Er ist ein Arzt, dem man möglichst lange nicht begegnen möchte. Dabei hat er Teddybäraugen, und beim Zuhören nickt er immer wieder verständnisvoll. Aber die Patienten wissen: Wenn Gian Domenico Borasio an das Spitalbett tritt, ist die Krankheit unheilbar. Der Palliativmediziner, einer der führenden Europas, behandelt Schwerstkranke am Universitätsspital Lausanne. Sein einziges Ziel: ihnen in der letzten Lebensphase die bestmögliche Lebensqualität zu schenken.

Nicht immer ist das möglich. Borasios Lächeln welkt, als er von einem 32-Jährigen mit sehr aggressivem Krebs erzählt. «Da konnte man nichts mehr heilen», sagt der Palliativmediziner. Die Chemotherapien waren erfolglos. Dennoch wollte das Onkologieteam den Kampf gegen die wuchernden Tumore nicht aufgeben. Es schlug dem Patienten ein teures Medikament vor, gerade neu zugelassen. Über 100'000 Franken sollte es die Krankenkasse kosten. Eine letzte Überlebenschance, dachte der Patient und klammerte sich an diese Hoffnung.

Fast unerträgliche Nebenwirkungen

«Die Nebenwirkungen waren horrend», sagt Borasio. Zu den Schmerzen vom Tumor kamen Durchfall, starke Übelkeit mit Erbrechen und ein heftig juckender Ausschlag. Es hätte dringend eine Kortisontherapie gebraucht, um die Beschwerden zu lindern. Doch die Onkologen lehnten dies ab: Das Kortison könne die Wirkung des Krebsmedikaments beeinträchtigen. «Der Patient starb drei Tage später», sagt Borasio. «Qualvoll.»

Die Erinnerung an diesen jungen Krebspatienten belastet den Arzt noch heute. «Ich sah die Katastrophe kommen», sagt er. «Aber ich konnte nur traurig zuschauen.» 

Solche Szenen erlebt er immer wieder. Patienten bekommen Chemotherapien, die nicht helfen, aber schwere Nebenwirkungen haben. Ärzte führen an Sterbenden Operationen durch, die das Leid nur verlängern. Todkranke werden beatmet oder künstlich ernährt, obwohl das die Lebensqualität verschlechtert. Hochbetagte Patienten erhalten täglich Chemiebomben: Dutzende Medikamente, teilweise sinnlose Antibiotikakuren. 

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«Ärzte wollen nicht quälen. Aber sie vergessen, dass auch ‹liebevolles Unterlassen› möglich ist. Doch dazu braucht es manchmal mehr Mut als zum Tun.»

 

Gian Domenico Borasio, Palliativmediziner

«Enorme Spannungen im Team»

Gian Domenico Borasio schätzt, dass in der Schweiz 25 bis 30 Prozent der Patienten am Lebensende übertherapiert werden. «Die verzweifelte Hoffnung von Schwerstkranken und ihren Familien wird von der Gesundheitsindustrie instrumentalisiert – um höhere Renditen zu erzielen.» Mehr als drei Viertel der Ärzte und Pflegepersonen geriatrischer Stationen kennen sinnlose Therapien am Lebensende aus ihrem Berufsalltag, wie eine Studie der Universität Basel von 2008 zeigt. Auf der Intensivstation sind es sogar über 90 Prozent. «Das ist etwas vom Schwierigsten für uns: wenn wir eine Behandlung nicht nachvollziehen können», sagte ein Pfleger in der Umfrage. «Das führt zu enormen Spannungen im Team und ist manchmal kaum auszuhalten.»

Das wissen auch die Ärzte. Fast 90 Prozent von ihnen würden bei sich selbst auf aggressive Therapien und Wiederbelebungsmassnahmen verzichten, wie eine Umfrage in den USA zeigt. Tatsache ist, dass trotzdem viele Patienten am Lebensende aggressiv therapiert werden. Besonders ausgeprägt ist diese Tendenz bei Chirurgen, Orthopäden und Strahlentherapeuten. «In der Schweiz ist das Problem bei Krebstherapien am offensichtlichsten», sagt Guido Klaus, Gesundheitsökonom bei der Helsana.

Wichtige Fragen für Patienten und Ärzte

Patienten sollen von ihren Ärzten mehr Infos einfordern, sagt Medizinethikerin Nikola Biller-Andorno von der Uni Zürich. Medizinische Entscheidungen sollte man gemeinsam treffen. 

Wenn bei schweren Erkrankungen aggressive Therapien anstehen, sollten Patienten die Ärzte Folgendes fragen:

  • Was springt für mich im besten Fall raus, wenn ich diesen Therapieversuch unternehme?
  • Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass bei mir der beste Fall eintrifft?
  • Was kostet mich die Therapie in Bezug auf meine Lebensqualität?


