Sucht, Absturz, Verwahrlosung - für Eltern gehören Drogen zu einer der ganz grossen Bedrohungen. Wen wunderts: Die Medienberichte über Jugendliche sind oft Geschichten über Exzesse. Und auch wenn heute in den Nachrichten keine Schreckensbilder einer «offenen Drogenszene» mehr ausgestrahlt werden, auch wenn im Sorgenbarometer 2007 «nur» noch jeder Zehnte Drogen als Hauptsorge nennt (im Vergleich: 1994 waren es 76 Prozent): Minderjährige konsumieren Suchtmittel. Laut aktueller Studie der Schweizerischen Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme ist fast die Hälfte der Buben das erste Mal im Alter zwischen 13 und 14 Jahren betrunken, und jeder Dritte raucht vor 15 seinen ersten Joint.

Der Trend, sagen Fachleute, gehe zum Exzessivkonsum, vor allem bei Alkohol, aber auch bei anderen leicht zugänglichen Substanzen wie Medikamenten. Auch Partydrogen und Kokain sind hoch im Kurs - und ein anderes Phänomen sei der Mischkonsum: Heute wird nicht entweder/oder konsumiert, sondern es werden mehrere Substanzen gleichzeitig eingenommen.

Der tiefe Fall der grossen Stars
Diese Fakten sind nicht schön. Und wenn Eltern in Zeitungen vom ausschweifenden Drogenkonsum grosser Stars lesen - aktuell Sängerinnen wie Amy Winehouse und Britney Spears -, dann plagen sie Gedanken wie: «Sind das nicht potentielle Vorbilder für mein Kind?»

Und noch eine Frage drängt sich auf: Was kann ich als Mutter oder Vater tun, damit sich mein Kind nicht im Drogenexzess wiederfindet - oder gar verliert? Die schlechte Nachricht zuerst: Die Handlungsmöglichkeiten sind begrenzt. Weil Eltern ihren Einfluss aufs Kind mit anderen teilen müssen, vorab der Peer-Gruppe, den Gleichaltrigen. Und weil scheinbare Universallösungen selten der individuellen Situation gerecht werden. Die gute Nachricht: Wer mit Rauschmitteln experimentiert - ob im Jugendalter oder später -, ist noch nicht drogenabhängig und muss es auch nicht werden.

Experten raten Eltern: hinsehen und ernst nehmen, angemessen reagieren, offen und glaubwürdig sein. Was betroffene Jugendliche in der Realität erfahren, sieht aber oft anders aus. Die Eltern von Nora (alle Namen von Betroffenen geändert) realisierten jahrelang nicht, was mit ihrer Tochter passierte. Das Mädchen war 15 Jahre alt, als es hinter einem Gebüsch unweit des Gymnasiums die erste Zigarette rauchte, und 16, als ihre beste Freundin ihr einen Joint anbot.

Sie war immer noch 16, als sie an einer Party eine Linie Speed durchs rechte Nasenloch hochzog - und gerade 17 geworden, als sie frühmorgens mit dem Velo nach Hause fuhr und Stunden später aufwachte, am Seeufer liegend, neben ihr eine Pfütze Erbrochenes. Das erste Mal sprachen Eltern und Tochter in klinischer Umgebung über ihren Drogenkonsum, im Spital.

Nora kommt nicht aus einem zerrütteten Elternhaus. Sie sagt: «Ich hatte ein entspanntes Verhältnis zu meinen Eltern, wenn auch kein sehr inniges. In der Schule war ich immer gut. An den Wochenenden hatte ich hin und wieder einen Absturz, meine Eltern schimpften mit mir, weil sie glaubten, ich hätte getrunken. Sie fragten nie, ob es Alkohol oder etwas anderes war. Tatsächlich trank ich gar nie, sondern schluckte Ecstasy oder nahm Speed. Als wir nach meinem Zusammenbruch redeten, wurde mir klar, dass sie durchaus befürchtet hatten, ich könnte etwas mit Drogen am Hut haben. Aber anstatt mit mir darüber zu reden, schauten sie weg.»

