Der Stadtpolizist betritt die Halle. Er spricht kurz mit zwei hellgekleideten Damen, dann geht er an der Menschenschlange vorbei, zwängt sich durch das Gedränge zu Amma vor. Wird sie jetzt verhaftet? Oder soll sie bloss die Nummer eines Falschparkers durchgeben? Tausende sind gekommen, haben ihre Fahrzeuge vor der Winterthurer Eulachhalle und im nahen Wohnquartier abgestellt. Für Stunden oder gleich für mehrere Tage. Es rauscht und knackt aus dem Funkgerät des Polizisten. Er legt es auf den Boden – und sinkt gleich selber dahin, direkt vor Amma. Dann legt er seinen Kopf auf ihre Schulter, lässt sich umarmen. Amma flüstert ihm ins Ohr.

Nach einer halben Minute steht er auf, richtet seinen Gurt, schultert das Funkgerät und macht sich aus dem Saal. «Ich bin im Dienst. Darum konnte ich mich nicht hinten anstellen», entschuldigt er sich. Er habe von diesen Umarmungen gehört – und er habe einfach wissen wollen, wie das ist.

Mata Amritanandamayi Devi, kurz Amma (Mutter) genannt, besucht seit 20 Jahren die Schweiz. Genauer: Tausende besuchen die 56-jährige Inderin, wenn sie und ihre 160 Mitreisenden für drei Tage haltmachen. 20'000 Menschen pilgerten laut Veranstalter Mitte Oktober in die Halle in Winterthur. Es werden immer mehr. Vor zehn Jahren waren es noch wenige tausend. Die genaue Zahl kennt niemand, denn wer Amma umarmen will, muss keinen Eintritt zahlen – aber stundenlang warten.

Quelle: Fabian Biasio
Sie riecht leicht süsslich

Wie ist es, von Amma umarmt zu werden? Die kleine, rundliche Frau sitzt auf einem Holzstuhl. Sie lächelt, schaut einem in die Augen. Von Fremden umarmt zu werden kann ja unangenehm sein. Sekunden sind dann eine Ewigkeit. Bei Amma ist das anders: Man fühlt sich sofort geborgen, versinkt im weissen Tuch, das den weichen Körper verhüllt. Die Wangen berühren sich. Man drückt sich innig, kuschelt sich an ihre linke Brust. Amma riecht leicht süsslich, aber angenehm unparfümiert. Zu denken gibt es in diesem Moment nichts, zu sagen auch nicht. Sie murmelt mantraartige Sätze: «Amma Mamma, Mamma, Amma», glaube ich zu verstehen.

Nach einer halben Minute lösen wir uns, es warten noch Tausende. Wer Amma in die Augen schaut, dem zwinkert auch kurz jenes verschmitzte Mädchen zu, das bereits Anfang der sechziger Jahre seine Eltern zur Verzweiflung trieb, als es wildfremde Menschen zu umarmen begann. Zum Abschied drückt sie mir einen Apfel in die Hand. Ich fühle mich gut, finde locker einen Weg durch Hunderte von Menschen, die dicht gedrängt um Amma sitzen, meditieren, lächeln. Wir fühlen uns gut.

Das wird andauern, versichert der 46-jährige Reto, der Amma bereits zum dritten Mal besucht. «Dieser Energieschub hilft über Monate durchs Leben. Ich brauche mich bloss kurz an die Begegnung zu erinnern, dann ist er wieder da», sagt er. Was für eine Energie? «Die bedingungslose Liebe. Wer sie erfahren hat, kann sie auch weitergeben.» In ihrem Wohnzimmer haben Reto und seine Frau ein Foto von Amma aufgestellt. «So begleitet sie uns täglich. Und wir leben seither besser», sagt er. Viele schildern ihre Amma-Erfahrung so. Einzelne ganz anders. Nach langem Anstehen und kurzer Umarmung fragt ein Mittvierziger seine Frau: «Spürst du was?» Sie: «Nein.» Er: «Gut. Gehen wir.»

Ein buntes Volk füllt die Halle. Kinder spielen zwischen Eltern, die sich auf Matten ein Lager in Ammas Nähe errichtet haben. Der unauffällige Bürolist, die goaerfahrene Hippiefrau und die tamilische Familie, sie alle sind gekommen, um Ammas Darshan zu empfangen, wie Eingeweihte die Umarmung nennen.

Ich sitze neben Amma, die in Indien als Reinkarnation der göttlichen Mutter verehrt wird. Ich darf sie interviewen – während sie weiter umarmt. Was bloss fragt man eine Göttin?

Das Interview läuft nebenbei: Bald 30 Millionen Menschen soll Amma bereits umarmt haben.

