Das neue Erwachsenenschutzrecht ist Anfang 2013 in Kraft getreten – nach 50 Jahren Revisionsbestrebungen. Es löst das Vormundschaftsrecht ab. Und es verändert die Schweizer Ämterlandschaft grundlegend. Anstelle der etwa 1400 Vormundschaftsbehörden amten neu 150 regionale Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB). Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind nicht mehr politisch gewählte Laien, sondern Fachleute aus den Bereichen Recht, Medizin und Sozialarbeit.

Umstellung verlangt den Mitarbeitern viel ab

Der Gesetzgeber setzt hohe Erwartungen in diese neue Organisationsform: Der Schutz und das Wohl hilfsbedürftiger Personen sollen professioneller angegangen werden. Noch ist das aber oft nur Wunschdenken.

Statt für die Bevölkerung da zu sein, sind die neuen Behörden damit beschäftigt, die Dossiers der abgeschafften Vormundschaftsbehörden zu kontrollieren und bestehende Massnahmen dem neuen Erwachsenenschutzrecht anzupassen. Das verlangt den Mitarbeitern einiges ab: Es gehört zur Tagesordnung, dass in den Büros bis nachts um elf das Licht brennt und die Behördenmitglieder am Wochenende im Büro statt auf dem Sonntagsspaziergang anzutreffen sind.

Das kann kein Dauerzustand sein. Johanna Gämperli, Präsidentin der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde in Rapperswil, fordert deshalb eine Überprüfung der personellen Situation: «Sonst sind Kündigungen oder gesundheitliche Folgen für die Mitarbeitenden zu befürchten» (siehe Interview). Ordnung in den Wirrwarr zu bringen ist Sache jedes einzelnen Kantons.

Im Beratungszentrum des Beobachters nehmen die Klagen zu: Wer sich an die Schutzbehörde wendet, muss lange auf einen Termin warten. Das ist nicht unproblematisch, denn jeder von uns kann in die Situation kommen, die Leistungen der KESB beanspruchen zu müssen. Das zeigt ein Blick auf das breite Spektrum der Handlungsfelder der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden.

Arbeitsbereiche der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde

Vorsorgeaufträge

Urteilsunfähige müssen nicht mehr verbeiständet werden, denn neu kann man für den Fall der eigenen Urteilsunfähigkeit vorsorgen: In einem Vorsorgeauftrag kann eine Drittperson beauftragt werden, die Personensorge, den Rechtsverkehr und die Vermögenssorge zu übernehmen. Die KESB entscheidet, wann jemand als urteilsunfähig gilt, und händigt der beauftragten Person eine Urkunde aus. Die KESB muss einschreiten, wenn die Interessen der auftraggebenden Person gefährdet oder nicht mehr gewährleistet sind.

Patientenverfügungen

Dank dem Erwachsenenschutzrecht sind Patientenverfügungen schweizweit geregelt. Wenn Ärzte eine Patientenverfügung nicht befolgen oder wenn die Interessen eines Patienten gefährdet sind, ruft das die KESB auf den Plan.

Vertretungsrecht

Ehegatten und eingetragene Partner haben neuerdings ein gesetzliches Vertretungsrecht für die urteilsunfähigen Partner. «Bestehen Zweifel, ob die Voraussetzungen für eine Vertretung erfüllt sind, so entscheidet die Erwachsenenschutzbehörde über das Vertretungsrecht und händigt gegebenenfalls dem Ehegatten, der eingetragenen Partnerin oder dem eingetragenen Partner eine Urkunde aus, welche die Befugnisse wiedergibt», heisst es im Gesetz.

Beistandschaften

Vormundschaften für Erwachsene sind Geschichte, es gibt nur noch Beistandschaften. Es kann sich aber niemand selbst als Beistand für eine andere Person einsetzen, das kann nur die KESB: Die Behörde ordnet Beistandschaften an und hebt sie wieder auf, wenn es keine Gründe mehr gibt, solche fortzuführen. Die KESB ist auch zuständig für Beschwerden gegen Beistände und wird aktiv, wenn sie Meldung erhält, dass eine Person auf Hilfe und Unterstützung angewiesen ist.

Heimaufenthalt

Urteilsunfähige in Heimen sind dank dem neuen Recht geschützt. Ist der Schutz nicht gewährleistet, muss die KESB einschreiten.

Psychiatrie

Wer gegen seinen Willen in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird, hat im neuen System mehr Rechte als früher. Die KESB kann eine Einweisung nicht nur veranlassen, sie ist auch zuständig, wenn es Probleme in der Klinik gibt.

Kindesschutz

Wie es der Name sagt, hat die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde nicht nur mit Erwachsenen zu tun: Ist das Kindswohl gefährdet, kann sie Eltern die Obhut oder das Sorgerecht entziehen, ihnen Weisungen erteilen und einen Beistand oder einen Vormund für das Kind bestimmen. Zudem genehmigt sie Unterhaltsverträge für unehelich geborene Kinder und kann mit dem Einverständnis beider Elternteile die Unterhaltsbeiträge neu festlegen.

