Hansueli Albonico, 62, ist Chefarzt für Interdisziplinäre Komplementärmedizin am Regionalspital Emmental in Langnau BE.

Quelle: Tomas Wüthrich

Der Passage im Mail, das Hansueli Albonico dem Besucher vorgängig geschickt hat, mangelt es nicht an einer gewissen Dramatik: «Mit den DRG verabschieden wir uns vom hochstehenden humanistischen Standard der Medizin in der Schweiz.» Albonico, der vor Jahren die Volksinitiative für die Komplementärmedizin mitlanciert hat, bezeichnet sich als «Arzt aus Leidenschaft». Dieses Bild vermittelt er auch, wie er im weissen Kittel durch sein unprätentiöses Chefbüro tigert, um in einem der Bundesordner, die sich sogar auf der Behandlungsliege stapeln, das richtige Dokument für seine Argumentation zu finden.

Der Doktor aus dem Emmental liest und sammelt alles, was mit dem Fallpauschalen-System DRG zu tun hat. Letztlich sind es aber die eigenen Erfahrungen, die Hansueli Albonico zum Skeptiker gemacht haben: Seitdem die Berner Spitäler mittels DRG abrechnen, erlebt er «die Abtretung der medizinischen Fallführung vom Arzt an die computerisierte Ökonomie». Und wenn in den Krankenhäusern der Grouper, also die Software zur Ermittlung der Fallpauschale und der Behandlungsdauer, die entscheidende Instanz sei, dann stimme doch etwas nicht, sagt er.

«Überlieger» sind nicht selten Sterbende

Das klingt nach Fundamentalkritik. Aber halt: Es sei berechtigt und notwendig, in den Spitälern ein besseres Kostenbewusstsein zu etablieren, gerade auch bei den Ärzten, stellt Albonico klar, noch ehe man ihn danach fragen konnte. Doch das DRG-System sei dazu das falsche Instrument – zu technokratisch, zu starr und damit zu weit weg von den Realitäten von Behandlung und Pflege. Und von den Bedürfnissen der Patienten: «Menschen, nicht bloss codierte Fälle», wie der 62-Jährige maliziös anfügt.

Das gesuchte Schema liegt nun auf dem Pult – die «DRG-Systematik». Das Kurvendiagramm stellt dar, in welchem Zeitraum eine Behandlung für das Spital lukrativ ist. Problematisch wird es im Bereich jenseits des «high trim point». Hier befinden sich die sogenannten Überlieger, jene Patienten also, die für ihr diagnostiziertes Krankheitsbild zu viele Hospitalisierungstage beanspruchen. Bei ihnen werden die Grenzen des Systems spürbar, das auf Vereinheitlichung ausgelegt ist.

Denn «Überlieger» sind vielfach Leute mit unklaren Diagnosen, nicht selten Sterbende. «Nach DRG-Logik müsste ich auch solche Patienten möglichst umgehend in eine andere Institution abschieben, sonst gibt es Abzüge am Tarif. Aber meine Ethik als Arzt liegt schliesslich darin, diesen Leuten zu helfen oder ihnen ein menschenwürdiges Sterben zu ermöglichen.»

Patienten kränker machen

Das Modell der DRG wurde ursprünglich für chirurgische Behandlungen entwickelt, wo sich die Abläufe noch am ehesten standardisieren und codieren lassen. Doch je weiter man von der Chirurgie abweiche, so Albonico, umso schwieriger werde es, ein Krankheitsbild durch bestimmte Codes abzubilden; für psychische Leiden hält er das gar für «unmöglich».

Darüber hinaus erleichtere diese Unschärfe in der Diagnostik einen fatalen Mechanismus des Fallpauschalen-Ansatzes: jenen, einen Patienten kränker zu machen, als er ist. «Je mehr Diagnosen ich ihm anhängen kann, umso mehr Entschädigungen erhält mein Spital.» Mit diesem verkehrten Anreiz sei die angeblich kostendämmende Wirkung des Systems dahin, findet der Mediziner.

Mit solchen Vorbehalten ist Albonico in seiner Gilde nicht allein. Gemeinsam mit anderen kritischen Ärzten macht er sich für ein DRG-Moratorium stark, denn noch seien zu viele Fragen offen, um die neue Spitalfinanzierung bereits 2012 flächendeckend einzuführen. Wie ist der Datenschutz sicherzustellen? Wie wird die Aus- und Weiterbildung des Gesundheitspersonals finanziert? Wie sind die Auswirkungen auf vor- und nachgelagerte Bereiche wie die der Hausärzte oder der Reha? Gibt es eine Begleitforschung? «Ohne einen Marschhalt laufen wir ins Chaos», sagt Albonico, der Skeptiker.