«Ja, mis Türmli», schmunzelt Gret Lüscher. Inzwischen kann die 87-Jährige den Streit von der lustigen Seite nehmen, obwohl er 65 Jahre dauerte, Berge von Akten produzierte und mit iner zynisch geringen Abgeltung endete. Irgendwann wurde die Tragödie zur Realsatire. Das Wahrzeichen Berlins, vor 40 Jahren von der DDR als Prestigebau errichtet und mit seinen 368 Metern heute noch Deutschlands höchstes Bauwerk, erstreckt sich zum Teil auf Lüschers Grund und Boden.

Ihr Urgrossvater Jean François Vicedomini erwarb 1849 an der Königstrasse 37, der heutigen Rathausstrasse, ein grosses Wohn- und Geschäftshaus. Jetzt gehört das Grundstück am Alexanderplatz zum Areal des Fernsehturms mit seinen Pavillons, der jährlich eine Million Besucher anzieht und in Berlin spöttisch «Protzstengel» und «Imponierkeule» genannt wird. «Ach dieser Turm – was bilden sich die Berliner darauf ein. Ein Viertel davon gehört eigentlich mir», sagt Lüscher mit Schalk in den Augen. Das ist bildlich gemeint. Ein Viertel, das ist ihr Erbanteil an dem Grundstück, um das sie in einem zunehmend grotesken Rechtsstreit gebracht worden ist.

Lüscher hat auf dem Tisch in ihrem Haus in Thalwil ZH den Aktenberg aufgetürmt: Geburtsurkunden, Erbscheine, Grundbuchauszüge, Beglaubigungen, Abrechnungen, Anträge, Protestnoten – ein Sammelsurium aus der Korrespondenz mit fünf aufeinanderfolgenden deutschen Staaten. Die ältesten Dokumente stammen noch aus dem Kaiserreich und der Weimarer Republik, dann Akten aus dem Dritten Reich mit Adlern und Hakenkreuzen, Formulare in Kyrillisch aus der Zeit der sowjetischen Besatzung, Briefe aus der DDR und schliesslich die Beschlüsse, mit denen das wiedervereinte Deutschland den Schlussstrich zog. Genau 2761 Franken und 50 Rappen hat Gret Lüscher erhalten – für ein 398 Quadratmeter grosses, bebautes Grundstück an bester Lage, das seit mehr als 150 Jahren der Familie gehörte und heute gut und gern zehn Millionen Franken Wert wäre.

In Lüschers Ordner verdichten sich fast 200 Jahre europäische Geschichte. Begonnen hat alles am 25. September 1820 in Bordeaux. Dort wurde Jean François Vicedomini geboren. Seine Eltern stammten aus Celerina im Oberengadin und waren als Zuckerbäcker zu Geld gekommen (siehe nachfolgende Box «Die Versüssung der Welt»). 1824 kehrten sie nach Celerina zurück, wo der Junge das Zuckerbäcker-Handwerk lernte. Als 15-Jähriger wanderte er nach Berlin aus. Er muss schnell Erfolg gehabt haben. 1849 erscheint der 29-Jährige im Adressbuch als «Conditor» und Inhaber des «Café Vicedomini» an der Königstrasse 37 am Alexanderplatz, wo das Geschäftsleben pulsiert.

1852 ehelicht Jean François eine Preussin und hat mit ihr vier Töchter und zwei Söhne. Er ist eine schrullige Person. So lässt er jeweils am 1. März zur Erinnerung ans Engadiner Chalandamarz-Fest die Angestellten mit einer umgebundenen Kuhglocke Kaffee servieren – zur Gaudi der Berliner Gesellschaft.

Sein Café ist auch ein Treffpunkt von Landsleuten. So kommt es, dass seine Tochter Delphine 1884 Reinhold Müller aus Wallisellen heiratet, den Grossvater von Gret Lüscher. Als Jean François am 26. Februar 1890 stirbt, will keiner der Söhne das Café übernehmen. So vermietet die Familie das Geschäftslokal und zwei Etagen des Stadthauses und bewohnt zwei Etagen weiter selbst. Gret Lüscher mit Jahrgang 1922 erinnert sich gut, wie sie als Mädchen zu Besuch war und mit Verwandten im Berlin der zwanziger und dreissiger Jahre herumzog.

