«In der Schweiz werden über 27 unschuldige Mitbürger pro Tag gegen ihren Willen zwangsweise in eine psychiatrische Klinik eingewiesen», heisst es auf einem Flugblatt der «Bürgerkommission für Menschenrechte» (siehe unten: «Psychiatrie-Organisationen»). Und obwohl keine nationale Statistik über Zwangseinweisungen geführt wird, kann man davon ausgehen, dass die Zahl in etwa stimmt.

Das ist aber auch schon das einzig Richtige am eingangs erwähnten Satz. «Falsch daran ist, dass von ‹unschuldigen Mitbürgern› die Rede ist», präzisiert Christoph Lüthy von der Stiftung Pro Mente Sana, die sich für psychisch kranke Menschen und ihre Angehörigen engagiert. Bei einer sogenannten fürsorgerischen Freiheitsentziehung (FFE) stelle sich nicht die Frage, ob sich jemand etwas hat zuschulden kommen lassen. «Es geht vielmehr zum einen um die Frage, wie und ob jemandem geholfen werden kann. Und zum anderen, ob die Einweisung vermeidbar gewesen wäre.»

Weil eine FFE nichts mit einer Freiheitsentziehung im Sinne des Strafrechts zu tun hat, findet man die Regelung dazu im Zivilgesetzbuch: «Eine mündige oder entmündigte Person darf wegen Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Trunksucht, anderer Suchterkrankungen oder schwerer Verwahrlosung in einer geeigneten Anstalt untergebracht oder zurückbehalten werden, wenn ihr die nötige persönliche Fürsorge nicht anders erwiesen werden kann.»

Scientologen als Psychiatriekritiker

Dieses vom Gesetzgeber formulierte Hilfsangebot hindert die «Bürgerkommission», die auch unter dem Kürzel CCHR in Erscheinung tritt, nicht daran zu behaupten, dass man als Patient in einer Klinik «gedemütigt und gefügig gemacht» werde.

«Kritik an der Psychiatrie ist eine sinnvolle und nötige Sache», sagt dazu Georg Schmid von der Evangelischen Informationsstelle über Kirchen, Sekten und Religionen. «CCHR verschweigt aber die Fälle, in denen Psychiater und Psychotherapeuten schwer bedrängten Menschen Heilung und Erleichterung in ihrem psychischen Leiden verschafft haben.» Dass sich der Sektenexperte mit CCHR befasst, hat seinen Grund: Hinter der Organisation stehen Mitglieder von Scientology.

Ähnlich abstruse Kritik an der FFE übt der Verein Psychex. Etwa diese: Mittels FFE werde man «in einer der unzähligen Anstalten versenkt und mit heimtückischen Nervengiften ruhiggestellt». Zudem würden wohl nirgendwo auf der Welt so viele Menschen eingesperrt wie in der Schweiz.

Fast immer ein traumatisches Erlebnis

Dass Organisationen wie Psychex und CCHR so unbeschwert mit unbelegten Behauptungen operieren können, liegt daran, dass die Psychiatrie für viele eine Blackbox ist: «Die Leute wissen nicht, wo sie sich kompetente Informationen und Unterstützung holen können», sagt Toni Wirz, Leiter des Beobachter-Beratungszentrums. Viele glauben, dass Filme wie «Einer flog über das Kuckucksnest» ein Abbild der heutigen Realität zeigen und Zwangsmedikation, Elektroschocks und Folter hinter Klinikmauern an der Tagesordnung seien. Betroffene suchen deshalb nach einer FFE insbesondere Informationen, wie sie selbst oder ihre Angehörigen so schnell wie möglich wieder aus der Klinik rauskommen. Verständlich: Eine Zwangseinweisung ist fast immer ein traumatisches Erlebnis, das man mit einer sofortigen Entlassung ungeschehen machen möchte.

