Der süsse Geruch steigt sofort in die Nase. Stolz kommt Mithu aus der Küche. In der Hand hält er ein blaues Ungetüm aus Zuckerwatte. «Wie man das macht, habe ich letzte Woche gelernt», sagt er. Selbstbewusst steht er da in weissem Kochhemd, schwarz-weiss karierter Hose und streicht sich durch die kurzen schwarzen Haare.

Mithu ist im ersten Lehrjahr als Koch im Restaurant «Fischers Fritz» am Stadtrand von Zürich, direkt am See, einer Beiz von Szenegastronom Michel Péclard. Der 16-jährige Mithu wurde in der Schweiz geboren und ist hier aufgewachsen. Seine Eltern waren in den neunziger Jahren wegen des Bürgerkriegs aus Sri Lanka in die Schweiz gekommen. Sie arbeiten im Putz- und Unterhaltsdienst eines Spitals – und halten nichts von Mithus Kochausbildung.

«Kochen ist bei Tamilen traditionellerweise reine Frauensache», erklärt Mithus ehemaliger Sekundarlehrer Johannes Barz. Seit vier Jahren unterrichtet der 43-Jährige Sek-B-Schüler im Schulhaus Brunnenmoos in Kilchberg, einem wohlhabenden Vorort von Zürich.

«Von meinen zwölf Schülern und Schülerinnen haben alle eine Lehrstelle oder einen guten Anschluss gefunden», sagt Barz. Daran hat er grossen Anteil. Seine Schützlinge lernen Koch, Servicefachangestellter, Elektroinstallateur, Mechaniker, Fachangestellte Gesundheit. Zwei machen das zehnte Schuljahr, und zwei konnten im letzten Schuljahr in die Sek A aufgestuft werden und machen nun eine KV-Lehre. Das ist nicht die Regel: Im Schnitt findet im Kanton Zürich nur jeder zweite Sek-B-Schüler eine Lehrstelle.

Der Realitätscheck für die Schüler komme jeweils im Berufsinformationszentrum in der zweiten Sek. «Dort merken sie, dass ihre Möglichkeiten, eine Lehrstelle zu finden, wegen ihrer schulischen Leistung sehr eingeschränkt sind.» Eigentlich wollen alle das KV machen und in «schönen Kleidern» arbeiten gehen. Einzusehen, dass das nicht klappen wird, sei äusserst schwierig.

Lehrer Barz hilft ihnen bei diesem Prozess. Er überarbeitet auch nach Schulschluss Bewerbungen mit seinen Schülern, bereitet sie auf die Gespräche mit den Lehrmeistern vor oder lernt mit ihnen für ausserschulische Prüfungen wie den Stellwerk-Check oder ähnliche Standortbestimmungen. Das ist nicht selbstverständlich, nicht alle Lehrer setzen sich so ein für ihre Schüler. «Ich besuche alle bei ihren Schnupperstellen und rede mit den Lehrmeistern», sagt er. «Das schätzen die Jugendlichen und auch manche Lehrmeister sehr.» Manch einer seiner ehemaligen Schüler besucht ihn noch heute regelmässig, kommt ins Schulhaus und erzählt von der Arbeit und der Berufsschule oder bittet um Rat und Unterstützung.

Viele seiner Schüler stammen aus schwierigen familiären Verhältnissen, einzelne können kaum lesen und schreiben. «Als Lehrer auf diesem Niveau vermittle ich nicht nur Wissen, sondern bin auch Berater, Sozialarbeiter und oft auch eine Art Elternersatz», sagt Barz und schiebt seine feine randlose Brille die Nase hoch. Elternersatz. Wie bei Mithu.

Für Mithu war die Clique wichtiger

«Mithu ist sehr intelligent, aber auch sehr faul», sagt Barz. Immer wieder habe er ihm ins Gewissen geredet. Aber für Mithu war die Clique wichtiger. Um seinen Kollegen zu gefallen, strengte er sich nicht mehr an, hängte lieber ab. Auch seine Eltern hätten nicht geholfen, sie können kaum Deutsch.

«Ich habe immer an Mithu geglaubt», sagt Barz. Der Junge habe viel Potenzial, nutze es aber kaum. Am Ende der dritten Sek war Mithu der Einzige in der Klasse, der noch keine Lehrstelle hatte. Mithu sagt, er habe sich bei Banken und im Detailhandel beworben, aber nur Absagen erhalten.

Einmal konnte er bei einem grossen Modehändler schnuppern, «die nahmen aber lieber Frauen – oder wollten mich nicht wegen meiner Hautfarbe». Er zieht die Schultern hoch. Seine Eltern wollten, dass er etwas «Richtiges» mache, Bank, Informatik oder so. Wie sein grosser Bruder. Nach zehn Jahren Schule müsse er doch etwas Anständiges lernen, meinten sie. Dass mit seinem B-Abschluss eine Lehre im KV kaum möglich sein würde, verstanden sie nicht. Er habe schon immer gern gekocht, Fleisch vor allem. «Ich liebe Züri-Geschnetzeltes», sagt er. Die wöchentlichen Kochstunden im Haushaltskundeunterricht waren ein Highlight für ihn. Koch sei seine Berufung.

Sein Schulleiter kannte zufällig Michel Péclard, der in Zürich sieben Betriebe führt. Ein Anruf – und Mithu konnte bei Péclard schnuppern.

Michel Péclard ist ein Original in der hiesigen Gastroszene. Ein Quereinsteiger mit Zürischnurre. Schnell und laut und von sich überzeugt. Ein Macher.

Der gelernte Buchhalter gibt auch Menschen eine Chance, die bei anderen nie unterkämen: Clochards, Transvestiten oder Schulabbrechern. Seine etwa 140 Angestellten bezeichnet er als seine Familie. «Bei uns kümmert man sich umeinander.» Selber sei er zweimal aus der Schule geflogen – er hat ein Herz für schlechte Schüler. «Was heisst das denn schon, wenn man in der Schule nicht gut ist?» Aus ihm sei schliesslich auch «etwas Rechtes» geworden. Mithu ist bei ihm am richtigen Ort.

Lehrer Johannes Barz fährt eine Woche vor Schulschluss mit Mithu zum Vertragsgespräch. Normalerweise machen das die stolzen Eltern. Der Lehrer als Elternersatz. «Wir fuhren mit meinem Auto hin, einem richtig grossen schwarzen Karren – das hat Mithu extrem gut gefallen», lacht Barz. Und Mithu sagt: «Ich habe die coolste Lehrstelle von allen.» Mithus Eltern haben sich mit seiner Kochlehre abgefunden. Sie wollen aber immer noch, dass ihr Sohn nach der Lehrabschlussprüfung etwas «Richtiges» lernt. Besucht haben sie ihn im «Fischers Fritz» noch nie.