1933 kommen die Nazis an die Macht. Nun sind die Briefe unterzeichnet mit «Heil Hitler», jüdische Mieter müssen ausziehen, Immobiliengeschäfte erfordern einen Ariernachweis. Als Delphine 1936 stirbt, kommt es zu Scherereien mit der Devisenstelle, weil die Erbteile ihrer Kinder nicht in die Schweiz transferiert werden dürfen. Auch vom Mietertrag sehen die Schweizer nichts, denn das Geld muss auf ein deutsches Konto eingezahlt werden. «Wenn wir zu Besuch waren, mussten wir all das Geld verprassen, das uns in der Schweiz fehlte», erinnert sich Lüscher. Im August 1940, Hitler hatte eben Frankreich besiegt, trifft in Wallisellen ein letzter Brief ein, «geöffnet und geprüft vom Oberkommando der Wehrmacht»: Familienoberhaupt André Vicedomini teilt mit: «Bis zur Beendigung des Kriegs muss unsere Korrespondenz aufhören, da alle Schreiben in das Ausland unerwünscht sind.»

Nach dem Krieg die Enteignung

Dann, im März 1944, überbringt das Eidgenössische Politische Departement (heute EDA) die Hiobsbotschaft: Im Haus sind «infolge der letzten Angriffe die erste und zweite Etage ausgebrannt». Die übrigen Teile seien aber unversehrt. Angehörige in Berlin stellen nun beim Kriegsschädenamt einen Antrag auf Entschädigung, den ersten von vielen. Aber es kommt noch schlimmer. Im April 1945 wird das Quartier bombardiert, am 5. Mai 1945, drei Tage vor der Kapitulation, brennt das Haus offenbar bei Strassenkämpfen aus.

Nach dem Krieg beginnt der Hürdenlauf durch die Ämter. Gret Lüschers Mutter Marie Aebli meldet aus Wallisellen via das EDA ihre Ansprüche bei der Militärverwaltung der sowjetischen Zone an. Geschätzter Verlust: eine Million Reichsmark. Anfang 1948 teilt Gret Lüschers Onkel Franz Vicedomini mit, «dass das Hausgründstück leider nicht nur erheblichen Schaden erlitten hat, wie angenommen, sondern als Totalschaden anzusehen ist. Das Haus müsste neu aufgebaut werden.» Da nimmt das Schicksal seinen Lauf. Die sowjetischen Behörden erklären das Areal zum Trümmergrundstück. Im Juni 1948 meldet Vicedomini: «Seit Wochen beobachtet meine Frau, dass das Haus vollständig abgetragen wird. Man erklärte mir kurzerhand, dass der Magistrat das Recht hat, Häuser, die über 50% zerstört sind, abzutragen. Lediglich das Grundstück bleibt unser Besitz.»

Doch dies ist ein frommer Wunsch. Als 1949 die DDR gegründet wird, beginnt die schleichende Enteignung. Briefe von Verwandten kommen nur noch spärlich, bei den Behörden herrscht Funkstille. 1951 erlässt das SED-Regime die «Verordnung über die Verwaltung und den Schutz ausländischen Eigentums in der DDR», ein verwaltungstechnischer Trick, um die Vermögen von Ausländern einzuziehen. Davon erfahren die Schweizer Vicedomini-Nachkommen aber erst 1965. Laut dem EDA sind ihre Vermögenswerte «von den ostdeutschen Behörden unter Kontrolle gestellt worden. Der Eigentümer kann somit über seine Vermögenswerte und allfällige Erträgnisse nicht verfügen.» Unter «Schutzverwaltung» bleibt das Eigentum formell zwar bestehen, faktisch ist es eine Enteignung.

Schon vorher hat sich der Ostberliner Magistrat per Gesetz freie Hand für den Wiederaufbau verschafft und den Alexanderplatz zum «Aufbaugebiet» erklärt. Wie der Rote Platz in Moskau soll er ein zentraler Ort für Aufmärsche und Paraden werden, mit dem Fernsehturm als städtebaulicher Dominante.

