Als die 13-jährige Ramona aus Obergerlafingen SO im Januar ihr Baby der Öffentlichkeit präsentierte, war die Sensation gross. «Die ganze Schweiz ist gerührt», wusste der «Blick». Wenige Tage darauf folgte in der «Schweizer Illustrierten» bereits die erste Homestory über das «jüngste Mami der Schweiz». Hätte man die beiden 13-jährigen Oberstufenschüler Ramona und Juri, den Vater des Kindes, ein knappes Jahr zuvor beim Sex erwischt, hätten sie dafür wohl keine medialen Lorbeeren geerntet. So jedoch spielte der Jö-Effekt. Das Kind vom Kind ist ja auch «so süss», ein «Superbaby», meinte die «Schweizer Illustrierte».

Süss ist auch Alina, das Kind von Andrina (Namen geändert). Alina ist drei Monate, ihre Mutter 15 Jahre alt. Gemeinsam bewohnen sie ein Zimmer in der Mutter&Kind- Wohngruppe des Zentrums Inselhof in Zürich – doch von heiler Welt keine Spur. Gerade deshalb erzählt Andrinas Geschichte die eigentliche «Story» hinter einer Teenager-Schwangerschaft, und die ist selten «herzig».

Andrina kam wie ihr älterer Bruder in der Schweiz zur Welt. Die Eltern, die Mutter aus Sizilien, der Vater aus Mazedonien, trennten sich kurz nach Andrinas Geburt. Bald schon war die Mutter mit der Erziehung der Kinder überfordert. Die Behörden schalteten sich ein, stellten einen Beistand und platzierten die Kinder in einem Internat in den Alpen. Andrina war damals acht Jahre alt.

Fünf Monate lang merkte niemand etwas

Zwei Jahre später kam sie zurück nach Zürich in eine Jugendsiedlung. Dort würde sie noch heute wohnen und das zehnte Schuljahr besuchen, wäre sie nicht plötzlich schwanger geworden. Sie und ihr Freund, ein 22-jähriger Spanier, hätten schon verhütet, sagt sie. Aber nicht konsequent. «Manchmal benutzten wir ein Kondom.» Als dann die Monatsblutung ausblieb, war Andrina klar, «dass es eingeschlagen hatte». Ihr Freund erfuhr am Handy von seinem Glück. «Er freute sich.»

Vor ihrer Mutter und der Heimleitung verheimlichte Andrina die Schwangerschaft – aus Furcht vor einer Abtreibung. «Die Leute im Heim dachten wohl, ich sei am Wachsen und esse deshalb so viel», meint sie. Ihre Mutter habe zwar gewisse Andeutungen gemacht – «sie wollte es aber nicht wahrhaben». Auch nicht, als Andrina – mittlerweile im fünften Monat – während der Ferien am Strand bereits einen stattlichen Bauch zur Schau trug. Zurück im Heim war dann alles Lügen zwecklos. Sie lüftete das Geheimnis, das nun offensichtlich keines mehr war. Einen Monat vor dem Geburtstermin trat sie in die betreute Wohngruppe des Zentrums Inselhof ein – zu ihrem, aber vor allem zum Schutz des Kindes.

Der Gang zum Sozialamt droht

Die Zahl der Teenager-Schwangerschaften ist in der Schweiz im internationalen Vergleich tief und seit Jahren in etwa konstant – um die 50 Frauen unter 16 Jahren gebären im Schnitt pro Jahr. Knapp 700 Neugeborene jährlich sind von Frauen im Alter zwischen 15 und 19 Jahren (siehe «Teenager als Mütter»). Auch bei den Schwangerschaftsabbrüchen ist kein Trend nach oben festzustellen; laut Bundesamt für Statistik treiben jährlich 5 von 1000 Jugendlichen unter 19 Jahren ab.