«Bevor man die Frage nach einer Entlassung stellt, muss man sich aber die Frage stellen, weshalb man überhaupt eingewiesen worden ist», sagt Toni Wirz. Dabei können anerkannte Organisationen wie Pro Mente Sana oder auch Pro Infirmis gute Dienste leisten. Sie helfen auch bei der Beurteilung, ob eine Einweisung korrekt erfolgt ist. «Juristisch gesehen ist eine Einweisung dann korrekt, wenn ein Arzt die Person untersucht, Alternativen prüft und im Rahmen des Gesetzes handelt», führt Christoph Lüthy von Pro Mente Sana aus. Zu beachten ist dabei, dass nicht nur Ärzte, sondern auch Vormundschaftsbehörden eine Einweisung veranlassen können.

Für eine formal korrekte Einweisung gelten folgende Voraussetzungen:

 

  • Die betroffene Person muss an einem Schwächezustand leiden. Einen solchen umschreibt das Gesetz mit veralteten Begriffen wie «Trunksucht», «Geisteskrankheit» und «Geistesschwäche». Diese aus dem Jahr 1981 stammenden Begrifflichkeiten werden nächstes Jahr folgendermassen neu formuliert: «Eine Person, die an einer psychischen Störung oder an geistiger Behinderung leidet oder schwer verwahrlost ist, darf in einer geeigneten Einrichtung untergebracht werden, wenn die nötige Behandlung oder Betreuung nicht anders erfolgen kann.»
     
  • Dieser Schwächezustand muss eine Schutzbedürftigkeit zur Folge haben.
     
  • Die geeignete Hilfe kann nicht durch Betreuung von Angehörigen oder in ambulanten Massnahmen geleistet werden.
     
  • Es muss eine geeignete Klinik oder Institution zur Verfügung stehen. Man darf also nicht an einem Ort eingewiesen werden, wo die nötige Hilfe nicht gewährleistet ist oder gar nicht angeboten wird.
     

Doch selbst wenn alles ordnungsgemäss abgelaufen ist, können Betroffene und Angehörige nach sorgfältiger Abklärung zum Schluss kommen, dass die Einweisung nicht nötig gewesen ist. In solchen Fällen kann die sofortige Entlassung verlangt werden, indem ein entsprechendes Gesuch an die Klinikleitung gestellt wird. Diese ist verpflichtet, das Begehren umgehend an die zuständige richterliche Behörde weiterzuleiten. Weil dieses Verfahren nicht in allen Kantonen kostenlos ist, empfiehlt es sich bei knappen finanziellen Verhältnissen, im Entlassungsgesuch eine unentgeltliche Prozessführung zu beantragen.

Zwangsmassnahmen

«Wenn jemand mit dem Kopf gegen die Wand…»

Manchmal muss man Patienten einfach gegen ihren Willen behandeln, sagt Thomas Ihde, Chefarzt der Psychiatrischen Dienste Interlaken BE.

Beobachter: Braucht es psychiatrische Kliniken?
Thomas Ihde: Ja, genauso wie es Spitäler braucht.

Beobachter: Reichen denn ambulante Angebote nicht?
Ihde: Nein. Denn bei psychischen Erkrankungen ist es wie bei medizinischen Problemen: Eine akute Blinddarmentzündung möchten Sie auch nicht ambulant behandeln lassen. Ich denke da vor allem an schwere Depressionen, Manien, akute Schübe einer Schizophrenie. Und generell an schwere Selbst- oder Fremdgefährdungen.

Beobachter: Kann man in solchen Fällen gegen seinen Willen behandelt werden?
Ihde: Zwangsbehandlungen sind immer ein Mittel der letzten Wahl. Bei weniger als einem Prozent aller Aufnahmen kommt es zu Zwangsmassnahmen, und auch nur, wenn alle anderen Massnahmen nicht helfen.

