Schauplatz I: Englisch für Kleinkinder

Mozart hatte mit vier Jahren erstmals Musikunterricht, Roger Federer begann mit drei Tennis zu spielen – Giulio, Gian und Noah gehen mit knapp zwei Jahren in den Englischkurs. Carpe diem, lautet die Devise. «Wir wollen diese für die Entwicklung unseres Kindes wichtige Zeit nutzen», sagen Giulios Eltern. In diesem Alter lerne er die Fremdsprache noch «auf spielende Art».

Das sieht so aus: Giulio stolpert durchs «Spielhuus Tröpfli» in Steinhausen ZG, stets auf seinen Fersen entweder Mami oder Caroline Albert, die Lehrerin. Denn Kinder, die gerade mal laufen können, haben naturgemäss kein Sitzfleisch. «Oh, Giulio!», ruft dann Caroline Albert etwa und hebt an zum Singsang. «Look! What’s in the bag?» Giulio kommt, wirft einen Blick in die Tüte. «Oh, look, a cat!», ruft die Lehrerin – doch das kriegt Giulio schon nicht mehr mit. Diesmal hats ihm die Schreibmaschine angetan. Doch jetzt wird nicht geklimpert. Giulio wird wieder eingefangen. Man nimmts mit Humor. Immerhin.

Englisch für Kinder, die in ihrer Muttersprache noch kaum mehr als «Mami» hervorbringen, ist vielleicht das ambitionierteste, nicht aber das einzige Angebot zur Frühförderung. In den letzten Jahren hat sich in der Schweiz ein privater Bildungsmarkt nach amerikanischem Vorbild etabliert, der genau da anfängt, wo die Weichen für eine glückliche und erfolgreiche Zukunft angeblich gestellt werden: im Säuglingsalter. Babyschwimmen war gestern, heute stehen musikalische Früherziehung, Babyzeichensprache, Kunstkurs oder Kinder-Yoga auf dem Programm. Implizit oder explizit ist das Ziel stets das gleiche: «Bringt Ihrem Kind einen Vorsprung fürs ganze Leben», wie Caroline Albert auf ihrer Internetseite wirbt.

In der Schweiz gibt es über 50 «unabhängige Helen-Doron-Early-English-Lehrkräfte» wie Caroline Albert. Und kein Zweifel, sie hat die Lektion ihrer «geistigen Mutter» gut gelernt. Helen Doron, Sprachwissenschaftlerin aus England, steht nicht nur hinter der Unterrichtsmethode. Ihr Name steht auch auf den Lehrmaterialien, auf den Lern-CDs und auf der Umhängetasche, die ausgehändigt werden. Hunderttausende Kinder besuchen inzwischen Dorons Franchiseprogramme in mehr als 20 Ländern – die jüngsten sind gerade mal zwölf Wochen alt. Im Kinderwagen werden sie zum wöchentlichen Englischkurs gefahren, wo sie dann lächelnd oder auch mal schlafend in den Armen ihrer Eltern liegen, während die mit ihnen englische Lieder singen oder Bildkärtchen anschauen. Nach 12 bis 15 Monaten soll das Kind 550 englische Wörter und 24 Lieder verstehen.

Die spielerische Methode, sprich: der «Einbezug aller Sinne», habe sie überzeugt, erklärt ein Elternpaar. Giulios Vater meint: «Vielleicht ersparen wir uns ja einen teuren Auslandsprachaufenthalt.» Oder den teuren Nachhilfeunterricht? Denn wie meint Caroline Albert: «Wenn die Kinder bei Schuleintritt Englisch können, bleibt ihnen mehr Zeit für Fächer, die ihnen mehr Mühe bereiten.»

Oskar Jenni, Leiter der Abteilung Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich, steht solchen Kursen kritisch gegenüber. Er spricht von «Förderwahn» und mahnt: «Eine frühe Förderung ist gut und wichtig, aber nur wenn sie die spontane Eigenaktivität des Kindes nicht verdrängt.» Viel zu oft jedoch müssten schon die Jüngsten Normen und Wünsche der Erwachsenen erfüllen. «Man nimmt ihnen das Recht und die Zeit, selbst zu entscheiden, wann und was sie lernen oder spielen wollen.»

