Seine Stube ist ein Abbild seines Lebens: prall gefüllt mit exotischen Erinnerungsstücken. Unter dem dunklen Gebälk Schlangenhäute, Blasrohre und Totemfiguren. An den Wänden Messer und Säbel, Bogen und Pfeile, Preise und Medaillen. Hier die 29 verfassten Bücher, dort ausgewählte Zeitungsartikel über seine Reisen und da die Modelle seiner Boote und Flösse. Die Objekte in Rüdiger Nehbergs restaurierter Mühle bei Hamburg sind Andenken eines Abenteurers im Ruhestand. Viele sind beschriftet. Fein säuberlich wie in einem Museum.

BeobachterNatur: Herr Nehberg, wann haben Sie den letzten Wurm gegessen?
Rüdiger Nehberg: Och, das ist lange her.

BeobachterNatur: Weil Sie in Rente sind?
Nehberg: Ich ass die Dinger nie, weil ich in einer Notlage war, sondern zu Demonstrationszwecken – um die Leute zu schocken.

BeobachterNatur: Und um Aufmerksamkeit zu erregen. Mit den Würmern wurden sie landesweit bekannt. Damals, 1980, auf Ihrem 1000-Kilometer-Marsch durch Deutschland.
Nehberg: Ich wollte das Thema Survival unter die Leute bringen. Da konnte ich nicht wie ein Turnlehrer sagen: So, und jetzt macht ihr mal ein paar Klimmzüge!

Eigentlich war für Rüdiger Nehberg ein unspektakuläres Leben vorgesehen. Im Deutschland der Nachkriegszeit erlernt er ein solides Handwerk, wird Vater und führt bald seine eigene Konditorei. Dabei hätte es bleiben können, wäre da nicht dieser Drang nach mehr gewesen. Er lässt den Bäckermeister aus seinem kleinbürgerlichen Dasein ausbrechen und treibt ihn in die Welt hinaus. Während seine Frau zu Hause die Stellung hält, durchquert er mit dem Kamel die Wüste, mit dem Pedalo den Atlantik und ohne Ausrüstung den Urwald. Nehberg sucht das Abenteuer und wird Überlebenskünstler, schreibt Schlagzeilen und tritt im Fernsehen auf – und das ist nur der Anfang einer beispiellosen Karriere.

BeobachterNatur: Wie sind Sie überhaupt auf den Survival-Trip gekommen?

Nehberg: Ich wollte die Welt fernab der Strassen entdecken. Survival hat mir ermöglicht, autark zu werden, unabhängig von der Zivilisation. Wie ein Tier, das ja auch keinen Rucksack und keine Trinkflasche mit sich trägt und trotzdem überlebt.

BeobachterNatur: Sie hören schlecht, Ihnen wird schnell schwindlig, und Sie sind wasserscheu. Das sind denkbar schlechte Voraussetzungen für einen Überlebenskünstler.
Nehberg: Ja, aber wenn man es trotzdem schafft, dann steigert dies das Selbstwertgefühl ungemein. Man sagt sich: Gegen diese Schwächen komme ich an, nur gegen den Tod nicht – darum muss man wissen, wie man ihm von der Schippe springen kann.

BeobachterNatur: Wie haben Sie es geschafft, Ihre Ängste zu überwinden?
Nehberg: Jede Reise war mit einem Ziel verbunden. Das spornt an.

Der Deutschlandmarsch ist die Idee eines Träumers, der zu viel Karl May gelesen hat. Nehberg will sein Surival-Wissen in der Heimat testen, bevor er sich in den brasilianischen Urwald aufmacht, um einen sagenumwobenen Indianerstamm zu suchen: die Yanomami. Nach dem Marsch ist nichts mehr wie zuvor. Der Würmerfresser ist plötzlich berühmt, und dem Bäckermeister erschliesst sich die Macht der Medien.

BeobachterNatur: Wie kommt man auf die Idee, mit einem Tretboot den Atlantik zu überqueren?
Nehberg: Nachdem ich die Yanomami gefunden hatte, musste ich feststellen, dass ihr Lebensraum durch Goldgräber bedroht war. Und da ich schon immer mit Old Shatterhand sympathisiert habe, musste ich etwas tun. Ich schrieb ein Buch, das aber nichts bewegte. Ich brauchte mehr Aufmerksamkeit. Misserfolge haben mich nie deprimiert. Im Gegenteil: Sie haben meine Kreativität gesteigert.

Nehberg entdeckt das «Abenteuer mit Sinn». Fortan kombiniert er die Jagd nach Adrenalin mit dem Engagement für die Indianer. Aus dem Würmerfresser wird ein Weltverbesserer. Auf die erste Atlantiküberquerung folgen zwei weitere. Mit einem Bambusfloss und einem massiven Tannenstamm. Immer verrückter. Immer lauter. Und immer medienwirksamer.

