psychisch Kranken Hoffnung geben, das Pflegepersonal sensibilisieren und die Hierarchie in der Klinik auflockern. Mit ihnen zieht die Betroffenenperspektive erstmals fix ins Behandlungsteam ein. 

Das Konzept stammt aus den USA und nennt sich Recovery, Genesung. Die Genesungsbegleiter heissen dort Peers, Kollegen. Ihr Ziel ist das Empowerment, die Selbstbestimmung der Patienten.

«Was dabei zählt, ist das Gespräch auf Augenhöhe», sagt Genesungsbegleiter Ineichen. Er erzählt Patienten, wie er den Klinikaustritt geschafft hat. Er berichtet in der Depressionsgruppe morgens um neun von seinen Rückschlägen und seiner Genesung. Oder er überprüft auf Wunsch des Patienten die Krankenakte, die sonst nur Ärzte und Pfleger einsehen dürfen. «Die Aufgabe gibt mir eine Zufriedenheit, die ich nicht erwartet hätte. Auch meine Frau bemerkt einen Unterschied, wenn ich nach Hause komme.»

«Hier setze ich meine Erfahrungen mit dem Tabuthema Depression gewinnbringend ein.»

Andreas Ineichen, Peer

Die Psychiatrie Baselland hat vor rund einem Jahr entschieden, zwei Genesungsbegleiter-Stellen zu schaffen. Die neuen Mitarbeiter seien Hoffnungsträger, sagt die pflegerische Leiterin Rachel Affolter. «Die Patienten sehen, dass es Leute gibt, die wieder gesund geworden sind. Menschen, die es geschafft haben, aus Krisen herauszukommen.» 

Der Einsatz diene nicht dazu, Geld zu sparen oder die Patienten früher nach Hause zu schicken, betont sie.

Die Symptome sind noch da

«Einfach ist die Arbeit in der Klinik nicht immer», erzählt Chris Zeltner. Er ist der andere Genesungsbegleiter in Liestal. «Ich bin nicht einfach symptomfrei. Schwarze Gedanken habe ich nach wie vor. Doch ich bin nicht mehr das Opfer meines Lebens.» 

Der 49-Jährige hat eine Suchtkarriere hinter sich. Nach seinem 14. Geburtstag rutschte er schrittweise in die Drogenszene ab: Alkohol, Cannabis, Schulabbruch, Platzspitz, Letten, krumme Deals, Gefängnis, Psychopharmaka.

«Drei Langzeittherapien in Kliniken haben mir die Hoffnung und die Lebenslust nicht zurückbringen können», sagt Chris Zeltner. Erst durch den Austausch mit anderen Süchtigen in einer Gesprächsgruppe schaffte er das. 

Seit sieben Jahren ist Zeltner abstinent, seit vier Jahren arbeitet er als Streetworker in Luzern, seit einem halben Jahr als Genesungsbegleiter in Liestal. «Ich kann es gut mit Menschen. Auf einmal bekommt meine ganze Geschichte einen Sinn», sagt er und wirkt dabei überrascht.

Psychiatrie

«Schwarze Gedanken habe ich nach wie vor. Doch ich bin nicht mehr das Opfer meines Lebens.» - Chris Zeitner, Genesungsbegleiter

Quelle: Roland Schmid

Die Ärzte haben bei Zeltner eine bipolare Störung diagnostiziert. «Doch kein Mensch trägt lebenslang seine Diagnose mit sich herum. Die Krankheit ist ständig in Bewegung. Es ist alles möglich. Ich als Betroffener kann auf meine Genesung einwirken, das vermittle ich den Patienten», erklärt Zeltner.

Wenn er jemandem die Hoffnung zurückbringen könne, kehre das Flackern in die Augen zurück. «Ich sehe förmlich, wie der Funke springt.» Zeltner schnippt mit den Fingern. Wenn sich ein Patient nicht mehr als Opfer sehe, nicht mehr denke, er habe schon alles versucht und müsse lebenslang Medikamente nehmen, «dann passieren Dinge, die grandios sind». 

Ein Beruf verändert die Psychiatrie

20 Schweizer Psychiatriekliniken beschäftigen heute ehemalige Patienten als Experten. In Bern, wo es das Projekt seit acht Jahren gibt, haben alle Patienten der Uniklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Zugang zu einem der acht Genesungsbegleiter. In Zürich wird die Psychiatrische Uniklinik voraussichtlich nächstes Jahr ein Peer-Projekt starten. Sie zählt damit bereits zu den Nachzüglern.

«Der Beruf des Genesungsbegleiters steht in der Tradition der Selbsthilfegruppen», sagt die Zürcher Historikerin Marietta Meier. Aufgrund von Anstellung, Lohn und Einsicht in Patientendossiers hätten die Peers heute aber eine starke Position, erklärt die Dozentin der Universität Zürich. 

