Ein Anwalt verpasst um ein Haar die eigene Hochzeit, weil sein Flug Verspätung hat. Er regt sich furchtbar auf, erzählt man sich. Daher habe er die Internet-Plattform Flightright.de gegründet, die Passagieren hilft, Entschädigungsforderungen gegenüber Airlines durchzusetzen. Für eine erste Abklärung genügen ein paar Mausklicks. Man gibt Datum, Flugnummer und Gesellschaft ein. Auf diversen Datenbanken prüft die Software, ob man Anspruch auf Entschädigung hat. Hinterlegt sind Infos über Flugpläne, tatsächliche Flugbewegungen und Wetterverhältnisse.
Eine ähnliche Anlaufstelle gibt es in Deutschland auch für Autofahrer, die eine Verkehrsbusse kassiert haben. Für alle, die sich ungerecht behandelt fühlen, bietet Geblitzt.de schnell und unkompliziert Hilfe an.
Solche digitalisierten Rechtsdienstleistungen heissen auf Neudeutsch Legal Technology. Grosse Legal-Tech-Firmen mischen den Markt der Rechtsanwälte in den USA seit Jahren auf. In Europa sind sie auf dem Vormarsch, auch in der Schweiz gibt es ein paar Legal-Tech-Start-ups.
Guider, die digitale Rechtsberatungs-Plattform des Beobachters, ist eines der Schweizer Beispiele. Andere Start-up-Firmen vermitteln Anwälte für bestimmte Rechtsfragen. Oder sie offerieren übers Internet individualisierte Verträge und Briefe, die auf Standardvorlagen und Automatisierungssoftware basieren.
Forderungen nach einer Mietzinsreduktion kann man online beispielsweise über Easymietzinsreduktion.ch oder GetYourLawyer stellen. Der Mieter tippt seine persönlichen Angaben in ein Formular ein, wenig später ist der eingeschriebene Brief auf dem Weg zum Vermieter. Kosten: CHF 14.90. Konsumentinnen und Konsumenten profitieren von dieser Entwicklung. Sie erhalten erschwingliche Rechtsberatung rund um die Uhr.
«Der klassische Anwalt, der in seiner Kanzlei im Ledersessel sitzt und darauf wartet, dass ein Klient eintritt, gehört der Vergangenheit an. Traditionelle Geschäftsmodelle sind bedroht», sagt Gian Sandro Genna, Gründer von Jusonline, einer digitalisierten Anwaltskanzlei. «Die Schweizer Anwaltsszene ist zersplittert, Anwälte sind ineffizient und sehr teuer.» Er könne gut nachvollziehen, dass viele Leute nie zum Anwalt gingen, weil ihnen das Vertrauen fehle. «Das Preis-Leistungs-Verhältnis überzeugt sie nicht.» In diese Lücke wollen Legal-Tech-Firmen springen. «Wenn es gelingt, ausgezeichnete Dienstleistungen zu erbringen, sind die Kunden auch bereit zu zahlen.»
Sie haben ein rechtliches Problem und brauchen Unterstützung durch eine Anwältin oder einen Anwalt? Auf GetYourLawyer – die Anwaltsplattform in Partnerschaft mit dem Beobachter – finden Sie für jeden Fall den passenden Anwalt.
Der Durchbruch von Legal Tech steht laut Genna auch auf einer anderen Ebene bevor. Internationale Wirtschaftsfirmen würden künftig alle Arten von Verträgen und Transaktionen digital durch Software ausarbeiten lassen. «Bisher haben grosse Teams von Junganwälten diese Arbeit übernommen. Sie wühlten sich durch Berge von Dokumenten und analysierten sie, bevor Kontrakte oder Fusionen abgeschlossen wurden.» Künftig analysiert spezialisierte Software riesige Datenmengen innert Sekunden auf Schwachstellen. Damit könne man Millionen an Anwaltskosten sparen, so Genna.
«Es wird eine grössere Umwälzung in der Anwaltsbranche geben. Der Beruf wird sich verändern.»
Christoph Küng, Mitbegründer der auf Legal Tech spezialisierten TechOneGroup
Kürzlich hatte er im Branchenheft «Anwaltsrevue» die Anwälte aufgefordert, sich zu bewegen, «und zwar rasch», wenn sie gegen diese dynamische Konkurrenz mithalten wollten. «Warum etwa soll ein Kunde für eine Konventionalscheidung beim Anwalt mehr als 2000 Franken ausgeben, wenn er online die gleiche Leistung für rund die Hälfte bekommt?» Genna wurde noch deutlicher: «Die bevorstehende ‹Entzauberung› des Anwaltsberufs ist stark durch die heutigen Kunden getrieben. Kritische, über das Internet gut informierte Personen lassen sich einen Apfel nicht mehr für eine Birne verkaufen.» Genna ist sich denn auch bewusst, dass ihn manche Berufskollegen als Nestbeschmutzer wahrnehmen könnten.
Auch Christoph Küng beobachtet die Entwicklung genau. Der diplomierte Steuerexperte hat TechOneGroup mitgegründet, zu der die digitale Anwaltsfirma LegalOne gehört. Sie bietet standardisierte Rechtsprodukte für Private und KMU im Internet an. Ebenfalls mitgegründet hat Küng den Verein Swiss Legaltech Association. Er ist sicher: «In der Anwaltsbranche wird es eine grössere Umwälzung geben. Der Beruf wird sich verändern.» Für ihn ist klar, dass man einfache Scheidungs-, Ehe-, Darlehens-, Arbeits- und Kaufverträge oder Firmengründungen in Zukunft über Online-Marktplätze abwickelt. «In den Kanzleien wird es eine Verschiebung geben hin zur Beratung in Spezialfällen und strittigen Gerichtsverfahren.»
Der Schweizerische Anwaltsverband bezeichnet Legal Tech als grosse Herausforderung. «Legal Tech wird in erster Linie helfen, Wissen für Rechtsunkundige aufzubereiten und zugänglich zu machen. Auch von der Anwaltschaft wird diese Entwicklung primär als Chance verstanden. Anwälte werden auch in Zukunft nicht entbehrlich sein, aber anders arbeiten müssen als heute», sagt Generalsekretär René Rall.
In dieselbe Richtung gehen Initiativen der Uni Zürich, die Legal Tech in ihre Lehrveranstaltungen aufnehmen will. Denn gefordert sind vor allem junge Juristinnen und Juristen, die ihr Berufsleben noch vor sich haben. Anwälte wird es weiterhin brauchen, vom Aussterben sind sie nicht bedroht.