«Ein Jahr lang soll ich unserer Tochter täglich Alkohol verabreichen?» D.S. aus Wil ist entsetzt, als er den Beipackzettel liest. Den frisch gebackenen Eltern wurden für ihr Neugeborenes die in der Schweiz gängigen Vi-Dé-3-Tropfen verschrieben. Diese sollen das Vitamin D ersetzen, das der Organismus der Babys noch nicht selber produzieren kann. Ein wichtiges Medikament, das die kleinen Körper und Zähne für ein gesundes Wachstum brauchen. Aber auch eines von vielen, das Alkohol enthält.

Ist das Internet der bessere Arzt?
S. und seine Frau sind verunsichert. Gesundheitsschäden oder eine spätere Suchtgefährdung ihres Kindes wollen sie nicht riskieren. Die Mütterberatung empfiehlt Oleovit-D3-Tropfen: gleiche Wirkung, doch statt Alkohol enthalten sie Öl. «Eine gute Alternative», bestätigt Jochen Mack, Leiter des Pharmazeutischen Dienstes der Zürcher Uni-Kinderklinik, «wenn Oleovit-D3-Tropfen in der Schweiz zugelassen wären. Doch auch die Alkoholkonzentration in den Vi-Dé-Tropfen ist so gering, dass sicher keine Beeinträchtigungen bei Säuglingen entstehen.»

Wenn es um ihr Kind geht, ist den meisten Eltern das Beste gerade gut genug. Immer häufiger wollen Väter und Mütter auch im Bereich Gesundheit nicht mehr blind vertrauen. Werden sie in Praxen nicht ausführlich beraten, halten sie sich ans Internet mit seiner ungefilterten Informationsfülle. Schnell wird im Wirrwarr des Halbwissens der Durchblick getrübt. Pharmazeut Mack ermutigt dennoch: «Nachfragen lohnt sich immer. Wo Eltern kritisch nachhaken, steigt der Druck auf Ärzte, Apotheken und Pharmaindustrie, besser zu informieren und Neues zu entwickeln.»

Und das sei nötig, so Mack, immerhin bestehe ein wichtiger Teil seiner Arbeit darin, im Ausland Ersatz für Kindermedikamente zu finden, die auf dem begrenzten Schweizer Markt nicht oder nicht mehr zu haben sind. Auch die von der Familie S. bevorzugten Oleovit-D3-Tropfen stammen aus Österreich. «Allerdings kann jeder Schweizer Arzt diese Tropfen verordnen, jede Apotheke diese besorgen», so Mack. Der Arzt müsse dafür aber pro Patient ein Gesuch bei der Schweizer Arzneimittelbehörde Swissmedic stellen.

Die Pharmabranche tut sich schwer
«Nicht nur, dass es täglich weniger Präparate für Kinder gibt», bestätigt Karin Käser, Apothekerin beim Pharmazeutischen Dienst der Zürcher Uni-Kinderklinik, «auch die zur Verfügung stehenden Formen, besonders Tropfen oder Säfte, werden immer mehr eingeschränkt. Die sind aber bei der Behandlung von Kindern besonders wichtig.» Gründe gibt es viele. Medikamente, die wegen mangelnder Nachfrage nicht mehr rentieren, werden hierzulande vom Markt genommen. Zudem sind Neuentwicklungen von Arzneimitteln für Kinder für die Pharmaunternehmen sehr aufwändig und kostspielig. Europäische Studien zeigen, dass nur rund 20 Prozent der Medikamente auf dem Markt auch für kleine Patienten zugelassen sind. Verschrieben werden viel mehr.

Die Schweizer Arzneimittelbehörde Swissmedic weiss um den Missstand und ist vor zwei Jahren aktiv geworden: «Wir haben eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die derzeit einen Massnahmenkatalog definiert», sagt Sprecherin Monique Helfer.

Damit sollen pharmazeutische Unternehmen zu einer grösseren Arzneimittelsicherheit für Kinder motiviert werden.


Zuwendung ist die beste Pille
Müssen Eltern bis dahin befürchten, ihren Kindern Schaden zuzufügen, wenn sie den Ärzten vertrauen? «Nein», sagt Apothekerin Käser. «Die meisten verschriebenen Hustensäfte, Fieberzäpfchen oder Antibiotika sind getestet und für Kinder explizit zugelassen.» Wenn nicht, heisse das nur, dass sie in der Schweiz nicht für Kinder registriert seien. «Oft haben wir aber Zulassungsunterlagen aus dem Ausland, Studien und Erfahrungswerte, um die Dosierung anzupassen. Doch in der Schweiz nicht registrierte Heilmittel dürfen nur mit Swissmedic-Bewilligung eingesetzt werden.»