Ausgebildet werden sie unter anderem bei der Stiftung Pro Mente Sana, die sich für psychisch Kranke engagiert. Für den nächsten Kurs im Januar hat Ausbildner Uwe Bening auf 20 Plätze 118 Bewerbungen erhalten. «Viele ehemalige Patienten möchten über die Weiterbildung den Einstieg ins Berufsleben schaffen und dadurch gesellschaftliche Anerkennung erhalten», sagt Psychologe Bening. Viele hätten ihre eigene Geschichte gut verarbeitet und könnten sich bei neuen Krisen rechtzeitig Hilfe holen. Ein Genesungsbegleiter verdient gemäss Richtlinie rund 70'000 Franken für ein Vollzeitpensum.

Zuversicht und Selbständigkeit

Wissenschaftlich lässt sich der Nutzen der Genesungsbegleiter kaum nachweisen. Ein britisches und ein australisches Forschungsteam haben insgesamt 27 Studien dazu ausgewertet und keine eindeutigen Belege gefunden, dass die Peer-Arbeit die Behandlungsdauer verkürzt oder die Zufriedenheit von Patienten erhöht. Laut der britischen Studie wächst aber die Heilungszuversicht der Patienten. Sie nehmen seltener die Krisen- und Notfalldienste ihrer Station in Anspruch, berichten die Australier.

«Genesungsbegleiter sind kein Allheilmittel», bestätigt Uwe Bening von Pro Mente Sana. Doch sie könnten Patienten ermutigen, Verhaltensmuster zu ändern. Ausserdem könnten sie das Pflegepersonal für die Stärken eines Patienten sensibilisieren, so dass nicht nur die Symptome und Probleme im Vordergrund stünden.

In Chur zieht die IV schon mit

Auch die IV entdeckt die Peers. In Chur arbeitet auf der Kantonalen Sozialversicherungsanstalt seit Januar eine Genesungsbegleiterin mit. Die Bündnerin musste einst Ausbildungen krankheitsbedingt abbrechen und sich in einer psychiatrischen Klinik behandeln lassen. Heute arbeitet sie einen Tag pro Woche in der Eingliederungsberatung der IV-Stelle Graubünden – den anderen Angestellten gleichgestellt. 

Sie spricht mit Menschen, die trotz psychischen Problemen ihren Job behalten wollen oder eine neue Stelle suchen. «Oft sind Betroffene in so einer Situation verzweifelt und ratlos», sagt Thomas Pfiffner, Leiter der IV-Stelle Graubünden. «Die Peer-Mitarbeiterin kennt diese Situation aus eigener Erfahrung und kann Hoffnung und Zuversicht vermitteln.» Sie soll die Qualität der Beratung verbessern.

«Meine Leute sollen fitter werden im Umgang mit psychisch erkrankten Menschen.»

Thomas Pfiffner, IV-Stelle Graubünden

Die Peer-Mitarbeiterin begleitet IV-Berater bei ihren Kundengesprächen und gibt ihnen Rückmeldungen. «Ich will, dass meine Leute fitter werden im Umgang mit Menschen mit psychischen Erkrankungen. Da tut sich die IV noch schwer», so Pfiffner. Der 43-Jährige hat bis vor knapp drei Jahren die Psychiatrische Klinik St. Pirminsberg in Pfäfers SG geleitet, wo er ebenfalls Peer-Mitarbeiter angestellt hat.

Das Bundesamt für Sozialversicherungen lobt das Projekt: «Die Leiter der IV-Stellen haben unsere Unterstützung, wenn sie Peers einstellen wollen», sagt Vizedirektor Stefan Ritler. Man könne das Konzept aber nicht von oben verordnen. Nur so sei es möglich, dass die IV-Angestellten diese Mitarbeiter auf gleicher Stufe akzeptierten. Zusätzliche Gelder erhält die IV-Stelle dafür nicht. Wer Peers anstellt, hat weniger Geld für andere Angestellte. «Auf 70 Vollzeitstellen schaufle ich noch so gern 20 Stellenprozente für etwas so Gutes wie Peer-Arbeit frei», so Pfiffner. 

Ob der Peer-Ansatz in anderen Kantonen Nachahmer findet, wird sich in den nächsten Monaten entscheiden. Im Rahmen einer nationalen Konferenzreihe des Bundes wird im Dezember darüber diskutiert, ob IV-Peers in einen eidgenössischen Masterplan aufgenommen werden. Damit will der Bund die berufliche Integration von Menschen mit Behinderung verbessern. «Wenn andere IV-Stellen interessiert sind, teile ich unsere Erfahrungen gern», sagt der unkonventionelle Chefbeamte Pfiffner.

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Jasmine Helbling, Redaktorin
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