Ärzten von schwerkranken Patienten empfiehlt Biller-Andorno ein Gedankenexperiment: «Welche Therapie würden Sie machen, wenn Ihre Mutter mit der gleichen Diagnose im Spitalbett liegen würde?» So könnten Ärzte abchecken, ob sie unter dem Einfluss von Faktoren stehen, die ihr Verhalten eigentlich nicht beeinflussen sollten, erklärt die Ethikerin. Diese könnten etwa die Routine in der Abteilung, übertriebener Ehrgeiz, Angst oder finanzielle Anreize sein.

Fast doppelt so viele Chemos bei Privatversicherten

Teilweise stecken finanzielle Absichten hinter der Übertherapierung. Das zeigt ein Blick auf die Schweizer Privatspitäler. Wer privat versichert ist, erhält mit doppelt so hoher Wahrscheinlichkeit eine Chemotherapie im letzten Lebensmonat. Das Problem ist aber nicht auf Privatspitäler beschränkt, sagt Margrit Kessler, Expräsidentin der Stiftung für Patientenschutz. «Wir beobachten das Phänomen auch in öffentlichen Spitälern. Solange jeder Kanton ein eigenes Gesundheitswesen hat und jedes für sich Gewinne schreiben will, wird sich das nicht ändern.»

Sterbende Patienten sind lukrativ: In der letzten Lebensphase, schätzt Palliativmediziner Borasio, fallen bis zu einem Drittel der Gesundheitskosten eines Menschen an – im Schnitt 32'500 Franken im letzten Lebensjahr.

«Das Sterben wird verdrängt»

Margrit Kessler sieht die Gründe für die Übertherapierung aber nicht nur beim Geld. «Für Ärzte ist es viel einfacher, den Patienten alle möglichen Therapien anzubieten, als mit ihnen den Tod zu besprechen. Sterben wurde aus unserer Kultur verdrängt.» 

Ärzte haben vor allem auch Angst, sagt die Luzerner Rechtsprofessorin Regina Aebi-Müller. Wenn sie nicht wüssten, was der Patient will, bestehe die Tendenz, einfach mal jede erdenkliche Therapie zu machen. So seien die Ärzte rechtlich auf der sicheren Seite. 

Auch Palliativmediziner Borasio will nicht Geldgier unterstellen. «Ärzte wollen nicht quälen», sagt er. «Aber sie reflektieren in unserer Leistungsmedizin zu wenig, was ihre Taten wirklich bedeuten. Und sie vergessen, dass auch ‹liebevolles Unterlassen› möglich ist. Dazu braucht es aber manchmal mehr Mut als zum Tun.»

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«Der sterbewillige Diabetiker begann zu schlemmen. In der Nacht wurde er bewusstlos. Am nächsten Tag starb er friedlich. Das ist Selbstbestimmung am Lebensende.»

 

Roland Kunz, Palliativmediziner

«Er wollte sterben, therapierte sich aber immer weiter»

Nichts zu tun kann mitunter das einzig Richtige sein, sagt Roland Kunz, Chefarzt der Universitären Klinik für Akutgeriatrie am Zürcher Waidspital. Er erinnert sich an einen Patienten mit schwerem Diabetes, der bereits blind war. Viermal täglich prüfte der Patient seinen Blutzucker. War der Wert zu hoch, spritzte er sich Insulin. War er zu tief, ass er etwas. Doch der alte Mann war lebensmüde. Er konnte seine Frau nicht mehr unterstützen, fühlte sich ermattet und leer. Der Termin bei der Sterbehilfeorganisation Exit stand schon, als er Kunz in seine Pläne einweihte.

Der Palliativmediziner setzte sich ans Bett und hakte nach. «Ich sagte ihm, dass seine Strategie für mich keinen Sinn mache», erzählt Kunz. «Einerseits wollte er sterben, anderseits therapierte er sich immer weiter, indem er seinen Zuckerspiegel so gut einstellte.» 

Der Mediziner schlug dem verdutzten Mann eine andere Lösung vor: aufhören, Insulin zu spritzen, sich in die Cafeteria setzen und alles essen, was er seit Jahrzehnten nicht mehr essen durfte. Fünf Tage liess sich das der Diabetiker durch den Kopf gehen. Dann bedankte er sich bei Kunz, setzte das Insulin ab und begann zu schlemmen. Cremeschnitten, Guetsli, Schokoküsse. «In der Nacht wurde er durch Überzuckerung bewusstlos. Am nächsten Tag starb er friedlich», erzählt Kunz. «Das nenne ich Selbstbestimmung am Lebensende.»

