Der «Fall Suter» sorgte für Schlagzeilen: Der Hilfsarbeiter Ernst Suter aus Dürnten ZH reichte jahrelang keine Steuererklärung ein. Deshalb schätzte ihn das Steueramt immer höher ein – zuletzt hätte er über 120'000 Franken zahlen müssen. «Der Papierkram wuchs mir über den Kopf», sagt Suter. «Ich habe einfach immer alles zur Seite gelegt.» Aus Scham versteckte er seine Lese- und Schreibschwäche jahrelang. «Am schlimmsten ist das Schreiben. Ich kriege keinen Satz ohne Fehler hin.» Deshalb erhob er auch nie Einsprache gegen die Steuereinschätzungen.

Zum Glück lenkte die Gemeinde auf Druck des Beobachters und Suters Treuhänderin ein. Nun muss er wenigstens nicht Konkurs anmelden.

Mitschüler machten dumme Sprüche

Ernst Suters Ärger mit den Buchstaben fing schon früh an, bereits in der zweiten Klasse wurde bei ihm Legasthenie, eine Lese- und Schreibstörung, festgestellt. In der Schule wurde ihm nicht genug geholfen. «Die Lehrer haben meine Diktate gar nicht mehr korrigiert, weil ich so viele Fehler gemacht habe», erinnert er sich. Dumme Sprüche der Mitschüler kamen hinzu. Suter fiel durch die Maschen und konnte nach den obligatorischen neun Schuljahren kaum lesen, geschweige denn schreiben.

Trotzdem schaffte er eine Lehre als Landwirt. Danach fand er seine Jobs auf persönlichem Weg: «Ich meldete mich telefonisch oder ging einfach beim Arbeitgeber vorbei. Das klappte alles ohne Schreiben.» Erst die Steuern wurden ihm zum Verhängnis.

«Das ist ein Skandal», sagt Elisabeth Derisiotis von der Stiftung für Alphabetisierung und Grundbildung Schweiz (SAGS).

«Es gibt aber noch viele Herr Suters hierzulande.»

Elisabeth Derisiotis

Rund 800'000 Personen in der Schweiz können einen einfachen Text nicht richtig lesen und verstehen, besagt eine Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) von 2006. Das ist etwa jeder zehnte Bewohner des Landes. Etwa die Hälfte davon sind ausländischer Herkunft. Man spricht von Illettrismus, früher auch funktionaler Analphabetismus genannt. Und jedes Jahr kommen ein paar tausend Schülerinnen und Schüler dazu – sie verlassen die Schule, ohne richtig lesen und schreiben zu können.

Das hat gravierende Folgen: Illettrismus führt zu prekären Anstellungsverhältnissen und zu Arbeitslosigkeit. Denn Jobs, bei denen keine Schreibkenntnisse nötig sind, gibt es praktisch nicht mehr.

Leseschwäche kostet 1,1 Milliarden

Nicolas Füzesi erteilt seit elf Jahren Lese- und Schreibkurse für Illettristen. Er ist Doktor der Philosophie und Leiter Sprachen und Grundbildung an der Volkshochschule beider Basel. Er stellt fest, dass in letzter Zeit vermehrt Jugendliche zwischen 16 und 22 Jahren das Kursangebot nutzen. «Der Zuwachs ist hoch, das ist alarmierend», so Füzesi. Es handle sich schliesslich um Schulabgänger.

Wer Lesen und Schreiben in der Schule nicht automatisiert hat, kriegt später Probleme. «Oft hapert es beim Textverständnis, das wird offensichtlich in der Schule zu wenig geübt», sagt Füzesi. Aber das wolle niemand hören, die Gelder würden für anderes gesprochen. «Es ist eine Frage des Willens – die Schule steht in der Verantwortung.» Die Bevölkerung müsse noch mehr sensibilisiert werden.

«So weit darf es doch in der Schweiz gar nicht kommen.»

Elisabeth Derisiotis, Geschäftsführerin Stiftung für Alphabetisierung und Grundbildung Schweiz

Schliesslich sind auch die volkswirtschaftlichen Folgekosten des Illettrismus enorm: 1,1 Milliarden Franken Ausgaben in der Arbeitslosenversicherung sind auf Leseschwäche zurückzuführen – 18 Prozent der Gesamtkosten. Das zeigt eine Studie des Bundesamts für Statistik aus dem Jahr 2007.

Sich durchschummeln wie Ernst Suter sei ein gängiges Muster bei Illettristen, sagt Elisabeth Derisiotis, «aber so weit darf es doch in der Schweiz gar nicht kommen». Dass man trotz Schulbesuch faktisch ein Analphabet sei. Das Thema sei immer noch ein Tabu und werde wie eine heisse Kartoffel hin und her geschoben: «Was nicht sein darf, kann nicht sein.» Dabei nimmt die Anzahl Betroffener zu, sagt Derisiotis. «Es ist die Pflicht der Behörden, hier endlich zu handeln.»

Wer hilft bei Lese- und Schreibschwäche?

Erwachsene, die nicht genügend lesen und schreiben können, würden einfach ihrem Schicksal überlassen. «Es fehlt eine Instanz, an die man sich wenden kann», sagt Derisiotis. Deshalb hat die Stiftung SAGS im Januar 2017 das Beratungstelefon Alpha-Telefon lanciert. Hier können sich Betroffene, Angehörige, Arbeitgeber oder Freunde und Kollegen wenden – auch anonym. «Anonymität ist ganz wichtig. Schliesslich braucht es viel Überwindung, sich jemandem anzuvertrauen.» 

Ein anderes Angebot ist eine Hotline des Schweizerischen Dachverbands Lesen und Schreiben für Menschen, die lesen und schreiben lernen wollen. Dort würden aber nur die eigenen Kurse vermittelt – es werde nicht umfassend beraten, kritisiert Derisiotis.

Im Fall von Ernst Suter hat sich nun ein Nachbar bereit erklärt, ihm das Schreiben beizubringen. Eine gute Sache, findet Suter. Nur: «Hätte ich früher Hilfe geholt und hätte man mir früher geholfen, wäre das alles nicht passiert.»

Im Umgang mit Illettrismus ist Fingerspitzengefühl gefragt

Um herauszufinden, ob jemand von Illettrismus betroffen ist, ist ein offenes Gespräch nötig. Überlegen Sie sich im Voraus, wie und wann Sie die Person ansprechen wollen – und mögliche Reaktionen. Es eignen sich neutrale Sätze als Einstieg. Zum Beispiel: «Das ist schon wahnsinnig, was man heute alles wissen und aufschreiben muss.» Oder: «Viele haben heute Mühe mit dem Papierkrieg. Es soll sogar Kurse geben, um das ‹moderne› Lesen und Schreiben neu zu lernen.» Warten Sie die Reaktion ab und hören Sie aktiv zu.

Vielleicht geht der Betroffene nicht beim ersten Mal auf ein Gespräch ein. Signalisieren Sie Bereitschaft zu weiteren Gesprächen – setzen Sie den anderen nicht unter Druck. Für ein «Outing» auch gegenüber einer Vertrauensperson braucht es viel. Einige Betroffene haben sich ihre Schwierigkeiten schon eingestanden, andere noch nicht. Wieder andere sind auf der Suche nach dem richtigen Angebot. Finden Sie im Gespräch heraus, in welcher Phase sich eine Person befindet. Meistens sind es Schlüsselsituationen – der Schuleintritt der Kinder, Trennung oder Verlust des Partners, Erwerbslosigkeit, Stellenwechsel, Behördenkram –, die zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen Schwäche führen.

Informationen zu Lese- und Schreibschwäche