Nur ein Sofa und eine Lampe mit Zeitschaltuhr hat der Kadermitarbeiter einer grossen Schweizer Bank im Wohnzimmer. Keinen Fernseher, kein Telefon, kein Radio. Vor der Küche seiner 3½-Zimmer-Mietwohnung in Wollerau SZ stehen ein dunkler Tisch und vier Stühle – Marke Ikea. Die Küche selbst ist nur mit drei Gläsern ausgerüstet. Offenbar kommt der Banker, der sich um vermögende Kunden kümmert, ohne Teller, Tassen, Messer, Löffel und andere Küchenutensilien aus. Schränke sowie Kühlschrank und Gefrierfach sind leer. Einziges Möbelstück in der Küche: eine Lampe. Ähnlich karg präsentiert sich das Schlafzimmer. Am Boden liegt eine Matratze. Daneben steht eine weitere Stehlampe mit Zeitschaltuhr.

So sieht der Lebensmittelpunkt eines hochrangigen Schweizer Bankers aus. Die Gemeinde Wollerau SZ bestätigt, dass der Mann unter dieser Adresse seinen Wohnsitz hat. Damit profitiert er von den rekordtiefen Steuern der Schwyzer Gemeinde. Das zahlt sich aus. Bei einem steuerbaren Einkommen und Vermögen von beispielsweise einer Million Franken spart der Bankmanager jedes Jahr 192'840 Franken, denn in der Stadt Zürich müsste er 267'580, in Wollerau hingegen bloss 74'740 Franken an Gemeinde- und Staatssteuern zahlen. Da lohnt sich die Miete für eine Wohnung allemal, auch wenn man sie nicht bewohnt.

Ganz anders sieht die andere Unterkunft des kinderlosen Bankers aus, die sich im Zentrum von Zürich befindet. Eine Kollegin des Mannes, die hier letztes Jahr ein und aus ging, sagt: «Ich kenne niemanden, der in einer so grossen Wohnung lebt. Es wirkt, als habe man mehrere Wohnungen zu einer grossen zusammengelegt.» Die Bleibe in Wollerau habe der Manager einmal erwähnt. «Er meinte, dort lagere er jeweils die Winterkleider und anderen Gerümpel.» In der Zürcher Wohnung hingegen stünden überall Designermöbel. An der Klingel steht kein Name.

In Zürich hat der Banker gemäss Auskunft des Steueramts nie Steuern bezahlt. Es besteht also der Verdacht auf Steuerhinterziehung, da er mit seinem Wohnsitz in Wollerau wohl ein Scheindomizil vortäuscht. Verfahren zur Aufklärung solcher Fälle sind schwerfällig und kompliziert. Mehrere Behörden auf kommunaler und kantonaler Stufe müssen zusammenarbeiten. Die Gemeinde Wollerau SZ hat sich den Kampf gegen Scheindomizile auf die Fahne geschrieben und zusammen mit Freienbach und Feusisberg sogar eine Website geschaffen, auf der man solche melden kann. «Wir decken rund ein Dutzend Fälle pro Jahr auf», sagt Joanne Imfeld von der Wollerauer Einwohnerkontrolle. Dabei handle es sich meist um Mietverträge, die gezielt über den Jahreswechsel und befristet auf wenige Monate abgeschlossen wurden. Oder um Fälle, wo zu viele Leute für eine Wohnung gemeldet sind.

Und was macht man, wenn wie im Fall des Bankers aus Zürich starke Hinweise vorliegen, dass eine Wohnung gar nicht bewohnt wird? «Da unternehmen wir nichts», sagt Imfeld. Er könnte ja auch ein externer Wochenaufenthalter sein, der bloss am Wochenende in Wollerau wohnt. Also keine Überprüfung des Wasser- und des Stromverbrauchs? Nein.

Véronique Risi, Steuerexpertin der Steuerverwaltung des Kantons Schwyz, meint hingegen: «Seien wir doch ehrlich: Ein gut verdienender, junger, kinderloser Mann wird durch das Freizeitangebot der Städte am Wochenende mehr angezogen als von der familienfreundlichen, ländlichen Idylle in Wollerau.» Bei Risi laufen seit 2009 alle Fälle von vermuteten Scheindomizilen zusammen, obwohl sie nicht dafür angestellt ist. Eigentlich kümmert sie sich um Pauschalbesteuerungen im Kanton Schwyz und um die VIP, die besonders wichtigen und reichen Steuerzahler. Sie untersucht Scheindomizile quasi im Nebenamt, obwohl es vom Aufwand her ein Fulltime-Job wäre.