Quelle: Fabian Biasio

Beobachter: Sie umarmen jeden Tag mehrere Stunden lang Leute. Das muss ziemlich anstrengend sein. Möchten Sie manchmal jemand anderer sein?
Amma
: Nein. In den über 30 Jahren, in denen ich die Menschen umarme, habe ich kein einziges Programm abgesagt. Ich will niemand anders sein. Ich bin absolut im Frieden mit mir selbst. Nur dadurch kann ich mich auch vollständig den Menschen hingeben. Ich bin sehr glücklich, das können Sie mir glauben. (Lacht)

Beobachter: Wie haben Sie gemerkt, dass Ihre Umarmungen etwas Positives bewirken?
Amma
: Es war eine Erfahrung. Keine Eingebung, kein Traum. Als ich sieben war, bemerkte ich, dass jemand traurig war, und ich umarmte diesen Menschen. Es war eine ganz natürliche Reaktion. Liebe ist eine Kraft, die jeder Mensch in sich trägt. Es ist nur die Frage, wie man sie kanalisiert.

Beobachter: Und, wie machen Sie das?
Amma
: Ich unterscheide nicht zwischen Geist und Körper. Ich bin eins mit den Menschen, die zu mir kommen. Ich bin nicht wie eine Kamera, die alles speichert, was sie sieht. Ich bin eher eine Art Spiegel, in dem sich die Menschen erkennen können. Dabei liebe ich sie und glaube fest an sie.

Beobachter: Viele sagen, diese Energie helfe ihnen später durch den Alltag. Manche spüren dagegen kaum etwas. Warum?
Amma
: Ein Äffchen springt wie wild von Ast zu Ast. Genauso ist das mit dem menschlichen Geist, also den Gedanken. Es hängt von jedem selber ab, wohin er mit seinen Gedanken wandern will und wo er verweilen möchte. Ich verändere die Menschen nicht nach meinen Vorstellungen. Die Kraft der Liebe kann man nicht stoppen, sie fliesst ganz natürlich, genau wie ein Fluss. Was mit den Besuchern geschieht, hängt von ihrer Bereitschaft ab, sich auf diese Energie und vor allem auf sich selber einzulassen.

Beobachter: Wir durchleben eine weltweite Wirtschaftskrise. Das führt zu Machtkämpfen, um Ressourcen, aber auch um den richtigen Glauben. Wo stehen Sie in diesem Kampf?
Amma
: Zu sagen: «Meine Religion ist die richtige, die anderen liegen falsch», ist, wie wenn man behauptet: «Meine Mutter ist gut, deine ist eine Prostituierte.» Der Kern aller Religionen ist die Liebe und das Mitgefühl. Da hat es keinen Platz für einen Wettstreit. Leider wird der Dialog zwischen den Religionen heute nur auf einer intellektuellen Ebene geführt. Es findet kaum noch ein Austausch von Herz zu Herz statt.

Die Halle ist hell ausgeleuchtet, nur bescheiden mit Blumen und Tüchern geschmückt. Securitas und Banken grüssen von festinstallierten Werbebannern. Auf Tischen liegen Schmuck, indische Tücher, CDs mit Entspannungsmusik und Devotionalien. Die meisten Verkäuferinnen sind weiss gekleidet. Das verleiht ihnen etwas Erhabenes, manchen etwas Klinisches.

Auf einem der Tische liegen Puppen: Amma neben Jesus. Beide haben sie einen weichen Kern, laden zum Knuddeln ein. Amma als weiblicher Jesus? Ganz abwegig ist der Vergleich nicht: Wegen Ammas einfacher Liebesbotschaft, der 160 Jünger, die mit ihr um die Welt ziehen. Und wegen ihrer eigenen Geschichte.

Quelle: Fabian Biasio
«Mein Gott sind diese Leute hier»

Amma ist in einer Fischerfamilie in Südindien aufgewachsen, ihre Familie lebt in der Bhakti-Tradition. Dieser Yoga-Weg lehrt die Hingabe an einen vom Gläubigen bevorzugten Gott. Amma soll schon als Kind den Hindugott Krishna täglich besungen haben. Mit neun Jahren wird sie von den Eltern aus der Schule genommen, um fortan im Haushalt der zehnköpfigen Familie mitzuhelfen. Nebenbei lässt sie sich von einem christlichen Hilfsprojekt zur Näherin ausbilden.

Doch Amma hat anderes im Sinn: Die Armut vieler Nachbarn bewegte sie dazu, ihnen Kleider und Essen aus dem eigenen Haushalt zu bringen. Dafür wird sie von den Eltern hart bestraft. Amma beginnt darauf, die Bedürftigen mit Umarmungen zu trösten. Für die Familie eine Schande, denn in der indischen Kastengesellschaft herrscht eine ausgeprägte Berührungsangst; das Mädchen aus der untersten Kaste hatte ein Tabu gebrochen. Dennoch wollen sich immer mehr Menschen umarmen lassen. Amma durchlebt mehrfach ekstatische Zustände, die als Zeichen ihrer Gottesnähe interpretiert werden. Mit 25 wird sie von ein paar jungen Männern als spirituelle Lehrerin, als Guru akzeptiert. Sie gründet darauf einen Aschram, ein klosterartiges Meditationszentrum.

