Ali Al Rubaye hat eine lange Odyssee hinter sich. Eine gefährliche Flucht übers Meer. Jetzt ist er in Wabern BE, schaut zum grossen weissen Gebäude des Staatssekretariats für Migration und schluckt. Die nächsten Stunden werden über sein Schicksal entscheiden. 

Es ist Mitte August 2015. Der 29-jährige Iraker hat alles dabei, was er für die Anhörung zu seinen Asylgründen benötigt. Seine ID. Den Drohbrief einer schiitischen Miliz. Zeugnisse seiner Folterung. Auf Bildern und Videos, aber auch auf seinem Körper. Eine tiefe Narbe an der Wade, kleine runde Dellen am Oberkörper. 

Der junge Mann ist eine Ausnahme. Die überwiegende Mehrheit der Asylsuchenden hat weder Beweismaterial noch Ausweispapiere dabei, nur bei rund zehn Prozent steht die Identität zweifelsfrei fest.

Ein «unlogischer» Drohbrief

Al Rubaye erhält etwa ein Jahr später den Entscheid. Er ist negativ. Der Iraker wird nicht als Flüchtling anerkannt, aber vorläufig aufgenommen. In Bagdad ist die Lage zu schlimm, man kann ihn nicht zurückschicken.

Die Beamten glauben ihm, dass er 2007 von Aufständischen gekidnappt und tagelang gefoltert wurde. Zuvor hatte er als Dolmetscher für die US-Truppen gearbeitet. «Die erlittene Entführung war gewiss schwer zu ertragen», steht im Entscheid.

Doch sie bezweifeln, dass er acht Jahre später, im Juni 2015, einen Drohbrief von einer schiitischen Miliz erhalten hat. Es sei unlogisch, dass eine so mächtige Organisation nur einen Drohbrief zustelle und ihn nicht einfach umbringen lasse, heisst es weiter. Zudem sei es «erstaunlich», dass ein Koranvers im Brief verkürzt und nicht korrekt wiedergegeben sei.

«Als ich den Drohbrief erhielt, kamen alle Erinnerungen wieder hoch, wie eine Welle.»


Ali Al Rubaye, Asylbewerber

Ali Al Rubaye hat ein gewisses Verständnis für den Entscheid. Zu oft hat er gehört, wie andere Asylbewerber im Flüsterton per Telefon falsche Dokumente bestellt haben. «Für 100 bis 300 Dollar kann man im Irak Drohbriefe kaufen, gefälschte Haftbefehle, alles», sagt er. Er weiss auch von mehreren, die bei der Anhörung die Unwahrheit gesagt haben, um Asyl zu erhalten. Doch er ist enttäuscht, dass ihn das Amt als Lügner darstellt: «Ich kann alles erklären», sagt er. «Wenn sie mir nur zuhören würden.» 

Sein Rechtsvertreter glaubt das auch. Klar wisse nur Al Rubaye, ob er die Wahrheit erzähle, sagt Dominik Löhrer von der Zürcher Beratungsstelle für Asylsuchende. «Aber er erzählt seine Geschichte so detailreich, so stringent, er hat gute Erklärungen für alle Widersprüche. Ich habe mir echt die Frage gestellt: Wenn man ihm nicht glaubt, wem dann?» Al Rubaye sagt: «Es ist eine Lotterie.»

Beweise sind Mangelware

Lotterie. Glücksspiel. Knacknuss. Diese Wörter fallen im Asylprozess regelmässig, wenn es um Glaubwürdigkeit geht. Die meisten Fluchtgeschichten würden für einen positiven Entscheid genügen. Die Asylbewerber erzählen, dass sie verfolgt werden und ihnen der Heimatstaat keinen Schutz gewähren kann. Beweise sind jedoch eine Seltenheit. Das liege in der Natur der Sache, sagt Jurist Löhrer. «Ein Staat, der im Gefängnis systematisch foltert, wird einem Gefangenen kaum einen Zettel ausstellen, dass man ihn blutig gepeitscht hat.»