Eine Hausapotheke speziell für Kinder hat auch Bettina Ehlers – für Notfälle. Die Lehrerin und Mutter dreier Kinder geht bewusst mit Medikamenten um. Wenn der Bauch schmerzt, die Nase läuft oder die Kleinen erbrechen, greift sie erst zu Hausmitteln, brüht Tee, legt Wickel auf oder verabreicht homöopathische Kügelchen. «Ganz wichtig ist die Zuwendung», sagt sie. Sind die Beschwerden nach ein, zwei Tagen nicht gelindert, geht die Luzernerin zum Kinderarzt oder noch lieber erst zur Apotheke. «Dort werde ich oft breiter beraten und auch auf Alternativen aufmerksam gemacht, die nicht nur aus der Schulmedizin stammen.»

Was Hänschen lernt, tut Hans auch


Fachleute raten: lieber informieren statt basteln. Denn nicht alle Kinder sind gleich. Vor allem sind sie keine kleinen Erwachsenen. Schon ein Wirkstoff, der einem Zweijährigen hilft, kann einem zwei Monate alten Säugling das Leben kosten. Deshalb: Hände weg von eigenmächtigen Dosierungen! Das gilt auch für Naturheilmittel. «Ob Chemie oder Pflanzen, der verwendete Wirkstoff ist derselbe und kann Nebenwirkungen erzeugen. Ausserdem enthalten auch pflanzliche Tropfen oft Alkohol», erläutert Pharmazeut Jochen Mack.

«Der Umgang mit Arzneimitteln in jungen Jahren prägt auch die Einstellung zu Arzneimitteln im späteren Leben», ruft der deutsche Arzneimittelexperte Gerd Glaeske ins Bewusstsein. Daran denken viele Erwachsene kaum. Kinder lernen rasch: Wenn Mami zur Tablette greift, ist das Kopfweh weg, die Laune besser. Weshalb soll der Sohnemann es anders machen, wenn das Vorbild Papa lieber Vitamintabletten schluckt, als in einen Apfel zu beissen? Gespeichert bleibt: Medikamente sind eine rasch konsumierbare Lebenshilfe.

«Eltern sollten ihre Kinder darin stärken, dass diese auf ihre eigenen Kräfte vertrauen», meint Helen Stierlin von Pinocchio, der Zürcher Beratungsstelle für Eltern und Kinder. Wie sollen sie glauben, auch selber einschlafen zu können, wenn wir ihnen sofort «Schlafsäfte» geben? Wie im Teenageralter Konflikte bewältigen, wenn sie gelernt haben, dass es mit Hilfsmitteln vermeintlich einfacher geht? Die Beschwerden von Kindern müssten ernst genommen werden, so die Psychologin. Aber wenn das Kind an «Schul-Bauchweh» leidet oder Kopfschmerzen hat, muss das keine rein körperliche Ursache haben. «Mit dem Kind reden und spüren, wo der Keim der Schmerzen liegt, ist oft genauso wichtig wie eine medizinische Abklärung.»

 

  • Kindern nie eigenständig Medikamente verabreichen. Immer im Beipackzettel nachlesen, ob die Medikamente für Kinder zugelassen sind oder nicht. Die Dosierung immer mit einer Fachperson absprechen.
     
  • Verzichten Sie wenn möglich auf Kombinationspräparate. Medikamente mit nur einem Wirkstoff sind überschaubarer.
     
  • Vorsicht bei Salben. Kinderhaut ist empfindlicher als die von Erwachsenen. Salben nur gezielt auf eine kleine Fläche auftragen. Ätherische Öle wie Menthol und Kampfer in Erkältungssalben sind für kleinere Kinder zu scharf und können Atemnot auslösen.
     
  • Nicht sofort zum starken Medikament greifen. Die Zürcher Berg-Apotheke empfiehlt bei Bronchialhusten und zähem Schleim Bibernellhonig. Bei hartnäckigem Husten helfen Kartoffel-Brustwickel. Fieber senkt man mit Essigsocken. Für kleine Kinder eignen sich bei Schlafstörungen Tees aus Gold- oder Zitronenmelisse, Orangenblüten oder Passionsblumen.