Jenni erklärt den Trend zur Frühförderung in erster Linie mit dem Rückgang der Geburtenrate: «Wer nur wenige Kinder hat, setzt alles daran, dass diese bestmöglich herauskommen; klug, glücklich, erfolgreich.» Zugleich sind heute oft beide Elternteile berufstätig und haben wenig Zeit für ihre Kinder. Indem sie ihre Liebsten in Förderkurse stecken, versuchen sie, dieses Defizit zu kompensieren oder zumindest ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen.

Die langjährige Mütterberaterin Anna Urben hat zudem festgestellt, dass viele Frauen – und es seien vor allem sie, die diesen Verlockungen erliegen – mit ihrer freien Zeit zu Hause als Mutter nicht mehr umgehen können. «Oder es fehlt ihnen an Selbstvertrauen. Sie zweifeln an ihren eigenen Kompetenzen», so Urben.

Die Angebote klingen denn auch verheissungsvoll: «Best-developed brains» stellt etwa der «Early English»-Kurs in Aussicht – die bestentwickelten Hirne. Wer wünscht sich das nicht für sein Kind? Die Methode, die dieses Versprechen einlösen soll, heisst muttersprachliches Lernen. Studien hätten ergeben, so Helen Doron, dass bis zum Alter von zirka sieben Jahren sämtliche Sprachen in derselben Hirnregion gespeichert werden. Deshalb sei Frühenglisch so erfolgreich.

«Ich bin gespannt, obs funktioniert», meint die Mutter des kleinen Gian. Hirnforscher Norbert Herschkowitz muss sie enttäuschen. «Kleinkindern in einem wöchentlichen Kurs eine Fremdsprache einzutrichtern funktioniert nicht», sagt der emeritierte Professor für Pädiatrie der Universität Bern. Etwas anderes ist es, wenn ein Kind zweisprachig aufwächst. Dann sei die Fremdsprache Bestandteil des Alltags und werde tatsächlich ganz selbstverständlich angeeignet.

Wenn schon Frühenglisch, dann also Learning by Doing. Doch das bietet «Early English» nicht, selbst wenn die Eltern, wie von Helen Doron angewiesen, ihrem Kind täglich die Lern-CD vorspielen. Dank dem wiederholten Hören der englischen Sprache im Hintergrund soll das Kind die Grammatik «auf natürliche Art und Weise aufnehmen» und sich eine akzentfreie Aussprache aneignen, so die Theorie. «Schön wärs», sagt Herschkowitz. Diverse Studien hätten klar gezeigt, dass Lernen ab elektronischen Medien, ob Fernsehen oder Kassette, nahezu keinen Effekt zeige.

Auch Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm schreibt in einem Fachartikel, dass bisher keine wissenschaftliche Studie belegen konnte, dass «Early English» aus den Kleinsten spätere Sprachtalente macht. Vielmehr haben Studien belegt, dass gerade Kinder, die von ihren Eltern schulvorbereitend im Lesen oder Rechnen vorangetrieben wurden, ihren Vorsprung schon kurze Zeit nach der Einschulung wieder verlieren.

Das Gras wächst also nicht schneller, wenn man an ihm zieht. Doch davon wollen Eltern nichts hören. Umso mehr jedoch von selbsternannten Entwicklungsexperten, die vom Aufblühen der Synapsen im Hirn während der ersten drei Lebensjahre schwärmen und vor der Verkümmerung dieser Nervenzellverbindungen warnen, wenn die Kinder nicht die nötigen Inputs erhalten.

Dabei hat die aktuelle Forschung das Sprichwort «Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr» längst widerlegt. Zwar gibt es im Hirn eines Dreijährigen in der Tat etwa doppelt so viele Synapsen wie im Hirn eines Erwachsenen. Doch mehr Synapsen bedeutet nicht einfach mehr Intelligenz. Zudem deuten neue Untersuchungen darauf hin, dass eine frühe Stimulation das «Aufblühen» der Synapsen im Kleinkindalter weder auslösen noch beschleunigen kann. Und ihr Abbau ist keine Folge mangelnden Inputs, sondern ein natürlicher und fundamentaler Prozess: Unbenötigte Verbindungen werden eliminiert, häufig benutzte verstärkt. Elsbeth Stern, Lehr- und Lernforscherin an der ETH Zürich, formuliert es so: «Zunächst gibt es viele kleine Wege, aber die sind natürlich wenig effizient. Viel besser wäre es, wenn man grosse ausgetretene Wege hätte. Und so ist es auch im Gehirn.»