BeobachterNatur: Sie wollten immer kurz und knackig...
Nehberg: ...statt lang und langweilig leben.

BeobachterNatur: Und doch leben Sie jetzt schon recht lang...
Nehberg: ...aber langweilig ist mir nicht. Ich habe noch viele Pläne – mehr als Restlebenszeit.

BeobachterNatur: Seit elf Jahren setzen Sie sich gegen die Verstümmelung weiblicher Genitalien ein. Was hat Sie dazu bewogen?
Nehberg: Als die Indianer endlich Frieden hatten, brauchte ich eine neue Aufgabe. Ich war 65, und meine Adrenalindrüsen verkümmerten. Just in dieser Zeit las ich das Buch «Wüstenblume» von Waris Dirie, dem somalischen Topmodel, das als Fünfjährige beschnitten wurde. Ich hatte zwar schon von der Verstümmelung von Mädchen gehört. Aber nach dieser Lektüre sagte ich mir: Meine Fresse, das ist ja noch viel schlimmer, als ich dachte!

BeobachterNatur: Auch bei den Yanomami gibt es brutale Bräuche. Sie töten ihre behinderten Babys. Dagegen haben Sie nicht angekämpft. Im Gegenteil: Sie haben es verschwiegen.
Nehberg: Es wäre schwierig gewesen, Sympathie für ein Volk zu wecken, das Euthanasie betreibt. Zudem wurde ich nie Zeuge davon. Und kennt man die Lebensbedingungen im Urwald, kann man sogar Verständnis dafür aufbringen: Mit einer Behinderung hätten Kinder dort keine Überlebenschance.

BeobachterNatur: Warum können Sie die Beschneidung von Mädchen nicht auch als einen Brauch einer anderen Kultur akzeptieren?
Nehberg: Das hat eine ganz andere Dimension. Täglich gibt es 8000 Opfer. Viele sterben an Infektionen – und die, die durchkommen, haben ihr Leben lang Schmerzen und sind ihrer Würde beraubt.

BeobachterNatur: Die Beschneidung betrifft Frauen und wird von Frauen praktiziert. Wie können Sie da als Mann überhaupt etwas bewirken?
Nehberg: Die Gesetze werden im Islam von Männern gemacht. Sie werden abgeleitet vom Koran. Da setze ich an.

Rüdiger Nehberg gelingt es 2006, die wichtigsten geistlichen Führer der islamischen Welt an einen Tisch zu bringen. Er lässt Gynäkologen sprechen und zeigt den Geistlichen einen Film über die «pharaonische Beschneidung», die schlimmste Form der Verstümmelung. Es kommt zu einem historischen Beschluss, der in einem Rechtsgutachten festgehalten wird. Die Kernaussage: «Das Verstümmeln weiblicher Geschlechtsteile ist ein schweres Verbrechen und Sünde. Es verstösst gegen die höchsten Werte des Islams.»

BeobachterNatur: Warum hören diese Leute auf Sie?
Nehberg: Ich spreche als Beduine zu Beduinen.

BeobachterNatur: Wie muss man sich das vorstellen?
Nehberg: Ich begegne den Leuten auf Augenhöhe. Im Vorfeld informiere ich mich und verhalte mich dann so, dass sie auf keinen Fall das Gesicht verlieren. Auch komme ich nie mit einer riesigen Delegation an – da bekommt ja jeder gleich Komplexe.

BeobachterNatur: Und dabei sind Sie selber gar nicht Muslim.
Nehberg: Das höre ich immer wieder. Gerade von Muslimen. Ich sage dann jeweils: Kannst du das wiederholen? Mein Gegenüber wiederholt. Und dann sage ich: Jetzt muss ich aber bezweifeln, dass du Muslim bist, wenn du mir unterstellst, dass ich einen anderen Gott habe als du, wo es doch nur einen Gott gibt.

Nehberg springt mit einem lauten «Oh!» auf, schlüpft in die Rolle seines Kritikers, klatscht in die Hände und küsst sein imaginäres Selbst. Solche Rollenspiele sind typisch für den Erzählstil des 76-Jährigen. Er sitzt keine Minute lang still, wechselt die Seiten wie ein Chamäleon die Farben und blüht auf, wenn er besonders heikle Situationen schildert. Kein Wunder, füllt er mit seinen Vorträgen noch heute die Säle. 

BeobachterNatur: Als Nächstes wollen Sie ein Transparent an der Kaaba in Mekka anbringen. Was wollen Sie mit dieser Aktion erreichen?
Nehberg: Der Gesetzestext steht, aber die Botschaft hat die Leute nicht erreicht. Das könnte ich mit einem Transparent am zentralen Heiligtum des Islams schlagartig ändern. So was gab es noch nie. Das wäre ein Bild, das um die Welt ginge. Aber dazu brauche ich das Einverständnis des saudischen Königs – und ich komme einfach nicht an ihn ran.

