Milan Gabriel Kovacs sitzt entspannt da, bequeme Klamotten, Amulett um den Hals, modisches Bärtchen. Um ihn Bilder mit blauen Kreisen und gelben Spiralen, Kerzen, Glöckchen – ein Zentrum für Spiritualität in Bern, hier besucht er Kurse.

Milan, 23, gelernter Landschaftsgärtner, Hippie. Mit 16 tanzt er an Goa-Festivals, ist mit Trommeln unterwegs und sitzt in Schwitzhütten; bewusstseinserweiternde Substanzen sind nie weit weg. Mit 19 reist er nach Indien und Nepal, auf der Suche nach Freiheit und einem intensiv gelebten Leben. Yoga und Meditation statt Drogen, Tabak und Alkohol. Er realisiert: «Freiheit existiert in uns. Wir sollten sie nicht im Aussen suchen.»

Zurück in der Schweiz, will er weitergeben, was er gelernt hat. Er sagt: «Wir sollten unsere Talente finden und entwickeln und uns gehenlassen können.» Etwa am nächsten Schweizer Regenbogentreffen. Ab Mitte August treffen sich Hippies für vier Wochen in der Natur. Wo genau, erfährt man nur über Eingeweihte. Milan geht hin, weil er sich dort aufgehoben fühlt, getragen «vom Geist des Miteinander». Tipis und Lagerfeuer, singen, musizieren, diskutieren über das Leben, alternative Schulmodelle oder offene Beziehungen ohne negative Gefühle. Naturverbundenheit, Gemeinsamkeit, Spiritualität, eine bessere Welt: Darum geht es.

Es begann in Kalifornien

Rückblende: Vor 50 Jahren, am 7. August 1965, lädt Ken Kesey, Autor des Bestsellers «Einer flog über das Kuckucksnest», auf seine Farm im kalifornischen La Honda. Es kommen Dichter, Musiker und junge Leute, denen der konsumorientierte Lebensstil jener Zeit zu eng ist – mit von der Partie ist eine Band, die unter dem Namen Grateful Dead weltberühmt werden wird.

Nach dem zweitägigen Fest mit viel LSD setzt sich ein Teil der Besucher – ein Grüppchen, das sich «The Merry Pranksters» nennt – in einen bunt bemalten Schulbus und beginnt, die Botschaft von Frieden, Liebe und Drogen in die Welt hinauszutragen. Die Jugendbewegung der Blumenkinder treibt erste Blüten; in den Jahren darauf fühlen sich junge Menschen in der ganzen westlichen Welt vom nonkonformistischen Lebensstil angesprochen

«Ich glaube, jeder Mensch wünscht sich, wie eine Blüte aufzugehen.»

Angela von Rotz, Yogalehrerin

Wobei die Hippiebewegung zu grossen Teilen apolitisch ist – zumindest in dem Sinne, dass sie den Ansatzpunkt für Veränderung nicht zuerst in staatlichen oder wirtschaftlichen Strukturen oder Systemen sieht, sondern vor allem beim Menschen, der sich wandeln soll. Es geht um die Einzigartigkeit des Individuums, um Selbsterkennung und Selbstverantwortung. Historiker sehen darin Parallelen zu den Romantikern und den Lebensreformern, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts – auch am Monte Verità im Tessin – ökologische Landwirtschaft betreiben, Yoga und Naturheilkunde praktizieren und in der Gruppe Spiritualität suchen.

Für Milan, der im Emmental mit Freunden in einem Haus wohnt und den Winter mit Projekten wie Musizieren verbringen möchte, ist klar: «Hätte ich in den sechziger Jahren gelebt, ich hätte mich nicht aufhalten lassen, dieses grosse Miteinander zu leben: diese Intensität und Aufregung, die Möglichkeit, gemeinsam etwas zu verändern.» 

Die Hippies vom Verein Wandellust

Artemi Egorov kann das Gefühl nachvollziehen: «Die Hippies der Sechziger haben gute Vorarbeit geleistet», sagt der 26-Jährige. «Vieles, wofür sie sich damals eingesetzt haben, ist heute Normalität – etwa dass es neben der Ehe andere Formen der Partnerschaft gibt.» Darauf lasse sich aufbauen.