Im Hirn werden zudem immer wieder neue Verknüpfungen gebildet. So betont Hirnforscher Herschkowitz: «Es ist schlicht falsch, zu behaupten, dass in den ersten drei Jahren alles drin sein muss, sonst ist das Fenster zu.» Das Hirn sei das plastischste Organ des Menschen. Sprich: «Es verändert sich ein Leben lang.» Lernen sei deshalb bis ins hohe Alter möglich. Statt von kritischen spricht Herschkowitz von sensitiven Phasen, in denen bestimmte Fähigkeiten bestenfalls mit weniger Aufwand erworben werden als später.

Biologisch ist das Gehirn sogar erst zwischen vier und fünf Jahren bereit für ein systematisches Lernen. So läuft im Kinderhirn denn ein anderer Entwicklungsprozess erst an, der für die Intelligenzleistung wesentlich ist: die Myelinisierung. Dabei werden lange Nervenbahnen mit einer Isolierschicht (Myelin) verstärkt, was die Effizienz der Verbindungen zwischen den Hirnarealen verbessert. Das Myelin ist quasi das Schmiermittel des Denkorgans. Die Myelinisierung ist jedoch ein langer Prozess, der sich bis zum 65. Lebensjahr hinzieht. Erst dann nimmt die Nervenleitgeschwindigkeit wieder ab. Daher auch die sprichwörtlich «lange Leitung» bei älteren Menschen.

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Schauplatz II: Babyzeichensprache

Marlon ist ein Jahr alt – also im besten Alter, die Babyzeichensprache zu lernen, ein anderer neuer Trend in Sachen frühkindliche Förderung für Kinder ab sechs Monaten. Das Prinzip beruht auf der Gebärdensprache. Nur sind die Adressaten nicht gehörlos, sondern schlicht noch zu klein, um eigene Worte zu artikulieren. «Mit Babys kommunizieren, bevor sie sprechen können», lautet der Slogan.

Während Marlon und andere Kinder sich im Hinterzimmer eines Karatecenters in Kreuzlingen TG die Zeit vertreiben, lernen ihre Mütter im Kreis neue Zeichen. Das für Fisch zum Beispiel – dabei wedeln sie mit der flachen Hand. «Die Kinder lernen die Zeichen nicht im Kurs, sondern übernehmen sie nach und nach von ihren Eltern», erklärt Kursleiterin Corinne Kübler. «Ich erhoffe mir, dass die Zeichensprache mir den Alltag mit meinem Kind erleichtert», meint Natascha von Malotki, Marlons Mutter, «vor allem in der Nacht.»

Bis es so weit ist und Marlon ihr per Handzeichen zu verstehen gibt, ob er nun essen oder einfach kuscheln möchte, könnten ihr jedoch noch einige unruhige Nächte bevorstehen. «Es kann zwei bis drei Monate dauern, bis ein Kind das erste Zeichen macht», so Kübler. Ihr Kind ist da schon weiter: Joelina ist 20 Monate alt und soll bereits knapp 100 Zeichen beherrschen. Dennoch betont ihre Mutter: «Babyzeichensprache ist keine Dressur. Jede Mutter hält schliesslich den Finger an die Lippen, um dem Kind Ruhe zu signalisieren.»

Babyzeichensprache solle primär Spass machen und keinen Lerndruck erzeugen, so die Botschaft. Das haben aber offensichtlich nicht alle verstanden. Im Internet kursieren diverse Videos, in denen Kinder ihre «Kunststücke» präsentieren wie dressierte Affen. Zudem wecken Verheissungen wie «Fördert die Gehirnentwicklung», «Reduziert Frust und Wutanfälle», «Erleichtert das Sprechenlernen» bei Eltern Erwartungen, die der Kurs kaum erfüllen kann. «Es ist wissenschaftlich nicht bewiesen, dass Kinder dank der Babyzeichensprache später intelligenter oder sprachlich besser sind als andere», betont der Entwicklungspädiater Oskar Jenni.