BeobachterNatur: Resigniert haben Sie aber noch nicht.
Nehberg: Nein. Nie! Ich halte es da mit Bertolt Brecht: «Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.»

BeobachterNatur: Und was für eine Taktik haben Sie?
Nehberg: Eben war ich in Saudi-Arabien, wo ich wichtige Persönlichkeiten getroffen habe, die mich vielleicht vermitteln können. Ich bin als reicher, älterer Herr aufgetreten: mit einem vornehmen arabischen Gewand und einem schönen Gehstock.

Inszenierungen: Sie gehören zum Prinzip Nehberg wie der Pfeil zum Bogen. In seinen besten Jahren stieg er für die Fotografen in den Schlamm oder ins Eisloch und posierte mit Schlangen oder Vogelspinnen. Er weiss um die Wirkung von Bildern. Und obwohl er als Abenteurer oft alleine unterwegs war, scheint er ein sicheres Gespür für Menschen zu besitzen. Stets gibt er seinem Gegenüber das Gefühl, wertvoll und wichtig zu sein – selbst jetzt, beim vielleicht tausendsten Interview.

BeobachterNatur: Wenn Sie nochmals von vorne beginnen könnten, was würden Sie anders machen?
Nehberg: Ich bereue, dass ich mich nicht früher engagiert habe. Ich hätte meinem Leben viel früher Sinn geben können.

BeobachterNatur: Und wie steht es mit dem Familienleben?
Nehberg: Das empfinde ich als ein Manko. Ich war kein guter Vater und bin geschieden.

BeobachterNatur: Macht Ihre Tochter Ihnen Vorwürfe?
Nehberg: Nein, wir hatten immer ein gutes Verhältnis. Aber sie kann mit meinem Leben nicht viel anfangen, während Annettes Kinder Feuer und Flamme sind.

Annette Weber fällt dem Abenteurer 1997 während eines Vortrags auf. Um der 24 Jahre jüngeren Frau näherzukommen, bittet er ihren zwölfjährigen Sohn, ihm beim Wechseln der Diamagazine zu helfen. Der Plan geht auf – die Arzthelferin und Nehberg werden ein Paar. Im Jahr 2000 gründet das Duo die Menschenrechtsorganisation Target. Während Nehberg als Aushängeschild fungiert, erledigt Annette das Backoffice.

BeobachterNatur: Sie halten auch Vorträge für Manager. Was geben Sie denen mit?
Nehberg: Nach zehn Präsentationen mit Bilanzen bin ich vor allem für den Witz zuständig.

BeobachterNatur: Sie sind der Pausenclown?
Nehberg: Jaaa! Genau.

BeobachterNatur: Keine besonders schmeichelhafte Rolle.
Nehberg: Das stört mich überhaupt nicht. Über Clownerien bekomme ich meine Themen recht gut verbraten.

BeobachterNatur: Das TV-«Dschungelcamp» haben Sie aber abblitzen lassen.
Nehberg: Das ist die totale Verarschung. Null Risiko und alles künstlich – sogar der Teich ist mit Plastikfolie ausgelegt.

Auf seinem Grundstück in der Nähe von Hamburg hat Rüdiger Nehberg sein eigenes Dschungelcamp angelegt – «Torten-Rudis Torture Training Trail». Hier führte er bis vor elf Jahren Survival-Trainings durch. Heute zeugen nur noch ein Haufen zerschlagener Feuersteine, ein paar halb vermoderte Hochsitze und mit Algen begrünte Seilkonstruktionen davon. Vorturnen liegt nicht mehr drin: Nehberg hat ein künstliches Kniegelenk, darum einen schleppenden Gang, und auch das Herz macht nicht mehr richtig mit.

BeobachterNatur: Denken Sie manchmal mit Wehmut zurück?
Nehberg: Ja, den Blauen Nil würde ich gerne noch mal sehen. Aber das könnte ich höchstens dann, wenn mich jemand als Gepäck mitnähme.

BeobachterNatur: Wie gehen Sie mit diesem Gefühl um?
Nehberg: Vorwärtsblicken. Mekka will ich noch erleben. Vorher gebe ich den Löffel nicht ab.

Derzeit sind 14 Bücher von Rüdiger Nehberg auf dem Markt, erschienen bei Piper und beim Malik-Verlag. Insgesamt haben sich seine Titel über 600'000-mal verkauft. Die Top 3 sind «Survival-Lexikon», «Überleben ums Verrecken» und «Medizin Survival».