Im kargen Sitzungszimmer in einem einfachen Bürobau in Schwyz, direkt dem Bundesbriefmuseum gegenüber, sagt Risi engagiert: «Im Kanton Schwyz herrscht Nulltoleranz für diese Form der Steuerumgehung.» Doch sie ist ernüchtert. «Wir wissen zwar, dass es im Kanton Schwyz Scheindomizile gibt, aber uns sind die Hände gebunden, wenn der Wegzugskanton trotz unseren Hinweisen nichts unternimmt.» Das Versteckspiel mit dem Fiskus wirkt offenbar ansteckend. «Einer im Kollegenkreis fängt an, und andere machen es ihm nach», meint Risi. Hört man sich in Bankenkreisen um, wird dies bestätigt.

Steuerdetektive gibt es nicht

Immer wieder stolpern die Schwyzer Steuerbeamten bei der normalen Veranlagung über Lohnausweise oder Bankauszüge, die an einen Wohnort in einem andern Kanton adressiert sind. Dann bittet die kantonale Steuerverwaltung die Gemeinden um Abklärungen vor Ort. Doch die haben kein spezialisiertes Personal. Steuerdetektive analog zu Sozialdetektiven gibt es in keinem Kanton der Schweiz. Zudem werden die Nachforschungen der Steuerbehörden vom Datenschutz erschwert. Die Post etwa darf keine Auskunft geben, ob jemand einen Umleitungsauftrag erteilt hat. Auch auf die Angaben über Wasser- und Elektrizitätsverbrauch kann nur ein Teil der Gemeinden zurückgreifen. Die Herausgabe von Cumulus- oder Kreditkartenabrechnungen können sie nicht erzwingen.

Erhärtet sich der Verdacht trotzdem und lenkt die betreffende Person nicht ein, macht Risi Meldung an den Wegzugskanton – pro Jahr mehrere Dutzend Male. Und dann kommt oft der Frust, weil sie überzeugt ist, dass ein Scheindomizil vorliegt, aber dennoch nichts passiert. Dann kann auch Risi nichts mehr machen. Erklärt kein anderer Kanton, dass der Gemeldete bei ihm steuerpflichtig sei, kann der Kanton Schwyz den mutmasslichen Steuerhinterzieher nicht einfach aus dem Register streichen, weil der Betroffene sonst nirgends steuerpflichtig wäre. Und bei vermuteten Scheindomizilen von Personen aus dem Ausland würde sich ein Steuerkommissär gar strafbar machen, wenn er seinen Verdacht einem anderen Land meldet.

Die Meldung über den Topbanker mit mutmasslichem Scheindomizil in Wollerau landete in der Stadt Zürich. Zuerst kümmerte sich die Einwohnerkontrolle darum. Nach rund einem Monat winkte Franz Behrens, Leiter des Personenmeldeamts der Stadt Zürich, ab. «Wir haben die Adresse abgeklärt und keine konkreten Hinweise, dass die gemeldete Person Wohnsitz in Zürich hat.» Diese Einschätzung beruhe auf verschiedenen Abklärungen. Der Banker habe erklärt, dass er an der Adresse im Zentrum seine Kunst aufbewahre. Der Vermieter habe betont, dass die Örtlichkeit keine Nasszonen aufweise und fürs Wohnen gar nicht eingerichtet sei. «Blödsinn», meint die Bekannte des Bankers, die die betreffende Wohnung von Besuchen her kennt und wiederholt dort übernachtet hat. «Es hat ein grosses Bad, sogar mit Sprudeleinsatz.»

Trotzdem legt die Stadt Zürich den Fall ad acta. Kein Steuerkommissär wird ihn prüfen. Was macht Behrens mit dem Hinweis, dass die Wollerauer Wohnung leer und unbewohnt ist? «Wir sind nicht befugt, unsere Abklärungen auf diesen Ort auszudehnen. Vielleicht wohnt der Mann irgendwo anders. Für weitere Abklärungen brauchen wir konkrete Anhaltspunkte», so der Chefbeamte. «Wir können Leute nicht einfach von Detektiven beschatten lassen.»

Das erinnert an den Fall des Unternehmers Heinrich Frei. Er ist gemäss «Tages-Anzeiger» seit zwei Jahren in der steuergünstigen Zürcher Gemeinde Winkel angemeldet, wohnt aber weiterhin in Kloten. Der Zürcher SVP-Kantonsrat wurde Anfang April abgewählt. Doch die Klotener Stadtverwaltung liess Frei unbehelligt, weil er die notwendigen Belege beigebracht habe. Man prüfe nicht, ob das Bett am Morgen noch warm sei. Kriminalistische Nachforschungen stelle man bei Wohnortswechseln im Normalfall nicht an.