Kürzlich ging zwar eine amerikanische Studie durch die Medien, die belegen soll, dass Babys, die früh und häufig gestikulieren, später den grösseren Wortschatz haben. Zugleich wurde jedoch eingeräumt, dass die Studie «einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Gestik und Sprachentwicklung» nicht aufdeckt. Hirnforscher Norbert Herschkowitz warnt vor der Überinterpretation derartiger Studienergebnisse: «Wenn zwei Dinge gleichzeitig passieren, heisst das noch nicht, dass eine Kausalität zwischen ihnen besteht.»

Zur Verdeutlichung bringt er folgendes Beispiel: «Von 1880 bis 1990 hat die Zahl der nistenden Störche im Elsass abgenommen. Und zwar im gleichen Umfang wie die Zahl der Geburten. Ist das also ein Beweis dafür, dass die Störche die Kinder bringen?»

Schlicht «ein Gugus», meint Mütterberaterin Anna Urben zum Babyzeichenkurs. «Es ist wichtig, dass Eltern ihr Kind ‹lesen› lernen; hat es Hunger oder will es schlafen?» Dafür brauche es Geduld und Einfühlungsvermögen – aber sicher keine künstliche Übersetzungshilfe. «Das ist bizarr», meint sie, passe jedoch zum aktuellen Zeitgeist. Eltern hätten vermehrt die Tendenz, alles aus dem Weg räumen zu wollen, was das Kind frustrieren könnte. Dabei sind es erwiesenermassen nicht die Frustrationen, die Kinder krank machen, sondern gerade die Unfähigkeit, diese überwinden zu können.

So ablehnend die Experten diesen privaten Förderkursen gegenüberstehen: Ihre Kritik wollen sie nicht als generelle Ablehnung von Frühförderung verstanden wissen. Denn während viele Eltern ihren Kindern des Guten zu viel bieten, tun andere zu wenig. Diejenigen Kinder jedoch, die von ihren Familien nicht genug sprachliche und soziale Impulse für ihre Entwicklung erhalten, erreicht man mit diesen privaten Förderkursen nicht. Laut Kinderarzt Jenni sind dies vor allem Kinder aus bildungsfernen und armen Haushalten und aus Familien mit Migrationshintergrund. Jenni unterstützt deshalb staatliche Förderprojekte, die sich gezielt an diese Familien richten, etwa das Projekt «Priamo» in Bern. Ein Bestandteil dabei sind Hausbesuche von Fachpersonen, die den Eltern zeigen, wie sie ihre Kleinkinder mit geeigneten Spielen und Aktivitäten fördern können. Noch einen Schritt weiter will Basel-Stadt gehen mit der Einführung einer obligatorischen Sprach-Spielgruppe für Dreijährige, die kein oder zu wenig Deutsch können.

Auch Pädagogikprofessorin Margrit Stamm fordert mehr staatliches Engagement bei Bildung, Erziehung und Förderung von Kleinkindern. «Die frühkindliche Bildung ist ein Schlüsselfaktor für den späteren Lern- und Lebenserfolg und hilft mit, herkunftsbedingte Chancenungleichheit zu vermeiden», lautet das Fazit der Grundlagenstudie, die Stamm für die Unesco-Kommission verfasst hat und die kürzlich vorgestellt wurde.

Schauplatz III: Musikalische Früherziehung

In den Unterrichtsräumen der Berner Musikschule Krompholz kann von benachteiligten Kindern keine Rede sein. Die Erwachsenen, die hier ihre Kinder in die «musikalische Früherziehung» begleiten, passen geradezu ideal ins Bild des klassischen Frühförderkursbesuchers: weiblich, gut ausgebildet, engagiert – mit dem ersten Kind hier. Was im Englisch für Kleinkinder «Kitty the Cat» ist, ist im Musikunterricht für Säuglinge «Robbie»; ein Stoffseehund – Maskottchen, Leittier und Namengeber des Kurses, der sich an Kinder ab vier Monaten richtet. Das Konzept stammt von der Yamaha Music Foundation, der weltgrössten privaten Musikschule. Einmal pro Woche treffen sich Kinder und ihre Eltern, um mit «Robbie» die ersten musikalischen Erfahrungen zu sammeln. Kurz: «freies entdeckendes Lernen». Kostenpunkt: 360 Franken pro Halbjahr und Kind.

Glaubt man der Infobroschüre, ist der Kurs das Geld alleweil wert. Musik sei der «Königsweg» jener Erziehung, die eine «umfassend gebildete Persönlichkeit zum Ziel hat», steht dort. Oder: «Musik und Musizieren fördern die Entwicklung der Intelligenz, das Sozialverhalten, die Leistungsfähigkeit des Gehirns und die ganzheitliche Entwicklung des Menschen.»