Vielleicht wollten Noras Eltern tatsächlich die Augen verschliessen. Weil es Eltern schmerzt, wenn das Kind Drogen nimmt. Weil man Angst hat, die Kontrolle übers Kind zu verlieren. Just aus diesem Grund sind andere Eltern wiederum übervorsichtig, reagieren schon beim ersten Anzeichen, dass ihr Sohn kiffen könnte, mit Härte. Einer, der das erlebt hat, ist Jürg. Er sagt rückblickend: «Dass ich mit Drogen zu experimentieren begann, hatte nichts mit meinen Eltern zu tun. Aber hätten sie nicht nach dem ersten Verdacht regelmässig mein Zimmer durchforstet und die Polizei ins Haus geholt, hätte mein Vater mich nicht geohrfeigt, sondern ernsthaft mit mir diskutiert, dann wäre ich vielleicht nicht - aus Trotz oder Wut oder Enttäuschung oder was auch immer - stets weiter gegangen, als ob ich sie testen oder bestrafen wollte.»

«Ich hatte Angst, dass er mir entgleitet»
Claudia Widmer ist 42 und lebt mit ihrem Mann und den beiden Kindern im Aargau. Eines Tages roch ihr Sohn Cyrill nach Zigaretten. Da war er noch keine elf Jahre alt. «Er ist zusammengeklappt wie ein Sackmesser, als ich ihn entsetzt zur Rede stellte», so Widmer. «Dann hat er geweint, geweint, geweint. Ich habe ihn in den Arm genommen - schliesslich erzählte er, dass er mit einem Schulfreund rauchte. Regelmässig. Seit einem halben Jahr schon.» Claudia Widmer rauchte zu diesem Zeitpunkt selber noch. Sie kennt sich auch mit anderen Suchtmitteln aus: Als Jugendliche hatte sie allerlei konsumiert, auch Heroin. Mit 25 fand sie den Ausstieg.

Trotz und wohl gerade auch wegen ihrer eigenen Erfahrung machte sich Claudia Widmer nach der Zigaretten-Entdeckung grosse Sorgen um ihren Sohn, der ein stiller Einzelgänger sei: «Ich hatte Angst, dass er mir entgleitet.» Sie nahm umgehend mit der Mutter des anderen Buben Kontakt auf, verbot Cyrill den weiteren Umgang mit ihm und schaltete einen Psychologen ein. Rückblickend sagt sie: «Es war richtig, den Kontakt mit dem Kollegen zu verbieten - und unsere sowie die Aufmerksamkeit des Psychologen hat auch Gutes bewirkt. Cyrill hat gemerkt, dass wir uns sorgen.»

Dass Kinder die Regeln der Eltern akzeptieren, ist nicht selbstverständlich. Schwierig wird es für Väter und Mütter vor allem dann, wenn sie in den Augen ihrer Kinder nicht glaubwürdig sind. Denn zu Hause begegnen Teenager Widersprüchen zuhauf. Etwa wenn die Eltern sich über den Sittenverfall der Kids ärgern, wo sie selber doch jeden Abend vor dem Fernseher sitzen, einen Wein und ein Mikrowellen-Fertiggericht vor sich. Nichts gegen Widersprüche, sie gehören zum Menschen, aber wer sie leugnet, belügt nicht nur sich selbst, sondern auch sein Umfeld. Und weil Kinder und Jugendliche nicht dumm, aber auf Vorbilder und Orientierung angewiesen sind, können vertuschte Widersprüche enorm verwirren oder für Auflehnung sorgen.

Glaubwürdigkeit, Offenheit, Auseinandersetzung - das klingt nach hohen Daueranforderungen an die Eltern. Doch inwiefern können Eltern überhaupt beeinflussen, wie ihr Kind mit Drogen umgeht? Nina Seiler von der Organisation Eve and Rave, die in engem Kontakt zu Drogenkonsumenten steht, sagt: «Ein offenes Vertrauensverhältnis und ein von Anfang an pragmatischer Umgang mit dem Thema psychoaktive Substanzen ist hilfreich. Patentrezepte zur Verhinderung einer Abhängigkeit gibts aber keine.» Ähnlich äussert sich Dirce Blöchlinger vom Verband der Eltern- und Angehörigenvereinigungen Drogenabhängiger (Vevdaj): «Weil es sich nicht um ein einfaches ‹Ursachen-Wirkung-Prinzip› handelt, ist die Frage nach der Einflussnahme schwierig zu beantworten. Sicher ist: Das eigene Konsumverhalten und der eigene Umgang mit Genuss- und Rauschmitteln sind bedeutende Faktoren. Auch eine offene Gesprächskultur ist wichtig - positive und negative Aspekte sowie Risiken, die mit dem Drogenkonsum einhergehen, sollten diskutiert werden.»

