Als Epilepsiepatientinnen schluckten sie auf Anraten ihrer Ärzte das Medikament Depakine mit dem Wirkstoff Valproat – obschon sie schwanger waren. Ihre Kinder kamen mit Missbildungen auf die Welt oder leiden inzwischen an teils schwerwiegenden Entwicklungsstörungen.

Im Beobachter schilderte Gabriela O.* Epilepsie-Medikament Kinder behindert – wegen riskantem Mittel , welche Hürden sie mit ihren beiden Kindern im Alltag meistern muss – und wie sie von Ärzten alleine gelassen wurde. Aus ihrer Krankenakte erfuhr sie Jahre später, wie ihr Neurologe während der Schwangerschaft an der Medikation festhielt, obschon er von der schädigenden Wirkung für Ungeborene wusste.

Auch die IV klagt gegen Pharmafirma

Jetzt ist der Fall der Depakine-Opfer ein Fall für die Justiz. Einerseits reichten die Anwälte von zehn betroffenen Kindern Klage gegen Sanofi ein, wie die Sonntagszeitung berichtete. Zum anderen geht nun auch die Invalidenversicherung (IV) juristisch gegen den Pharmakonzern vor, wie Rolf Camenzind vom Bundesamt für Sozialversicherung bestätigt.

Nachdem in drei Fällen Aussöhnungsversuche mit Sanofi gescheitert seien, habe das Bundesamt für Sozialversicherung beim zuständigen Gericht eine vorsorgliche Beweisführung beantragt. Ob es auch zu Regressklagen gegen Sanofo und die beteiligten Ärzte kommt, ist noch offen.

Anzahl Valproat-Opfer nicht genau bekannt

Offensichtlich befürchtet die Invalidenversicherung, dereinst für eine unbekannte Zahl von Geschädigten hohe finanzielle Leistungen erbringen zu müssen. Wie viele Kinder in der Schweiz von Fehlbildungen oder Entwicklungsstörungen betroffen sind, weil ihre Mütter während der Schwangerschaft den Wirkstoff Valproat eingenommen hatten, ist nicht bekannt. In einem aktuellen Bericht des Bundesrats schreibt die Heilmittelbehörde Swissmedic von 39 Meldungen über Fehlbildungen oder Entwicklungsstörungen zwischen 1994 und 2018.

Das Problem: In der Schweiz sind schwerwiegende Nebenwirkungen von Medikamenten erst seit 2002 meldepflichtig. Noch vor zwei Jahren sprach Swissmedic von weniger als 30 Fällen. Gut möglich, dass die Zahl betroffener Kinder in der Schweiz wesentlich höher ist. Allerdings dürften viele Fälle verjährt sein Strafrecht Wie sinnvoll ist die Verjährung? , weshalb sie Swissmedic gar nicht mehr gemeldet wurden.

Schäden von Gesichtsanolamien bis Autismus

Medikamente mit dem Wirkstoff Valproat sind schon über 50 Jahre auf dem Markt und seit den 70er Jahren ist bekannt, dass es schwerwiegende Schäden am ungeborenen Kind auslösen kann. Trotzdem verschrieben es Ärzten weiterhin. Heute geht man davon aus, dass etwa 10 Prozent der Kinder, die in der Schwangerschaft dem Wirkstoff ausgesetzt waren, mit Missbildungen geboren wurden. Bei etwa 30 bis 40 Prozent der betroffenen Kinder kommt es zu schweren Entwicklungsstörungen. 

Als typische Fehlbildung für das sogenannte «Valproat-Syndrom» gelten Gesichtsanomalien, etwa weit auseinanderliegende Augen, eine breite Nasenwurzel und eine schmale Oberlippe. Dokumentiert sind aber auch «offener Rücken» (Spina Bifida), Missbildungen an der Wirbelsäule und an Lippen, Kiefer- oder Gaumenspalte sowie Herzfehler und urogenitale Gliedmassendefekte. Bei den Entwicklungsstörungen sind etwa kognitive und psychomotorische Beeinträchtigungen, autistische Verhaltensstörungen oder das Asperger-Syndrom dokumentiert. 

«Swissmedic hat viel zu spät reagiert»

In Frankreich erhielten zwischen 2007 und 2014 über 14'000 Schwangere Depakine, obwohl die schädigende Wirkung am Ungeborenen längst bekannt war. 2016 kam es zu einer strafrechtlichen Untersuchung, eine Sammelklage folgte, schliesslich wurde ein Entschädigungsfonds für Betroffene eingerichtet.

«Auch in der Schweiz braucht es einen Entschädigungsfonds», fordert Margrit Kessler, frühere Präsidentin der Stiftung für Patientenschutz. Sie begleitet bis heute Depakine-Opfer und weiss, mit welchen finanziellen Belastungen die Eltern von betroffenen Kindern konfrontiert sind.

Kessler nimmt kein Blatt vor den Mund und kritisiert Swissmedic für ihren Bericht an den Bundesrat. Er beschönige insbesondere die eigene Rolle der Heilmittelbehörde. «Swissmedic hat viel zu spät reagiert und zuwenig klar vor möglichen Missbildungen durch das Medikament gewarnt.» Sie verlangt einen unabhängigen Bericht, der auch die fragwürdige Rolle von Swissmedic beleuchte. 


* Name der Redaktion bekannt

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Otto Hostettler, Redaktor
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