Er lernte beim Schamanen, Gefühle zu kanalisieren: Ingenieur Artemi Egorov

Quelle: Daniel Ammann

Artemi hat an der ETH Maschinenbau studiert. Vor kurzem hängte er seinen Job in der Forschung an den Nagel. Er sitzt auf der Festbank im Garten des alten Kirchgemeindehauses Neumünster in Zürich, schwarzer Lockenkopf, weisses Hemd mit feinem blauem Blumenmuster, aufmerksamer Blick. Er und seine Freunde vom Verein Wandellust dürfen das Gebäude in den nächsten zwei Jahren zwischennutzen. Ihr Ziel: eine Plattform schaffen für Menschen, die sich für eine zukunftsfähige Wirtschaft und Gesellschaft einsetzen.

«Es gibt viele kleine Projekte für eine nachhaltige Zukunft, aber niemand hat den Überblick», sagt der Ingenieur, der in einer WG mit sechs Freunden wohnt und Gemüse im Gemeinschaftsgarten zieht. 

«Jeder kann sich anschliessen»

«Die Projekte bleiben in ihren Nischen und haben nur beschränkt Wirkung», analysiert Artemi und verweist auf den «tipping point», den Moment des Umbruchs, sobald die kritische Masse erreicht ist. Vom Aussteigen aus der Gesellschaft hält er wenig, im Gegenteil: Er will integrieren. «Ich glaube, wir sind konstruktiver als die Hippies von damals. Wir sind keine Gegenbewegung, sondern versuchen, parallel zum Bestehenden einen alternativen Lebensstil aufzuzeigen, dem sich jeder anschliessen kann.» Farbig und laut – aber unaufdringlich, so stellt sich das der Zürcher aus bürgerlichem Hause vor. Missionieren liegt ihm fern.

Maximale Resonanz erreiche man durch innere Motivation, ist er überzeugt. Er bricht einen Apfel entzwei, beisst in die eine Hälfte und legt die zweite auf den Tisch. Sagt: «Steve Jobs war nur so motivierend, weil er sein Ding durchzog.» Das würden die heutigen Hippies ebenfalls versuchen, nach dem Motto: «Tu Gutes und sprich darüber.» Wenn dazu die neuste Technologie dienlich ist, setzt Artemi sie ein. Auf seinen Apple-Laptop würde er nicht verzichten. Zementierte Prinzipien mag er nicht: Wenn er «sehr selten» Lust auf ein Stück Fleisch verspüre, höre er auf seinen Körper.

«Räum deine Gefühle auf!»

Authentizität ist ein Schlüsselwort – und daran arbeitet der junge Mann. Er liest Bücher über Selbstmanagement und Neuropsychologie, in einem Schamanen-Workshop liess er sich beibringen, wie er Gefühle kanalisieren kann. Bewusst leben heisst für ihn auch, einen bewussten Umgang mit Suchtmitteln zu haben: «Ein Glas Rotwein vor dem Auftritt mit der Band tut mir gut – zwei sind schlecht.»

Ob Liebe die Lösung für alle Probleme ist? Artemi Egorov überlegt. «Eigentlich ja», sagt er dann, sein Blick fällt auf den Apfel, über den eine Ameise krabbelt. Er hält seinen Finger hin und setzt das Tier auf der Sitzbank ab. «Wenn alle Gefühle draussen sind, bleibt oft Zuneigung, Liebe», sagt er und lacht: «Aber als Ratschlag ist ‹Liebe gleich Lösung› natürlich völlig unbrauchbar. ‹Räum mal deine Gefühle auf› wäre hilfreicher.»

Sie wohnt im Zirkuswagen und fühlt sich den frühen Aussteigern nahe: Yogalehrerin Angela von Rotz

Quelle: Daniel Ammann

Angela von Rotz hat die Kapuze ihrer Jacke hochgezogen und steht barfuss vor ihrem Daheim im Appenzellerland. Ein Hügel ob Trogen, Blick auf den Bodensee. Dunkle Tannen, grüne Wiesen im Sonnenschein. «Glück und Verbundenheit mit der Natur, darum geht es – wie schon damals bei den Hippies», sagt die 29-Jährige.