«Druck erzeugt Gegendruck»
Wer hart durchgreift, ohne sich vorgängig mit dem Kind - seinen Motiven, vielleicht Nöten - auseinandergesetzt zu haben, riskiert viel. Dirce Blöchlinger sagt: «Durch Repression lässt sich nichts verändern. Druck erzeugt Gegendruck oder Versteckspiel.» Das gilt auch für Massnahmen von Seiten des Staats. «Wenn schon Repression, dann sinnvolle», sagt Blöchlinger und nennt als positives Beispiel, wenn Behörden junge Drogenkonsumenten zu Gesprächen mit lokalen Fachstellen «verknurren»: «Das ist sicher besser als eine Busse, die ohnehin die Eltern bezahlen müssen.»

In den letzten zehn Jahren hat sich in der Drogenprävention viel getan. Martin Hafen, Soziologe und Dozent an der Hochschule für Soziale Arbeit Luzern, sagt: «Die Bedeutung der Früherkennung hat stark zugenommen, was erfreulich ist.» Aber seine Kritik, die der Präventionsexperte schon in den neunziger Jahren in der Fachzeitschrift «Soziale Arbeit» formulierte, schätzt er heute als unverändert aktuell ein: Suchtprävention ist schwierig in einer Gesellschaft, in der das Angebot an isolationsfördernden Beschäftigungen wie Fernsehen und Computerspielen kontinuierlich ausgebaut wird und in der etwa die Werbung Bedürfnisse schafft, die möglichst schnell befriedigt werden müssen.

In diesem Umfeld kommen sich Eltern, deren Kind ein ernsthaftes Konsumproblem hat, ganz allein vor. Dirce Blöchlinger vom Vevdaj stuft die Situation von Angehörigen als schlimm ein, auch heute noch: «Sie werden stigmatisiert und für das Fehlverhalten verantwortlich gemacht.» Anlaufstellen, wo die Betroffenen mit ihren Problemen ernst genommen werden, gibt es zwar viele. Aber Hilfe kann sich nur holen, wer weiss, dass er oder sein Kind Hilfe benötigt. Deshalb ist das Hinschauen wichtig. Angst war schon immer ein schlechter Ratgeber, und Erwachsene, die mit Empörung auf Jugendprobleme reagieren, helfen auch nicht weiter - weder den Betroffenen noch der Gesellschaft.

Was tun, wenn Ihr Kind Drogen konsumiert?

Wann aus dem Experimentieren mit Rauschmitteln regelmässiger Konsum wird, schliesslich Gewohnheit oder gar Sucht, ist individuell und hängt von der Substanz ab. Die Übergänge sind fliessend, und nicht jeder, der experimentiert, wird süchtig. Wenn die Leistungen und das Verhalten des Jugendlichen unverändert bleiben, ist sporadischer Drogenkonsum, zum Beispiel an Partys, kein Grund zur Panik. Das Ausprobieren ist normal in diesem Alter. Wichtig ist vielmehr die Frage, weshalb ein Kind oder ein Jugendlicher Drogen konsumiert. Wenn es dabei auch darum geht, die Schwierigkeiten im Alltag zu bewältigen oder zu verdrängen, mangelnde Beziehungen zu ersetzen oder Frust zu neutralisieren, ist es wichtig, dass die Eltern und andere Bezugspersonen genau hinschauen, sich über Drogen informieren und das Gespräch mit dem Jugendlichen suchen.

Falls dies nichts bringt, sollte man eine Beratung aufsuchen. Gefährdeter als andere sind Kinder mit psychischen Störungen. Diese manifestieren sich häufig in der Pubertät und werden oft nicht wahrgenommen. Zur Risikogruppe gehören auch Jugendliche mit traumatischen Erlebnissen (Missbrauch, Todesfälle), Jugendliche, die wenig Erfolg und schlechte Perspektiven haben oder keine Anerkennung geniessen (auch von Gleichaltrigen).

Informationen und Anlaufstellen