Karina, 17, suchte nach Abschluss der Schule eine Lehrstelle als Detailhandelsassistentin oder Coiffeuse. Ohne Erfolg. Dank dem Projekt «Speranza 2000» fand sie immerhin einen Praktikumsplatz in einem Kiosk der Valora. 600 Franken verdiente sie monatlich. Gern hätte sie für Valora weitergearbeitet, dort eine zweijährige Attestlehre (siehe Glossar am Ende des Artikels) als Detailhandelsassistentin gemacht. Doch die junge Russin, die seit sechs Jahren in der Schweiz lebt, erhielt eine Absage. Die Lehrlingsverantwortliche meinte, Karina würde in der Lehre nicht mithalten können.

Mit «Speranza 2000» stellte sich erstmals im grösseren Rahmen die Frage, ob mit einjährigen Praktika nicht Billiglohnarbeitsplätze geschaffen werden. Für das Projekt hat sich der Unternehmer und FDP-Nationalrat Otto Ineichen stark gemacht: Seit 2005 fordert er in einer grossangelegten Kampagne die Wirtschaft auf, Jugendliche durch die Bereitstellung von Ausbildungsplätzen von der Strasse zu holen. Bis Herbst 2006 vermittelte der Verein 1'800 Ausbildungsplätze, etwa 1'000 davon waren einjährige Praktika. Die Kritik, dass mit «Speranza» Jugendliche ausgenützt werden, wurde von Seiten der Verantwortlichen ernst genommen - man wertete das Praktikum in der Zwischenzeit auf; es umfasst nun auch Schulunterricht, je nach Kanton sind das ein bis zwei Tage pro Woche an einer Berufsfachschule. Damit hat «Speranza 2000» jetzt den Status einer «Vorlehre». Als sogenanntes «Brückenangebot» von der Schule in die Berufswelt ist es heute nicht mehr wegzudenken.

Coop schert aus

Dass ein Praktikum ohne begleitenden Schulunterricht wenig Sinn macht, ist mittlerweile unbestritten. Der Detailhändler Coop schert trotzdem aus. Er bietet seit diesem August in fünf Regionen 100 Praktikumsplätze an. Die 1'800 Franken Monatslohn sind verlockend, gespart wird aber bei der Ausbildung: Für Coop-Praktikanten ist während ihres einjährigen Einsatzes kein Unterricht an Berufsfachschulen vorgesehen, sondern lediglich eine interne Arbeitsschulung. «Danach haben sie die Chance, als Hilfskraft angestellt zu werden», sagt Peter Keller, Leiter Human Resources bei Coop. Er bezeichnet das neue Modell als «soziales Angebot für Schulschwache und Schulmüde».

Der Alleingang des Detailhandelsriesen stösst auf Kritik von übergeordneter Stelle. «Ein Praktikum, das nicht als erstes Ziel den Einstieg in die Berufsbildung fördert, lehnen wir ab», sagt Serge Imboden, Vizedirektor beim Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT). «Mit dem hohen Praktikumslohn schafft man zudem einen falschen Anreiz. Sinnvoll wäre ein solches Angebot nur für junge Erwachsene über 20, die trotz Integrationsmassnahmen den Einstieg nicht geschafft haben.» Dafür müsste Coop die Praktikanten jedoch über die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) oder das Sozialamt rekrutieren.

«Hoher Lohn als Lockmittel»

Ähnlich sehen es die Gewerkschaften. «Ein solches Praktikum steht diametral zum anerkannten Recht, allen Jugendlichen eine berufliche Erstausbildung zu ermöglichen», betont Peter Sigerist, Zentralsekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds. Dieses Ziel sei gemeinsam von den Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen und vom Bund festgelegt worden. Mit ihrer Forderung, dass Coop im Praktikum einen Tag Schule pro Woche anbieten müsse, kamen die Gewerkschaftsvertretungen aber nicht durch. Ernüchtert stellt Ralf Margreiter, Jugendbeauftragter beim Kaufmännischen Verband Schweiz, fest: «Es geht offenbar nur noch darum, beim Organisieren des Tiefstlohnsegments die Nase vorn zu haben - und dazu einen hohen Praktikumslohn als Lockmittel einzusetzen.»

Diesen Vorwurf weist Coop-Personalchef Keller zurück: «Würden wir weniger bezahlen, hiesse es von Seiten der Gewerkschaften, wir würden Lohndumping betreiben.» Für Coop sind junge Hilfskräfte tatsächlich billig. Denn im ersten Jahr nach dem Praktikum verdienen sie bei hundertprozentigem Arbeitspensum 2'450 Franken, im zweiten Jahr 2'800 Franken und erst mit 20 den Mindestlohn von 3'500 Franken.