Beistand und Behörde: Wer tut was?

  • Wird eine Beistandschaft errichtet, umschreibt die Erwachsenenschutzbehörde, was der Beistand zu tun hat. Dann zieht sich die Behörde zurück – bei der konkreten Umsetzung steht die Person des Beistands im Vordergrund. Mindestens alle zwei Jahre überprüft die Behörde seine Tätigkeit und entscheidet, ob die Massnahme noch nötig ist.

  • Beistände sind nicht Mitglied der Behörde und arbeiten in aller Regel auch nicht in deren Räumlichkeiten, sondern meist auf einem Sozialdienst oder auf Berufsbeistandschaften, wie man die ehemaligen Amtsvormundschaften nennt. Daneben gibt es Privatbeistände, die ihre Aufgaben von zu Hause aus erledigen. Beistände geben sich ihre Aufträge nicht selbst. Sie müssen sich auf die Aufgaben beschränken, die ihnen von der Behörde erteilt wurden, sind also Auftragnehmer der Behörde. In der Regel sind sie die direkten Ansprechpersonen der Verbeiständeten, denn das Gesetz verpflichtet sie dazu, zu den betreuten Personen ein Vertrauensverhältnis aufzubauen und mit ihnen in direktem Kontakt zu stehen.

Johanna Gämperli, 55, Juristin und ehemalige Psychiatrieschwester, ist Präsidentin der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde in Rapperswil-Jona. Die Behörde mit elf Mitarbeitern ist zuständig für die Dossiers von rund 1000 Personen in einem Einzugsgebiet von 62'000 Einwohnern und arbeitet mit rund 120 privaten und beruflichen Beiständen zusammen. (Foto: Carole Fleischmann)

Quelle: Thinkstock Kollektion
Johanna Gämperli: «Das neue Recht wird dem Einzelnen gerechter»

Wie arbeiten die neuen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden? Johanna Gämperli, Präsidentin der KESB in Rapperswil-Jona, gewährt nach einem halben Jahr Praxis einen Einblick. 

Beobachter: In Ihren Büros stehen Aktenschränke und Gesetzbücher, auf den Pulten stapeln sich Berge von Papier. Fällen Sie Ihre Entscheide am Schreibtisch?
Johanna Gämperli: Nein, am Besprechungstisch. Wenn wir von einer hilfsbedürftigen Person selbst oder von Angehörigen, Nachbarn, Kliniken, der Polizei oder anderen Behörden erfahren, dass jemand gefährdet ist, laden wir die betroffene Person zu einem Erstgespräch ein oder gehen sie besuchen. Falls unsere Abklärungen ergeben, dass eine Person hilfsbedürftig ist, ergibt das natürlich administrative Arbeiten, die sehr wohl am Bürotisch erledigt werden. Vor einem Entscheid findet aber stets eine Anhörung statt – die betroffenen Personen haben also die Möglichkeit, ihre Anliegen und Sichtweisen einzubringen. Gleichzeitig werden sie über die Ergebnisse der Abklärung und die in Erwägung gezogenen Massnahmen aufgeklärt.

Beobachter: Welche Hilfe kann man in solchen Fällen von Ihrer Behörde erwarten?
Gämperli: In überschaubaren und unkomplizierten Fällen kann es genügen, wenn die Behörde das Nötige vorkehrt – beispielsweise dem Darlehensvertrag einer urteilsunfähigen Person zustimmen oder einer Drittperson den Auftrag geben, die verwahrloste Wohnung einer hilfsbedürftigen Person in Ordnung zu bringen. Nötigenfalls setzen wir aber einen Beistand ein, etwa wenn eine betagte oder psychisch kranke Person mit ihren finanziellen Angelegenheiten überfordert ist oder wenn Eltern nicht in der Lage sind, genügend für ihre Kinder zu sorgen. In besonderen Fällen kann die Behörde die Unterbringung einer Person in einer psychiatrischen Klinik oder in einem Heim anordnen.

Beobachter: Die wenigsten werden erfreut sein, wenn sich die Behörde in ihr Leben einmischt.
Gämperli: Die Mehrheit der Leute empfindet unsere Tätigkeit nicht als Einmischung. Viele sind sogar froh, wenn wir tätig werden und ihnen einen Beistand zur Seite stellen.

Beobachter: Und die anderen?
Gämperli: Wer mit uns in Kontakt kommt, hat Rechte und Pflichten. Das Gesetz schreibt uns vor, die Klienten darüber zu informieren: Wer mit unseren Entscheiden nicht einverstanden ist, kann Beschwerde vor Gericht erheben. Das Gericht wird den Fall überprüfen und einen unabhängigen Entscheid fällen.

Beobachter: Das neue Recht ist ein gutes halbes Jahr alt. Bewährt es sich?
Gämperli: Das neue Recht wird dem Einzelnen gerechter. Trotzdem wird es immer ein Spannungsfeld geben zwischen dem Recht auf Selbstbestimmung und dem Bedürfnis nach Schutz und Unterstützung.