Das Problem ist aber: Jene Teenager, die trotz gutem Informations- und Beratungsangebot und trotz leichtem Zugang zu Verhütungsmitteln ein Kind bekommen, benötigen meist externe Hilfe. Dass eine junge Mutter von ihrer Familie aufgefangen wird, wie im Fall von Ramona, ist die Ausnahme. Und eine Gymnasiastin aus gutem Haus bekommt ihr Kind schon gar nicht. «Eine frühe Schwangerschaft entsteht fast immer unter Problembedingungen», bestätigt Kitty Cassée, Abteilungsleiterin im Zentrum Inselhof und Dozentin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Werden in diesen Fällen keine grossen Anstrengungen unternommen, endet die junge Familie früher oder später in der Sozialhilfe. Ein schweres Erbe, besonders für die Kinder. Und ein Teufelskreis.

Andrina vereint mehrere Merkmale auf sich, die laut Cassée für eine Teenager-Schwangerschaft typisch sind: problembelastete eigene Familiensituation, Fremdkulturalität, soziale Benachteiligung und schlechte Zukunftsperspektiven. In der wenig aussichtsreichen Situation erscheint den Teenagern ein Baby wie ein Rettungsanker. «Und unbewusst ist viel Kompensation dabei», meint die Professorin. «Ich habe keine Mutter gehabt, jetzt bin ich selber eine – und werde es besser machen.» Zudem zieht das «Plüschbärchen-Phänomen», wie Cassée es nennt, nicht nur bei den Medien, sondern auch auf dem Pausenplatz. Ein «süsses» Kind zu haben, das einen liebt und braucht, kann eine schöne und sinnstiftende Vorstellung sein – umso mehr, wenn die Alternative womöglich so aussieht: als ungelernte Lageristin in einem Supermarkt Gestelle auffüllen.

Andrinas Freundinnen waren jedenfalls gerührt, als sie ihre Tochter nach der Geburt auf dem Schulhof herumreichte. «Sie wollten unbedingt auch sofort ein Kind haben», erzählt Andrina. Sie hat es ihnen ausgeredet, berichtete von der Mühsal einer Schwangerschaft, vom Wasser, das sich in Händen und Füssen sammelt – und von der Geburt, die «krass» gewesen sei. Und sie gab Verhütungstipps. Obwohl sie weiss, dass nicht mangelnde Aufklärung schuld an ihrer Lage ist: «Wir Jugendlichen wissen, wie es läuft. Wir leben nicht hinter dem Mond.» Und wenn doch, Alina hätte sie auf den Boden der Realität geholt: «Mit einem Kind wird man automatisch erwachsener im Kopf.» Drogen, früher ein Thema, nehme sie keine mehr, und auf Partys habe sie «keinen Bock».

Sie will ihrer Tochter eine gute Mutter sein, sagt Andrina. «Besser als meine.» Ihr Berufswunsch: Dekorationsgestalterin. Eine Lehrstelle hat sie noch nicht, und mit Alina haben sich die Chancen auf dem Arbeitsmarkt nicht eben verbessert. Hegt sie deswegen Groll gegen ihre Tochter? Fühlt sie sich ihrer eigenen Jugend beraubt? «Ach», meint Andrina nur und schüttelt den Kopf. «Meine Jugend hatte ich schon vorher verloren.» Nein, sie versuche, Alina als Neuanfang zu sehen. Ihr Traum? «Eine normale Familie, eine eigene Wohnung, genug Geld – und weg vom Sozialamt.» Ein weiter Weg.

Wer entscheidet, was das Beste ist?

Seit drei Monaten lebt Andrina nun mit fünf anderen jungen Müttern in der betreuten Mutter&Kind-Wohngruppe. Das bedeutet: leben in einer Gross-WG, mit Ämtliplan, strikten Besuchszeiten und klar strukturiertem Tagesablauf. Für Privates ist wenig Raum.