Wenn Beweise fehlen, entscheiden die Beamten des Staatssekretariats für Migration (SEM), ob sie die Aussagen eines Asylbewerbers für glaubwürdig halten oder nicht. Laut dem Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR werden je nach Land 48 bis 90 Prozent der Asylentscheide rein damit begründet, ob man den Menschen geglaubt hat oder ob man an ihrer Geschichte zweifelt. In der Schweiz gehen Experten davon aus, dass gut 80 Prozent der Asylentscheide auf dem Kriterium Glaubwürdigkeit basieren. Zahlen hat das SEM nicht.

Wie arbeitet die Migrationsbehörde?

Laura Affolter von der Uni Bern kennt das SEM gut. Für ihre Doktorarbeit in Sozialanthropologie hat sie die Behörde untersucht. Wochenlang schaute sie Sachbearbeitern über die Schulter. Sie begleitete sie zu Anhörungen, machte eine dreiwöchige Ausbildung mit. Ihr Fazit: Eine der grössten Herausforderungen für die Mitarbeitenden ist es, die Glaubwürdigkeit der Aussagen zu beurteilen. 

In den Pausen während der Anhörungen sah sie oft, wie sich die Sachbearbeiter bei Kollegen absicherten. Stimmt die Geschichte, die der Asylbewerber erzählt? Ist sie glaubhaft? Viele neuere Sachbearbeiter haben sich selber als Softies bezeichnet, die noch naiv seien und zu viel glaubten. «Misstrauen gehört zum professionellen Selbstbild», sagt Affolter. «Das lernen neue Mitarbeitende schnell.»

Gewissen langjährigen Mitarbeitern werfe man dagegen Zynismus vor. Ein Angestellter nannte die ehemalige Maghreb-Sektion «Sherlock-Holmes-Sektion», so intensiv hätten sie nach Fehlern gefahndet. «Mit wenigen Ausnahmen waren sich alle Sachbearbeiter einig: Die Beurteilung hat stets etwas Subjektives. Und man entwickelt irgendwann ein Gespür dafür, ob Geschichten stimmen oder nicht», sagt Affolter.

«Misstrauen gehört zum professionellen Selbstbild. Das lernen neue Mitarbeitende schnell.»


Laura Affolter, Sozialanthropologin

Einige Lügen sind offensichtlich – etwa wenn ein Asylbewerber erzählt, sein Pass sei aus dem offenen Fenster eines Flugzeugs geflogen. In anderen Fällen orientieren sich die Beamten an der Aussagepsychologie. Sie wird auch in Gerichtsverfahren benutzt, um zum Beispiel die Glaubwürdigkeit von Kindern bei sexuellem Missbrauch zu beurteilen.

Anhand sogenannter Realkennzeichen versuchen Sachbearbeiter zu erkennen, ob jemand lügt. Wie detailliert erzählt der Asylbewerber? Gibt es Widersprüche? Schildert er seine Gefühle? Folgen die Erzählungen einer Logik? «Die Geschichte eines Asylbewerbers wirkt dann glaubhaft, wenn vor dem inneren Auge des Sachbearbeiters ein Film abläuft», sagt Affolter.

Wenn Übersetzer Fehler machen

August 2015. Ali Al Rubaye sitzt im mausgrauen Anhörungsraum, rechts der Dolmetscher, links die Hilfswerksvertreterin, vis-à-vis der Befrager. Im Hintergrund tippt ein Protokollführer. Er notiert auch, wenn Al Rubaye weint oder lacht. Das Gespräch dauert von halb zehn Uhr morgens bis sechs Uhr abends. 

Zuvor haben ihm andere Flüchtlinge geraten, was er sagen soll. Was gut ankomme. Womit er eher eine Aufenthaltsbewilligung erwirken könne. Mehrmals fragt der Anhörer nach, ob Al Rubaye wirklich keine Probleme mit der irakischen Regierung hatte. Er verneint jedes Mal. «Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, ich hätte Ja gesagt», sagt er im Nachhinein. «Aber ich wollte einfach meine Geschichte erzählen. Ich wollte nicht lügen.»