Für den Turm, die Pavillons und den riesigen Platz werden die Reste des Quartiers abgerissen. Dass dafür das Grundstück nun auch noch formell enteignet wird, erfahren die Schweizer Erben nicht. «1969 feierte die DDR dann diesen blöden Turm – wir hatten keine Freude», sagt Gret Lüscher trocken.

1973 stirbt Marie Aebli; nun hängt alles an Gret Lüscher und ihrem Mann Alfred. Die Schweiz verhandelt gerade mit der DDR über ein Handelsabkommen und will die Entschädigungsfragen damit koppeln. Die DDR erklärt sich jedoch dazu «vorerst ausserstande» und will sich als Teilnachfolgestaat des Dritten Reiches aller früheren Verbindlichkeiten entledigen. Wieder müssen Lüschers Dokumente einreichen. 2,5 Millionen D-Mark machen sie nun als Verkehrswert des Grundstücks geltend. Auf einem Formular wird gefragt: «Würden Sie einer Rückgabe oder einer Entschädigung den Vorzug geben?» Die Antwort zeigt, dass Lüschers langsam die Geduld verlieren: «Entschädigung. Mit einem Fernsehturm kann ich nichts anfangen», tippt Alfred Lüscher in die Spalte.

Auch das Schweizer Aussendepartement bereitet ihm Ärger. Das EDA übernimmt nämlich die DDR-Sicht, das Grundstück sei bei Kriegsende bereits ein Trümmerareal mit einer Ruine gewesen. Lüschers jedoch beharren darauf, dass bis in die letzten Kriegstage ein Haus darauf stand und die DDR als Teilnachfolgestaat dafür Entschädigung leisten müsse, zumal ja sie es letztlich dem Erdboden gleichgemacht habe. Ausserdem verlangt das EDA Toten- und Erbscheine der im Krieg verstorbenen und verschollenen Familienmitglieder. Sonst könne Gret Lüscher nicht einen Viertel des Erbes beanspruchen, sondern bloss einen Achtel.

1977 platzt Alfred Lüscher der Kragen: Die vom EDA verlangten Nachweise seien schikanös. «Wirklich muss man sich fragen, wen vertreten Sie?! Auch ich habe heute den Eindruck, durch Ihre Taktik werden so und so viele Leute der Angelegenheit überdrüssig, und Sie können dann sich der kommunistischen Regierung der DDR gegenüber als Wohltäter aufspielen.» So geht es hin und her.

«Den Schweizer Behörden war es egal. Sie halfen uns nicht», sagt Lüscher heute. 1979 unterbreitet das EDA schliesslich der DDR einen Antrag. Wieder vergehen drei Jahre, bis bestätigt wird, es gehe um «staatlich verwaltetes schweizerisches Vermögen», Verhandlungen würden aufgenommen.

Gret Lüscher erinnert sich an eine Anekdote aus den siebziger Jahren. Ihr Mann, bei Eternit als Berater tätig, reiste mit Architekten zur Besichtigung des Turms. Beim östlichen Pavillon spuckte er demonstrativ auf den Boden. Leute aus der Gruppe fragten ihn, was das solle. «Er sagte: ‹Ich werde doch wohl noch auf meinen eigenen Boden spucken dürfen›», erzählt Gret verschmitzt. Damals hatten sie fast keine Hoffnung mehr und retteten sich in Galgenhumor. «Etwas anderes blieb uns ja gar nicht übrig», sagt Gret Lüscher rückblickend.

1988 die Überraschung: Das EDA meldet, es werde verhandelt, aber es gebe Abweichungen. Lüschers hatten, gestützt auf alte Rechnungen, für 1946 einen Steuerwert von 788'400 Reichsmark angegeben. Die DDR hingegen kommt auf nur 95'500 Reichsmark, abzüglich einer Hypothek. Offenbar rechnet die DDR bloss mit dem Landwert ohne Gebäude und zudem mit einem willkürlichen Preis, der nichts mit dem Immobilienmarkt zu tun hat, denn diesen gibt es im real existierenden Sozialismus ja nicht. Zu weiteren Verhandlungen kommt es nicht mehr, denn 1990 hört die DDR selbst auf zu existieren.