Sie wohnt in einem ehemaligen Zirkuswagen, dessen Fenster nicht ganz dicht sind. Der Strom für den alten Toaster, die Lampe und die kleine Musikanlage kommt vom Nachbarhaus, wo Freunde mit ihren Kindern wohnen. Bei ihnen darf die junge Frau auch die Toilette und die Dusche benutzen.

«Alltagstrott macht mich krank»

Sie war 15, als sie von daheim wegging. Im Sommer wohnte sie im Wohnwagen, im Winter zog sie in die Ferne. Nach zwei abgebrochenen Lehren wusste Angela: «Es ist, wie Dodo Hug in ihrem Lied ‹I ma nümm› singt – Alltagstrott macht mich krank.» Heute arbeitet sie als Masseurin, gibt Yoga- und Pilates-Stunden und realisiert Tanzprojekte. «Daraus ziehe ich unglaubliche Energie, auch wenn die Arbeitstage in letzter Zeit häufig zwölf Stunden und länger dauerten.»

Ihr Daheim ist längst wintertauglich: Eine dicke Bettdecke, ein kleiner Holzofen, eine Mini-Elektroheizung, die vor dem Aufstehen automatisch angeht, helfen gegen die Kälte. «Ja, ich nutze die Heizung, aber ich brauche ja sonst nicht viel», sagt sie. Ein kleiner Gasherd, ein Brünneli, ein Tischchen. Draussen steht das Elektrovelo, das sie den Berg hochbringt.

So habe sie die maximale Freiheit, könne jederzeit die Zelte abbrechen. Wie jetzt im Sommer. Sie kehrt ihrem Wohnwagen für zwei Monate den Rücken. Angela geht nach Ibiza und nach Italien tanzen. Butoh. Der japanische Ausdruckstanz soll das Innerste, das «Finstere» nach aussen kehren. Zuckende Bewegungen als Reaktion auf Gefühle und auf die Umgebung.

Die junge Frau fühlt sich den Hippies so nah wie den Lebensreformern des Monte Verità im Tessin. Unter freier Liebe versteht sie die Suche nach neuen Formen für eine befriedigende Partnerschaft. «Eine schöne Idee – aber die Umsetzung gestaltet sich oft schwierig.» Drogen hat sie ausprobiert, merkte dann, «dass sie mir Kraft nehmen statt geben». In der heutigen Hippieszene seien sie weiterhin verbreitet – an Wochenenden, in der Natur. Sie ist auf eine andere Art bewusstseinserweiternder Substanzen umgestiegen: ihre körpereigenen. «Durch Tanz, Gesang und Meditation versetze ich mich in einen tranceartigen Zustand.»

«Das Glück weitergeben»

Doch der Hippiefrau geht es nicht nur darum, selbst glücklich und erfüllt zu leben. «Ich will die Welt verändern, klar», sagt sie und lächelt sanft. Das heisst für sie nicht, in die Politik einzusteigen oder andere mit ihren Ideen und Vorstellungen stundenlang zuzutexten. «Ich glaube, jeder Mensch wünscht sich, wie eine Blüte aufzugehen», sagt sie.

Sie spricht von der Einzigartigkeit jedes Individuums, die die Hippies der sechziger Jahre zelebrierten und für die sie Ausdrucksformen in Kunst und Tanz suchten. Während ihrer Massagen und Pilates-Stunden, sagt Angela, könne sie durch ihre Zufriedenheit bei anderen etwas auslösen. «Die Menschen gehen und geben das Glück ihrerseits weiter.» Toleranz ist ihr wichtig: Wenn jemand zum Glücklichsein jeden Tag ein Steak braucht, «halleluja, soll er es haben», sagt sie, die selbst kein Fleisch isst. Und fügt an: «Ich möchte jedem den Raum geben, den er braucht. Aber manchmal stosse ich an Grenzen. Manchmal möchte ich die Leute schütteln und ihnen zurufen: ‹Tu etwas, wenn du unglücklich bist!›»