Mühe hat der junge Iraker mit dem Dolmetscher, einem Ägypter. Es gibt Verständigungsprobleme. Die arabischen Wörter für Kommunist und die islamische Glaubensrichtung Schia seien sehr ähnlich, sagt Al Rubaye. «Der Dolmetscher fragte mich immer wieder, ob ich Schia sei. Ich bin Kommunist. Ich weiss bis heute nicht, ob es korrekt übersetzt wurde.» 

Im SEM-Entscheid steht, Al Rubaye habe die Hochschule nie abgeschlossen und als Strassenwischer gearbeitet. Beides sei falsch: «Ich weiss nicht, wie das da reingekommen ist. Ich habe als Übersetzer und Salesmanager gearbeitet. Nicht als Strassenwischer.»

Ermittlungen.
Quelle: Walter Bieri/Keystone

Dolmetscher gäben nicht immer alles perfekt wieder, kritisieren Rechtsvertreter und Hilfswerke. Das wirke sich auf die Glaubhaftigkeit aus. Zwar sei es in den letzten Jahren besser geworden, da die Anforderungen bei der Anstellung gestiegen seien, sagt Samuel Häberli, Rechtsberater der Beratungsstelle Freiplatzaktion Zürich. Dennoch höre er immer wieder von Verständigungsproblemen. «Es ist elementar, dass die Leute ausführlich über das Erlebte sprechen. Eine möglichst genaue Übersetzung ist daher enorm wichtig. Trotzdem kommt es vor, dass die Dolmetscher zusammenfassen und das den Befragern entgeht. Das Ganze ist letztlich eine Blackbox.»

Gute Gründe für Ungereimtheiten

Hilfswerke und Rechtsvertreter kritisieren auch, dass die SEM-Mitarbeiter die Kriterien zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit allzu eng auslegen. «Für einen negativen Entscheid genügen oft kleine Widersprüche. Etwa dass man in der Befragung zur Person und bei der Hauptanhörung ein anderes Datum nennt, an dem man verhaftet wurde», sagt Johanna Fuchs, Rechtsvertreterin der Beratungsstelle Freiplatzaktion Basel. 

Aus ihrer Erfahrung sei die Hälfte der Ungereimtheiten erklärbar. Etwa mit einer Traumatisierung. Oder damit, dass sich jemand, der von Kind auf auf dem Feld gearbeitet und keine Ausbildung erhalten hat, in der Anhörung nicht genau genug ausdrücken kann. Sie bemängelt auch, dass zwischen den beiden Anhörungen oft Monate oder Jahre liegen. «Das erhöht die Wahrscheinlichkeit von Widersprüchen, weil die Erinnerungen verblassen.» Ein weiteres Indiz für unglaubhafte Aussagen sind Erzählungen, die der «allgemeinen Logik» widersprechen. «Dabei werden aber oft kulturelle Unterschiede ausgeklammert.» 

Jurist Dominik Löhrer erzählt von einem jungen Afghanen, der sich unglücklich verliebt hatte. Der Vater seiner Angebeteten sei einflussreich und gefährlich gewesen und habe gedroht, ihn umzubringen. Der junge Mann floh. Im Entscheid des SEM wird dieses Verhalten als unlogisch bezeichnet: Man lasse doch die Finger von jemandem, wenn eine Liebe tödlich enden könne. «Wir in der Schweiz haben absolut keine Ahnung, wie das ist, in jemand Sackgefährlichen verschossen zu sein», widerspricht Löhrer. «Man kann nicht davon ausgehen, dass ein 18-Jähriger eine Frau einfach ignorieren kann, wenn er sich unsterblich in sie verliebt.»

Sich erinnern oder verdrängen?

In der Anhörung muss Ali Al Rubaye auch über das für ihn schwierigste Thema sprechen: die Folter. Wenn er über Details seiner Entführung spricht, verändert sich seine Körperhaltung. Er gestikuliert nervös. Sein sonst ruhiges Gesicht spannt sich an.