Die Ambitionen einer Kursbesucherin klingen bescheidener: «Mir geht es in erster Linie darum, Mateo den Austausch mit Gleichaltrigen zu ermöglichen», sagt Monika Schwegler. Sie ist Sozialpädagogin, ihr Sohn 16 Monate alt. Ob Mateo später Musiker werde oder nicht, sei ihr «völlig egal».

Man wolle die Kinder auf keinen Fall in etwas hineindrücken, worauf sie keine Lust hätten, sondern Freude an der Musik wecken, betont Kursleiterin Manuela Kellenberger: «Wir züchten hier keine Mozarts.»

Und wohl auch keine Superhirne. Eine immerhin 160 Seiten starke Expertise des deutschen Bundesministeriums für Bildung und Forschung zur Frage «Macht Mozart schlau?» zieht nämlich eine eher ernüchternde Bilanz: Die aktuelle Forschung liefere «keine Belege für besondere Wirkungen von Musikunterricht auf einzelne kognitive Fähigkeiten» wie etwa mathematisches oder sprachliches Können. Auch das aktive Spielen steigert die Intelligenz «nur leicht» – den gleichen Effekt erziele man auch mit «Knobelkursen» oder «Technikbasteleien».

Was Kindern und Eltern im «Robbie»-Kurs geboten wird, ist ebenfalls keine Offenbarung: Es wird gesungen und getanzt – zweifellos mit Freude und Spass –, und es werden Instrumente verteilt, an denen sich die Kinder versuchen können. Ohne Zwang – fast ohne Zwang. Denn ab und zu verliert mal eine Mutter die Geduld, nimmt die Hand ihres Kindes und streicht damit über die Saiten der Gitarre – dabei hätte das Kind lieber einfach nur am Xylophonhölzchen geknabbert. Dabei empfiehlt Kellenberger, «das Kind auf dieser musikalischen Entdeckungsreise nicht zu drängen». Denn im freien Entdecken sei die Rolle der Eltern klar: «Nicht lenken, nicht führen, nur beobachten.»

Und so fragt sich der Laie auch am Schluss dieses Kurses: Bietet «Robbie» wirklich mehr, als das Durchschnittselternpaar seinem Kind an «musikalischer Früherziehung» mit auf den Weg gibt, wenn es ab und zu mit ihm singt und tanzt ? Diese Frage stelle sich bei all diesen Förderangeboten, meint Lernforscherin Elsbeth Stern. Sie rät Eltern zu mehr Gelassenheit: «Fördern Sie es nicht, begleiten Sie es mit Lust, Freude und Interesse.»

Und Hirnforscher Norbert Herschkowitz rät: «Geniessen Sie vor allem diese schöne Zeit der Entwicklung. Lesen Sie Ihrem Kind vor, singen, diskutieren und spielen Sie mit ihm und nehmen Sie es häufig in den Arm.» Und nie sollten Eltern vergessen, dass Kinder äusserst anpassungsfähig seien und über eine hohe Widerstandskraft gegen negative Verhältnisse verfügten. Oder wie es – überspitzt – der amerikanische Neurologe Steve Petersen formuliert: Es müssen sehr elende Bedingungen herrschen, um die Entwicklung ernsthaft zu stören. Für Eltern bedeute dies: «Ziehen Sie Ihr Kind nicht im Schrank auf, lassen Sie es nicht verhungern und schlagen Sie es nicht mit der Bratpfanne auf den Kopf.»

Apropos Kochgeschirr – wie meinte Herschkowitz auf die Frage, wohin er seine Enkelkinder zur Frühförderung schicken würde: «In die Küche – der faszinierendste Ort für jedes Kind.»

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1. Monat

  • Kann den Kopf aus der Rückenlage kurz anheben.


2. Monat

  • Erste Lautäusserungen («Plaudern»).
  • Schreit anders bei Hunger oder Schmerz.
  • Beruhigt sich auf gutes Zureden.


3. Monat

  • Reagiert lächelnd oder plaudernd auf ein freundliches Gesicht.
  • Verfolgt Gesichter kurz mit seinen Augen.