Andrina verhehlt nicht, dass sie nicht freiwillig hier ist: «Ich wüsste einen besseren Ort.» Nicht bei ihrer Mutter, mit der sie seit der Niederkunft keinen Kontakt mehr hatte, weil diese noch im Geburtshaus einen Streit mit ihrem Freund anfing und ihn wegen Sex mit einer Minderjährigen angezeigt hat. Nein, Andrina will mit ihrem Freund zusammenziehen. Dieser wohnt zwar noch bei den Eltern, hat eine «schwierige Vergangenheit», und auch seine Zukunft ist noch «unklar». «Doch mit seinen Eltern verstehe ich mich gut», sagt Andrina. Und sie hätten angeblich Platz, Zeit und Lust, sich um sie und ihr Kind zu kümmern. Erstmals im Gespräch kämpft Andrina mit den Tränen. «Ich habe mein Kind mehr als neun Monate ausgetragen, lag 19 Stunden in den Wehen, und jetzt, jetzt sitze ich hier und darf nicht allein entscheiden, was für mich und Alina das Beste ist.»

Weil Andrina minderjährig ist, bekam ihr Kind von Amts wegen einen Vormund. Nun wacht das Jugendamt nicht mehr nur über sie, sondern auch über ihr Kind. In Andrinas Nacken sitzt die Angst, dass ihr Alina weggenommen wird, wenn sie als Mutter versagt. So meint sie in einer Mischung aus Wut und Frustration: «Ich hätte keine Sexualaufklärung nötig gehabt, sondern Rechtsberatung. Hätte ich gewusst, was auf eine Teenager-Mutter zukommt, hätte ich vermutlich besser verhütet.»

Kitty Cassée vom Zentrum Inselhof weiss um Andrinas Zukunftswünsche. Sie ist skeptisch: «Andrina würde besser hierbleiben, bis sich ihre Situation stabilisiert hat.» Im Zentrum Inselhof, vor gut 100 Jahren als «Haus für gefallene Mädchen» gegründet, erhält sie nicht nur die nötige sozialmedizinische Betreuung, sondern auch die Möglichkeit, neben ihrer Mutterrolle ihr Jungsein zu leben, auszugehen, Freunde zu treffen und in die Schule zu gehen.

Im Zentrum gibts ein Kinderhaus, eine Kindertagesstätte, eine Eltern-Kind-Begleitung sowie zehn sogenannte «Mutter-Kind-Units»: Einzimmerwohnungen mit Bad und Küche, in denen Mütter mit ihrem Kind die Selbständigkeit proben können. Für Andrina, die bereits wieder stundenweise die Schulbank drückt, könnte hier also eine massgeschneiderte Betreuungslösung angeboten werden. Gegen ihren Willen kann sie aber niemand festhalten. Wie es weitergeht, wird deshalb im Dreieck mit Andrina und deren Vormund entschieden.

Oberste Priorität: Das Wohl des Kindes

Dabei spielen auch finanzielle Überlegungen mit. Ein Tag im Zentrum Inselhof kostet rund 800 Franken für Mutter und Kind. «Das zahlt keine Sozialbehörde einfach so», betont Kitty Cassée. Schon gar nicht gegen den Widerstand einer Betroffenen. «Bietet eine junge Mutter nicht Hand zu einer einigermassen vernünftigen Lösung, macht ein Aufenthalt auf der Wohngruppe keinen Sinn.» Cassée wählt dabei bewusst das Wort «einigermassen». Denn: «Wir dürfen keine unrealistischen Erwartungen haben. Wenn unser Ziel die perfekte Mutter wäre, hätten wir die halbe Stadt Zürich auf unserer Station.» Letztlich gehe es darum, den Betroffenen den Weg zu einer selbständigen Existenz zu ebnen.

Und über allem stehe das Wohl des Kindes: «Seine Entwicklung und Sicherheit zu gewährleisten ist unser oberstes Gebot», betont Cassée. Und so meint sie zum Abschluss des Gesprächs, Andrina sei zweifellos eine fürsorgliche Mutter. Sie sei jedoch «auf einem Auge blind», was ihre Zukunftsvorstellungen angeht. «Aber waren wir das nicht alle, als wir jung und verliebt waren?», fragt Cassée.

Quelle: Renate Wernli