Und Amma selber, versteht sie sich als Göttin? «Ich sehe alle Menschen genau so, wie ich mich selber im Spiegel sehe. Gott? Ich glaube auf jeden Fall nicht an einen Gott im Himmel über den Wolken. Mein Gott sind diese Leute hier», sagte sie in einem Interview in Indien.

Kochen für die Massen: Ammas Tross reist mit einer grossen mobilen Küche.

Quelle: Fabian Biasio
Das Geld geht in Hilfsprojekte

Sektenexperten wie der Schweizer Georg Otto Schmid sehen keinen Anlass, vor Amma zu warnen. «Im Unterschied zu anderen Gurus ist mir nichts Problematisches bekannt, wie das Erzeugen von Abhängigkeiten, aus denen sich Anhänger nicht lösen können. Amma begnügt sich auch nicht mit der Ausrede vieler spiritueller Lehrer, sie würden anstelle von sozialem Engagement geistige Arbeit leisten. Sie packt Missstände mit konkreten Projekten an, die auch eine messbare Wirkung entfalten.»

Die simple Botschaft und ein undogmatisches Glaubensverständnis dürften die Hauptgründe für Ammas Erfolg sein. Hinzu kommt ein weltlicher: Mit Embracing the World führt sie ein grosses Hilfswerk, das nach dem Tsunami 2004 Tausende Wohnungen gebaut hat. Zudem gründete Amma Schulen und ein Spital, das mittlerweile eine Million Menschen kostenlos behandelt hat. Alles wird mit Spenden und den Souvenirverkaufserlösen auf Ammas Tourneen finanziert.

«Ich habe den Darshan empfangen und gehe jetzt gleich wieder. Dieser Basar rund um Amma ist nicht mein Ding», sagt ein Mittfünfziger. Für andere ist das Drumherum gerade das Entscheidende. «Die Umarmerei interessiert mich eigentlich wenig», sagt eine freiwillige Helferin. «Ich schätze Amma vielmehr, weil sie als Frau aus einfachsten Verhältnissen und ohne besondere Schulbildung unheimlich viel bewegt. Und obwohl sie als Göttin verehrt wird, steht sie mit beiden Beinen auf dem Boden. Man kann sie noch heute in der Küche beim Mithelfen antreffen.»

Zwischendurch umarmt Amma mit einem Handy am Ohr. «Es sind meist wichtige Anrufe aus Indien. Sie ist eben auch der CEO ihrer Hilfswerke. Diese Frau beherrscht Multitasking wie keine andere», sagt eine Vertraute. In Indien umarmt sie bis zu 20 Stunden pro Tag.

Ein freiwilliger Helfer aus Australien

Quelle: Fabian Biasio
Matthias heisst jetzt Akshay

Hunderte von Freiwilligen haben ihre Ferien oder mehr hergegeben, um in Winterthur mitzuhelfen. Gearbeitet wird vor allem hinter der Halle, wo eine eindrückliche Küchenstadt steht. Herzstück ist ein ausgebauter Schiffscontainer, der sich aufklappen und zu einer riesigen Zeltküche erweitern lässt. Ein ausgeklügeltes System von Gasleitungen führt zu Kochstellen, auf denen gigantische Töpfe thronen. Dutzende rüsten, kochen und waschen ab. In einer Nebenhalle werden täglich Tausende Besucher mit indischem Essen verwöhnt. Manche sollen nur wegen der Mahlzeiten hierherkommen. Gemanagt wird die Küche vom Deutschen Akshay, der eigentlich Matthias Schneider heisst. Vor 14 Jahren brach er sein Medizinstudium ab, um in Ammas Aschram zu ziehen. «Ich habe den Entscheid nie bereut. Jetzt kann ich etwas zum Gelingen dieser grossartigen Tourneen beitragen. Und ich bin immer in Ammas Nähe.»

Unter den Helfern befinden sich auch rund 50 Frauen und Männer aus der Region Chur, die zusätzlich einheimische Spezialitäten zubereiten, zum Beispiel Pizokel. Die meisten sind nicht zum ersten Mal hier. «Am Anfang waren wir eine Handvoll Leute. In Chur hiess es: ‹Die gehen jetzt nach Zürich in eine Sekte›», lacht eine der Frauen. Mittlerweile seien auch einige der Kritiker mit dabei. Und: «Wissen Sie, ich bin ja eine Christin. Was aber Amma auf die Beine stellt, ist ein Geschenk für alle Menschen.»