Beobachter: Wann ist das der Fall?
Ihde: Wenn jemand zum Beispiel wegen starker Suizidgedanken geschützt werden muss. Oder ganz konkret im Fall einer meiner Patientinnen: Die Frau war in ihrer Psychose überzeugt, ihr Kopf sei von Dämonen besetzt. Sie begann, den Kopf heftigst gegen eine Betonwand zu schlagen, und konnte erst nicht verstehen, warum sie daran gehindert wurde. Sie ist heute, vier Jahre später, immer noch bei mir in Behandlung und froh, dass damals interveniert wurde.

Beobachter: Sind solche Zwangsmassnahmen nicht ein zu grosser Eingriff in die persönliche Freiheit?
Ihde: Viele Patienten erleben Zwangsmassnahmen als sehr traumatisierend und erinnern sich noch Jahrzehnte später daran. Sie werden daher nur angewendet, um die Sicherheit der Patienten zu gewährleisten.

Thomas Ihde, Chefarzt der Psychiatrischen Dienste Interlaken BE

Quelle: Thinkstock Kollektion
Psychiatrie-Organisationen


Empfehlenswert
:

Pro Mente Sana (www.promentesana.ch)
Die Stiftung setzt sich für die Anliegen von psychisch erkrankten Menschen ein und bietet umfassende Information und Beratung. Pro Mente Sana engagiert sich für die Rechte von psychisch Kranken sowie für deren soziale und berufliche Integration. Nach Auffassung der Organisation gehören psychisches Leiden und psychische Behinderungen mit ihren schmerzhaften Krisen zum menschlichen Leben: «Oftmals können sie eine Tür zu menschlichem Wachstum und persönlicher Sinnfindung öffnen.» Empfehlenswert sind die Infoblätter, die sich direkt an Betroffene respektive ihre Angehörigen wenden.

Pro Infirmis (www.proinfirmis.ch)
Die Fachorganisation Pro Infirmis bietet Sozialberatung für Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung. Fachpersonen beraten die Betroffenen und ihre Angehörigen in Fragen zur Lebensbewältigung, zum Sozialversicherungsrecht sowie bei finanziellen Schwierigkeiten. Die Stiftung vermittelt auch psychiatrische und therapeutische Behandlung durch regionale sozialpsychiatrische Dienste sowie Ärztinnen und Ärzte. Die Pro-Infirmis-Stiftung Profil kümmert sich spezifisch um die Aspekte Arbeitsintegration und Arbeitsplatzerhaltung für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen (www.profil.proinfirmis.ch).

Hier ist Vorsicht geboten:

Psychex (www.psychex.ch)
«Raus aus dem Irrenhaus» heisst es auf der Website des Vereins, dem Anwälte und Ärzte angehören. Psychex ist keine Sekte, aber sektiererisch im Auftreten: «Pharmaindustrie und Psychiatrie zielen mit ihren chemischen, physischen und psychischen Fesseln auf Freigeister, Unkonventionelle und auf alle, die die unablässige Expansion der Wirtschaft nicht als oberste Lebensmaxime verinnerlichen wollen», schreibt etwa der Anwalt Christoph Erdös – als ob es keine psychisch Kranken gäbe, denen geholfen werden müsste. Den Beweis, dass eine Entlassung aus der Klinik in jedem Fall richtig ist, bleibt Psychex schuldig.

Bürgerkommission für Menschenrechte (www.cchr.ch)
Dahinter verbirgt sich ein Ableger von Scientology. «Psychiatrie zerstört Leben» steht in grossen Lettern auf dem Dach des schwarzen Zeltes, das regelmässig in Schweizer Städten aufgeschlagen wird. Die Broschüren der Organisation enthalten mehrheitlich abstruse Behauptungen, die stets dem einen Grundsatz folgen: Wenn es überhaupt etwas gibt, das den menschlichen Geist befreien kann, sind es die Lehren von Scientology. Die «Bürgerkommission» macht keine Verbesserungsvorschläge und hilft somit weder Kranken noch Angehörigen – es geht einzig darum, Sektenmitglieder zu ködern.