Zürcher Steueramt will nicht mehr tun

Bei einem Sozialhilfe- oder IV-Bezüger macht man aber genau das. Bei Verdacht auf Missbrauch observieren Detektive, und Sozialarbeiter machen unangemeldet Hausbesuche. Allein die Stadt Zürich beschäftigt zwölf Sozialdetektive. Im ganzen Kanton – wie auch in allen anderen Kantonen – gibt es dagegen wie erwähnt keinen einzigen Steuerdetektiv. Dem Verdacht auf Steuerhinterziehung müssen die Steuerbeamten nachgehen – neben den ihnen zugewiesenen rund 200 bis 250 normalen Dossiers, die auf Bearbeitung warten. Da die Leistung der Beamten nach Erledigungen bemessen wird, stürzt sich kaum jemand in mühsame Abklärungen von Scheindomizilen. Adrian Hug, Chef des Steueramts des Kantons Zürich, sieht aber keinen Handlungsbedarf. «Im Steueramt wird im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten die notwendige Zahl Steuerkommissärinnen und Steuerkommissäre angestellt, um den gesetzlichen Auftrag korrekt erfüllen zu können.»

Die Schwyzer Steuerkommissärin Véronique Risi sieht das etwas anders. «In gewissen Kantonen könnte es sich lohnen, Steuerdetektive einzuführen», sagt sie. «Sie würden der Staatskasse viel mehr Steuern einbringen, als sie kosten.» Im Kanton Zürich wäre der Einsatz von zusätzlichem Personal vor allem auch nötig, um jene 100 reichen Personen zu überprüfen, die sich nach der Abschaffung der Pauschalbesteuerung Anfang 2010 offiziell in andere Kantone abgemeldet haben.

Mit Seitenblick auf die Sozialdetektive sagt Steuerbeamtin Risi: «Offenbar ist es leichter, Sozialversicherungsbetrüger aufzuspüren, als falschen Steuerdomizilen nachzujagen, auch wenn es bei diesen Steuerfällen durchaus um viel höhere Beträge gehen kann.»

Wenige effektive Detektive

Nur rund 20 «Steuerdetektive» gibt es in der Schweiz, die auch Hausdurchsuchungen und andere Zwangsmassnahmen anordnen können. Es ist die Ermittlungstruppe der Abteilung Strafsachen und Untersuchungen (ASU) der Eidgenössischen Steuerverwaltung in Bern. Sie können nicht bloss bei Steuerbetrug aktiv werden – wie die Staatsanwälte der Kantone –, sondern bereits bei Steuerwiderhandlungen einer gewissen Schwere. Für einfache Steuerhinterziehungen sind hingegen die kantonalen Steuerbeamten zuständig.

Bloss etwa zehn Verfahren führt die ASU pro Jahr, diese aber mit grossem Aufwand. Für den Einsatz der ASU braucht es die Einwilligung von Bundesrätin Widmer-Schlumpf. Zwischen 2006 und 2010 haben die Ermittlungen der eidgenössischen Steuerfahnder den Kantonen jedes Jahr im Schnitt 72 Millionen Franken an Nachsteuern und Bussen eingebracht. Trotzdem fordert SVP-Nationalrat Christoph Mörgeli, die ASU abzuschaffen. Die Fraktion der SP hingegen will sie auf 40 Ermittler ausbauen. Sie rechnet mit zusätzlichen Steuereinnahmen von jährlich 543 Millionen.

Ein ganz legaler Steuertrick

Im Kanton Schwyz lohnt sich ein Steuertrick besonders: die reduzierte Dividendenbesteuerung. Der Trick geht so: Ein Angestellter einer AG in Zürich, der zugleich Mehrheitsaktionär der Firma ist, zahlt sich nur einen kleinen Lohn aus und behält den Gewinn seines Unternehmens über mehrere Jahre hinweg im Unternehmen.

Dann verlegt er den Wohnsitz in den Kanton Schwyz und lässt sich von seiner Firma den Gewinn als Dividende auszahlen. Werden auf diese Art zum Beispiel zwei Millionen Franken als Dividende statt Einkommen ausbezahlt, spart der Aktionär 513'000 Franken an Steuern. In der Stadt Zürich werden zwei Millionen Franken Einkommen nämlich mit rund 550'000 Franken besteuert, in Wollerau fallen dagegen bloss 37'000 Franken an Steuern auf den Dividenden an.

Dieser Dividendentrick belastet nicht nur die Steuerzahler, sondern auch die Sozialversicherungen: So müssen keine AHV- und IV-Beiträge entrichtet werden. Beim obigen Beispiel mit zwei Millionen Franken entgehen der AHV und der IV rund 200'000 Franken.