4. Monat

  • Hebt den Kopf aus der Rückenlage an.
  • Stützt sich in der Bauchlage auf die Unterarme.
  • In gestützter Sitzposition gute Kopfkontrolle.
  • scheint mit Lautäusserungen selbst zu spielen


5. Monat

  • Unterscheidet freundlichen oder ärgerlichen Tonfall.
  • Plaudert melodiöser und differenzierter.
  • Erste Silbenketten («pa-pa-pa»).


6. Monat

  • Nimmt wahr, dass es aufgenommen werden soll, und streckt Arme entgegen.
  • Unterscheidet nettes/unfreundliches Gesicht und reagiert darauf.


7. Monat

  • Rollt vom Bauch auf den Rücken.
  • Kann den Kopf heben.
  • Hält man das Kind stehend, hebt es abwechselnd den einen und den anderen Fuss.


8. Monat

  • Unterscheidet Mutter von fremden Personen («Fremdeln»).
  • Ist aus Zweierverbindung mit der Mutter herausgetreten.
  • Spielt gern Verstecken («Gugus-dada»).


9. Monat

  • Zieht sich an Möbeln hoch in stehende Position.
  • Versucht zu krabbeln, rutscht dabei oft rückwärts.
  • Kann frei sitzen.


10. Monat

  • Drückt aus, dass es den Sinn einiger Wörter versteht, wie «nein, nein».
  • Antwortet mit sinngemässer Gebärde («ade-ade»).
  • Versucht, Erwachsene nachzuahmen.


11. Monat

  • Kann im Stehen einen Fuss heben, ohne umzufallen.
  • Kriecht, ohne mit dem Bauch den Boden zu berühren.


12. Monat

  • Bei unerwarteten Ereignissen wendet es sich dem Erwachsenen fragend/staunend zu.
  • Kann bestimmte, einzelne Aufforderungen befolgen.


13. bis 15. Monat

  • Steht ohne Hilfe, geht frei, kniet.
  • Kriecht Treppe hinauf.
  • Kann die Laufrichtung nicht abrupt ändern oder plötzlich still stehen.


16. bis 18. Monat

  • Wortschatz von 3 bis 50 Wörtern.
  • Legt kaum Wert darauf, etwas sprachlich mitzuteilen.
  • «Ein-Wort-Sätze», meist mit einem Wunsch verbunden. «Mama» heisst: Mama soll kommen, soll helfen, soll etwas geben et cetera.


19. bis 21. Monat

  • Gegenwart Erwachsener wird dem Kind bewusster.
  • Beginnt zu verstehen, dass Dinge jemandem gehören.
  • Versucht zu verstehen zu geben, was es erlebt hat.


22. bis 24. Monat

  • Beginnt nach den Namen der Dinge zu fragen («Fragealter»).
  • Beginnt von sich als «ich» zu sprechen.
  • Bildet Zwei-Wort-Sätze selbst.
  • Beginnt zu verstehen, dass jedes Ding seinen eigenen Namen hat.
  • Wortschatz von über 50 Wörtern, schwankt stark von Kind zu Kind.


25. bis 30. Monat

  • Hüpft gleichzeitig mit beiden Beinen.
  • Dreht sich zu Musik.
  • Kann kurz auf einem Bein stehen.
  • Kann auch zerbrechliche Dinge mit Vorsicht herumtragen.


31. bis 36. Monat

  • Entdeckt den eigenen Willen und versucht diesen durchzusetzen («Trotzphase»).
  • Hört eher auf Spielkameraden als auf Erwachsene.
  • Spielt Rollenspiele, hat oft Phantasiespielgefährten.
  • Hilft zum Beispiel beim Tischdecken.
  • Wird zunehmend ein «Persönchen», das eigene Ideen äussert.
  • Zum Wort «ich» kommt das Wort «wir».


37. bis 48. Monat

  • Spricht ständig und aufdringlich.
  • Lange Erzählungen statt einfacher Antworten.
  • Kommentiert eigenes Verhalten und jenes anderer.
  • Höhepunkt des Fragealters.
  • Teilt Schimpfworte aus und freut sich über Reaktionen, versteht Kritik daran nicht.
  • Liebt Reime und neue, fremde Wörter.
  • Entdeckt die Welt der Sprache.

Quelle: Herzka, Ferrari, Reukauf: «Das Kind von der Geburt bis zur Schule»; Schwabe-Verlag, 2001