Nach der Vereinigung Deutschlands melden Lüschers ihren Fall wieder an und werden erneut vertröstet. Im Sommer 1990 treten sie der von alt Bundesrat Fritz Honegger geleiteten «Schutzgemeinschaft für Eigentum im Ausland» bei und fordern zehn Millionen Franken. Inzwischen sehen sie das Ganze als Komödie und spielen ihren Part als Narren. «Wir wurden von Journalisten überrannt, waren bei mehreren deutschen Fernsehsendern», erzählt Lüscher. Zumindest den Spass an dieser Farce wollen sie sich nicht nehmen lassen. «Ich wäre äusserstenfalls auch mit weniger zufrieden. Ich würde gerne nach Australien reisen – und zwar über Hawaii», flachst sie in der Presse. Danach kommt bündelweise Post. «Es meldeten sich viele, die ähnlich hinterlistig enteignet worden waren.»

Aber es gibt auch Kritik. Im Fernsehstudio in Köln hält ihr ein Interviewer vor, sie habe es finanziell ja gar nicht nötig. «Wie wenn es darum geht und nicht um erlittenes Unrecht», ereifert sich Lüscher noch heute. «Ich sagte ihm, wenn heute Menschen in dem Haus wohnen könnten, würden wir die Sache vergessen. Aber dass wir gezwungen werden, das Grundstück dem deutschen Staat zu schenken, dagegen wehren wir uns.»

Einmal besucht sie mit Reportern den Turm. Da schimpft ein Passant: «Ihr Schweizer stehlt uns noch alles.» Sogar ein anonymer Drohbrief trifft ein: «Passen Sie auf sich auf. Die lange Hand reicht von Berlin bis zu Ihnen. Lassen Sie Berlin und unsere Stadt in Ruhe!»

1996 übermittelt das deutsche Amt zur Regelung offener Vermögensfragen die Rekonstruktion des Falls. Die wichtigsten Feststellungen: Es war bei Kriegsende ein Trümmerareal ohne Gebäude. 1968 überführte es die DDR in «Volkseigentum» und sprach eine Entschädigung von 95'520 DDR-Mark. Abzüglich Hypothek, Zinsen und Umtriebe blieben 24'405 Mark für neun Erben. Gret Lüschers Mutter wurden damals 3355 DDR-Mark zugeteilt.

Das Amt stellte zugleich klar, dass die DDR nach ihren Gesetzen rechtens vorgegangen war. Nur wenn sie keine Entschädigung gezahlt hätte oder eine geringere als anderen DDR-Bürgern oder wenn betrogen worden wäre, hätte das vereinte Deutschland nachgezahlt. Das Restitutionsgesetz nach der Wende bezweckte nämlich ausdrücklich nicht, jede Enteignung in der DDR zu korrigieren und rückgängig zu machen. Gret Lüschers bittere Erkenntnis: Wenn sich ein Unrechtsstaat ausländische Vermögenswerte aneignet, ist dies offenbar rechtens, solange er sich an die zu diesem Zweck erfundenen Gesetze hält.

Lediglich in einem Punkt lief zu DDR-Zeiten nicht alles sauber. Der den Schweizer Erben zugesprochene Betrag wurde buchhalterisch als deren Guthaben registriert, aber nie ausbezahlt. Das Amt für Vermögensfragen entschied deshalb 2003, Gret Lüscher habe, gestützt auf den Beschluss aus DDR-Zeiten, nun aus dem Entschädigungsfonds 1797 Euro und 39 Cents zugut. «Wir waren beide schon über 80. Die spekulierten darauf, dass wir nicht mehr weitermachen mögen. Am Schluss wurden wir einfach über den Tisch gezogen», sagt sie. Am 8. April 2004, 40 Jahre nach der Enteignung, traf das Geld auf Gret Lüschers Konto ein.

«Die DDR hat das Unrecht begangen, aber profitiert hat das wiedervereinte Deutschland», fasst sie zusammen. Für den Fernsehturm hat sie nur Spott übrig. Wäre sie nicht mit Humor gesegnet, sie wäre längst verbittert.