Im September 2007 hat ihn eine irakische Miliz gekidnappt. Man warf ihm vor, ein amerikanischer Spion zu sein. In einem Gebäude in Bagdad wurde er geschlagen, gedemütigt. Nach zwei Tagen lag er blutend in einer Gasse. «Ich hatte Kugeln im Bein und ein Messer in der Schulter», erinnert er sich. Ein Passant brachte ihn ins Spital. Noch heute hat Al Rubaye Schmerzen.

Er ist nicht der Einzige, der mit Erinnerungen zu kämpfen hat. Al Rubaye erzählt, in seinem Zimmer in der Flüchtlingsunterkunft sei ein 19-jähriger Syrer jede Nacht um 2.30 Uhr erwacht und habe nach Luft geschnappt. «Der Junge hat in seiner Heimat Hunderte sterben sehen. Die Bilder kamen immer wieder hoch. Er konnte dann nicht atmen. Ich habe ihn beruhigt und ihm Wasser gebracht.» 

«Es kommt vor, dass die Dolmetscher zusammenfassen und das den Befragern entgeht. Das Ganze ist letztlich eine Blackbox.»


Samuel Häberli, Freiplatzaktion Zürich

Al Rubaye kennt viele Flüchtlinge, die sich an gewisse schlimme Szenen nicht mehr erinnern können. Bei ihm sei das anders: «Ich kann mich noch an jede Sekunde erinnern. Ich kann nicht vergessen. Als ich den Drohbrief erhielt, kamen die Erinnerungen wieder hoch, wie eine Welle.»

90 Prozent der Flüchtlinge haben mindestens ein traumatisches Ereignis erlebt, mindestens drei von fünf haben eine posttraumatische Belastungsstörung, zeigt eine Studie von 2010. Organisationen wie Terre des Femmes kritisieren, das SEM nehme zu wenig Rücksicht auf Traumatisierungen. Opfer von Gewalt, Folter oder einer Vergewaltigung können bisweilen nur widersprüchlich und wirr über das Erlebte sprechen. «Die Erinnerungen können lückenhaft sein», sagt Matthis Schick, Oberarzt am Zürcher Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer. «Manchmal fehlen gar zentrale bedrohliche Elemente.» 

Unter Umständen bringt ein Opfer Zeit, Ort und Details der Erlebnisse durcheinander. Oder eine Frau weiss nicht mehr, wie viele Männer sie vergewaltigt haben. Die Veränderungen in der Erinnerung sind ein Diagnosekriterium für eine posttraumatische Belastungsstörung.

Viele Flüchtlinge haben zudem extrem negative Erfahrungen mit Behörden gemacht. «Die blosse Anhörung kann bei Patienten traumatische Erinnerungen an Verhör und Folter auslösen. Zudem zielt Folter darauf ab, die Betroffenen zu entwürdigen. Scham, Schuldgefühle und Ekel können so gross sein, dass es vielen Betroffenen sehr schwerfällt, ihre Erfahrungen offenzulegen», so Schick.

Die Hoffnung bleibt

Sachbearbeiter beim SEM werden im Erkennen von Traumatisierungen geschult, auch durch Schicks Ambulatorium. Fehlbeurteilungen kommen trotzdem vor. Etwa wenn ein Asylbewerber als unglaubwürdig gilt, weil niemand das Trauma erkennt, das die Widersprüche in seiner Geschichte erklären würde. «Dass das manchmal passiert, ist angesichts der Komplexität des Themas unvermeidlich, wenn man sich auf Anhörungen von nur einigen Stunden stützt», so Schick.

Asylbewerber könnten bei einem ungerechtfertigten Negativentscheid eine Beschwerde einreichen, heisst es beim SEM. Ali Al Rubaye hat das getan. Der Entscheid des Gerichts war wieder negativ. Er wird das Urteil nicht weiterziehen. Nun arbeitet er beim Brezelkönig und sieht einen Hoffnungsschimmer. «Wenn ich ein paar Jahre voll gearbeitet habe, komme ich vielleicht so zu einem B-Ausweis.»

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Matthias Pflume, Leiter Extras
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