Der Druck auf Coop scheint Wirkung zu zeitigen: In der paritätischen Kommission der Sozialpartner liess der Detailhändler am 21. August verlauten, dass die Praktikanten nun wählen können, ob sie einen Tag zur Schule gehen wollen. Dafür wird ihnen der Praktikumslohn um einen Fünftel auf 1440 Franken gekürzt. Doch: «Die jeweilige Verkaufsregion entscheidet selber, ob sie dieses Wahlangebot machen will», erklärt Peter Keller. Die Jugendlichen erfahren erst während der Rekrutierungsphase, ob sie schulisch gefördert werden oder halt eben nicht.

Reelle Chancen, nicht im Hilfsarbeiterdasein steckenzubleiben, bieten andere Lösungen - neben den Vorlehren sind dies insbesondere die Motivationssemester, die von den RAV vermittelt werden. «Jugendliche von der Strasse holen» lautet hier das Motto. Ein solches Motivationssemester gibt es in Schlieren ZH. Es beinhaltet, dass die Jugendlichen vorab eine Praktikumsstelle suchen, allein oder mit Unterstützung. Die Firma, die den Praktikanten nimmt, vereinbart mit den Verantwortlichen des Berufsintegrationsprogramms (BIP) Ziele. Dann werden die Jugendlichen vom BIP eng begleitet. Ein Tag pro Woche ist der schulischen und persönlichen Förderung gewidmet. Jugendliche, die nicht genügend Fähigkeiten für ein Praktikum mitbringen, durchlaufen ein viermonatiges Intensivcoaching. BIP-Leiter Ricardo Zimmermann stellt fest: «Viele Jugendliche brauchen vor allem Zeit, um Defizite aufzuholen.» Wünschen würde er sich deshalb flexible Vorlehren, die auch länger als ein Jahr dauern dürfen. Rund 90 Prozent der Teilnehmenden am BIP finden innert eines Jahres eine Anschlusslösung. Im letzten Jahr absolvierten gesamtschweizerisch rund 7000 Jugendliche ein derartiges Motivationssemester.

Jeder Zehnte findet keine Lehrstelle

Eine neue Studie im Auftrag des BBT zeigt, dass drei Viertel der Jugendlichen direkt nach der Schule in die berufliche Ausbildung oder in eine weiterführende Schule gehen, 15 Prozent nach einem Zwischenjahr. Und alle andern, rund jeder Zehnte? Viele können in Motivationssemestern aufgefangen werden, aber hier tut sich eine Schere auf, denn immer mehr Jugendliche haben gemäss Studie «psychische Probleme, kommen aus sehr schwierigen familiären Verhältnissen, sind verwahrlost und sozial desintegriert». Jährlich 2'000 bis 2'500 junge Leute laufen Gefahr, den Anschluss an die Berufswelt nicht zu schaffen; gut die Hälfte von ihnen sind Schweizer. Für diese Jugendlichen soll nun schon am Ende des siebten Schuljahrs eine Begleitperson eingesetzt werden, die sie beim Einstieg in die Berufsbildung unterstützt. «Dieses individuelle Case Management soll spätere Sozialfälle verhindern», erklärt Serge Imboden.

Karina sucht weiter nach einem Ausbildungsplatz. Im Praktikum habe sie viel gelernt, sagt sie. Im Frühling bestand sie den Multicheck-Test, ohne den man kaum noch eine Lehrstelle findet. Ein Jahr zuvor hätte sie sich noch nicht zugetraut, es überhaupt zu versuchen. Sie trifft sich nun regelmässig mit ihrer Berufsberaterin, die auch das Praktikum vermittelt hatte. Noch immer sucht Karina im Detailhandel eine Lehrstelle, aber nun auch in der Gastronomie. «Wenn ich keine Attestlehrstelle finde, möchte ich das 10. Schuljahr machen», sagt sie. Denn wie der Arbeitsalltag aussieht, wenn man keine Ausbildung gemacht hat, weiss Karina von ihrer Mutter, die als Ungelernte im Verkauf angestellt war.

Quelle: Ursula Meisser
Glossar: Wer bietet was?

Als Praktikum wird ein zeitlich begrenzter Arbeitseinsatz in einem Betrieb bezeichnet. Der Praktikumslohn soll nach den Richtlinien der Berufsbildungsämter einen Lehrlingslohn nicht übersteigen. Schulunterricht gibt es nicht.

Wird an mindestens einem Tag pro Woche die Berufsfachschule besucht, spricht man von einer Vorlehre.

Die Vorlehren gehören zu den einjährigen Brückenangeboten: So werden alle begleiteten Übergänge von der obligatorischen Schule in eine Lehre bezeichnet. (Informationen: www.berufsberatung.ch/...)

An stellenlose junge Erwachsene bis 20 ohne Berufsabschluss richten sich die Motivationssemester. Sie werden im Auftrag der Arbeitsämter angeboten und über die RAV vermittelt. (Informationen: www.ch-semo.ch)

Die Grundbildung mit Attest - oft auch Attestlehre genannt - ersetzt bis 2008 die vormalige zweijährige Anlehre in allen Berufen.

Mit einem Attestabschluss kann man ins zweite Lehrjahr der Grundbildung mit Fähigkeitszeugnis einsteigen - in die eigentliche «Lehre».