Das Problem: Ich habe eine Reihe eindrücklicher
und ungewöhnlicher Erlebnisse gehabt. Nach einer Phase
mit Todesgedanken, extremem Schlafbedürfnis und Bauchkrämpfen
hatte ich in einer Körpertherapie plötzlich ein
Gefühl von göttlicher Kraft. Ich fühlte mich
wie ein Schmetterling, der sich aus der Verpuppung befreit
hat. Ausserdem hatte ich eine Art Visionen, ich sei von meiner
Mutter vor dieser Geburt schon einmal abgetrieben worden.
Das schmerzt mich noch immer, und ich kann es nicht verarbeiten.
Ich fühle mich wegen dieser Erfahrungen oft einsam, und
mir fehlt ein Seelenführer.
Koni Rohner, Psychologe FSP: Sie scheinen von der
Reinkarnationslehre auszugehen, wenn Sie vermuten, Ihr Geist
sei schon einmal in einem Embryo – jenem abgetriebenen
– verkörpert gewesen. Niemand weiss mit Sicherheit,
ob diese Lehre richtig ist oder falsch. Sie gehört zur
Philosophie des Buddhismus und war sowohl bei den griechischen
Philosophen als auch im frühen Christentum anerkannt.
Doch selbst wenn es so etwas wie eine Wiedergeburt gibt, weiss
niemand, ob Ihre Bilder von dieser Abtreibung Erinnerung oder
Fantasie sind.
Die Beantwortung dieser Frage ist aus psychologischer Sicht
auch nicht wichtig. Arbeiten Sie einfach im Hier und Jetzt
mit den Gefühlen, die bei dieser Vorstellung auftauchen,
bis sie sich aufgelöst haben. Dass wir uns in der Regel
nicht an frühere Leben erinnern, wird schon seinen Grund
haben. Wahrscheinlich würden uns solche Überbleibsel
nur verwirren und vom jetzigen Leben ablenken.
Zu Ihrem Erlebnis von Göttlichkeit fällt mir
eine Geschichte ein, die ich irgendwo gelesen habe: Zwei Menschen
gehen durch einen dunklen, dschungelartigen Wald, in dem grosse
Gefahr besteht, sich zu verirren. Plötzlich zieht ein
Gewitter auf, und ein Blitz erhellt den Wald. Der eine schaut
fasziniert in den Himmel, der andere auf den Pfad. Ich empfehle
Ihnen, so zu handeln wie der Zweite: Freuen Sie sich über
Ihre aussergewöhnlichen spirituellen Erlebnisse, aber
lassen Sie sich dadurch nicht verwirren. Bleiben Sie auf dem
Boden und gehen Sie Ihren alltäglichen Aufgaben nach.
Ihrem Brief entnehme ich, dass Sie eine Familie mit Kindern
haben. Das erfordert viel praktische und konkrete Tätigkeit
und schliesst ein Leben à la Hermann Hesse, den Sie
ja sehr schätzen, oder die intensive Gottsuche eines
Mystikers aus. Sogar der berühmte Psychiater und Schulengründer
C. G. Jung, der im Buch «Erinnerungen, Träume,
Gedanken» Kontakt mit Geistern und Göttern beschreibt,
war froh um «das Wissen: Ich habe ein Ärztediplom,
ich muss meinen Patienten helfen, ich habe eine Frau und fünf
Kinder und wohne an der Seestrasse 228 in Küsnacht».
Früher eine Geheimwissenschaft
Immer mehr Leute sind heute von der christlichen Kirche enttäuscht.
Deshalb machen sie sich allein oder mit selbst ernannten,
zum Teil zweifelhaften Seelenführern, vielleicht sogar
mit bewusstseinsverändernden Drogen auf die Suche nach
spirituellen Erfahrungen, nach Gott, nach einem Jenseits oder
der Erleuchtung. Dieser Weg birgt häufig Gefahren. Aus
diesem Grund war die Esoterik früher eine Geheimwissenschaft.
Ihre Techniken und Erkenntnisse wurden nur an eingeweihte
Schüler weitergegeben, die eine lange Lehrzeit hinter
sich hatten und für reif befunden wurden.
Es kommt immer wieder vor, dass einzelne Menschen, die
exzessiv meditieren oder sich fast ausschliesslich mit magischen
und esoterischen Praktiken beschäftigen, in psychoseähnliche
Zustände oder zumindest in grosse Verwirrung geraten.
Eine gesunde spirituelle Entwicklung kann demgegenüber
nur gelingen, wenn der Körper und der Alltag ebenso wichtig
genommen werden.