Patienten wollen die Folgen der Therapie nicht hören

Ein wichtiger Grund für Übertherapierung sei die schlechte Kommunikation zwischen Arzt und Patient, sagt Kunz. Mediziner hätten nicht den Mut, genau zu erklären, was die wirklichen Nutzen und Nebenwirkungen der Therapien seien. Zugleich fordern Patienten und Angehörige immer aggressivere Medikamente oder Chemotherapien, ohne wirklich zuzuhören, welches die Folgen sind. Und nach einem langen, intensiven Medizinmarathon würden sie dann klagen: «Wenn ich das schon vorher gewusst hätte, hätte ich nicht mitgemacht.»

Viele wissen nicht, wie Wiederbelebung geht

Das beste Beispiel dafür sei die Wiederbelebung. Fast alle hochbetagten Patienten von Roland Kunz hatten in ihrem Dossier angekreuzt, dass sie Wiederbelebung wünschten. Darauf startete der Arzt eine Aufklärungstour durch die Geriatriestation: «Reanimation passiert, wenn Ihr Herz stillsteht. Sie sind dann tot. Wir zerren Sie aus dem Bett, legen Sie auf den Boden, drücken auf Ihrem Brustkorb herum und brechen Ihnen ein paar Rippen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie überleben, ist sehr klein. Und wenn, dann meistens mit zusätzlichen Schäden.» 

Die Patienten seien erschrocken – das hatten sie sich nicht unter Wiederbelebung vorgestellt. Sie wollten nur nicht, dass man nichts mehr für sie tun würde. «95 Prozent haben das Kreuzchen wieder entfernt.»

«Viele Mediziner haben selber Angst vor dem Tod»

Der Palliativmediziner ist bei seinen Patienten oft der Erste, der die Wörter «Tod» und «Sterben» benützt. Und direkt fragt, wie man die letzten Monate verbringen wolle. Oft sind die Patienten enorm erleichtert, wenn sie mit jemandem über ihre tiefsten Ängste sprechen können. Wird der Tod schmerzhaft? Könnte ich ersticken? Ist es für die Angehörigen schlimm, das Sterben mitanzusehen? 

Manchmal sind auch Nebensächlichkeiten am wichtigsten. So erzählte zum Beispiel eine krebskranke Mutter Kunz, ihr einziges Ziel sei noch, sämtliche Geschenke für ihre Kinder bis zum 18. Geburtstag zu kaufen und hübsch einzupacken. «Es braucht Zeit und Bereitschaft, sich auf das Glatteis eines solchen Gesprächs zu begeben», sagt der Palliativmediziner. «Ganz viele Mediziner haben selber Angst vor dem Tod. Vielleicht üben sie auch deshalb den Beruf aus.»

Wichtigstes Anliegen steht ganz oben

Damit die Wünsche der Patientin oder des Patienten im Vordergrund stehen, hat Roland Kunz im Waidspital ein neues System eingeführt. In jedem Dossier steht als Erstes das wichtigste Anliegen des Patienten. Zum Beispiel: «Lebensqualität statt Lebensverlängerung». Dieses System gibt es erst seit einem halben Jahr. Aber Kunz ist sich sicher, dass er längerfristig Folgen sehen wird: weniger MRI, weniger unnötige Therapien und weniger Überweisungen für langwierige Abklärungen an andere Kliniken.

In den letzten fünf Jahren hat der Schweizerische Nationalfonds das Sterben in der Schweiz untersucht – mit 33 Projekten. «Der rote Faden durch alles war: Man spricht zu wenig über den Tod», sagt der Präsident der Leitungsgruppe, Markus Zimmermann von der Universität Freiburg. Als Gegenmassnahme fordert er einen Ausbau der Palliativpflege. Zimmermann ist überzeugt, so auch der Übertherapierung entgegenzuwirken: Im Fokus stehe der Erhalt der Lebensqualität, nicht die Maximaltherapie. 

Studien zeigen, dass die Palliativmedizin auch ohne aggressive Eingriffe das Leben verlängern kann. Lungenkrebskranke etwa starben im Schnitt drei Monate später, wenn sie palliativmedizinisch behandelt wurden, wie eine amerikanische Studie zeigt. Zudem sollen die Sterbenden glücklicher gewesen sein und weniger Schmerzen gehabt haben. «Bei uns ist Palliativpflege noch viel zu wenig etabliert. Mit Ausnahme von wenigen Kantonen wie Waadt und St. Gallen», sagt Zimmermann. Andere europäische Länder – etwa England und Spanien – seien da deutlich weiter.

Kostensparend, aber Verlustgeschäft

Eines der grossen Probleme ist die Finanzierung. Borasios Abteilung am Unispital Lausanne fährt jährlich ein hohes Defizit ein. «Spitalbetten sind teuer», erklärt Ex-Patientenschützerin Kessler. «Wenn man auf einer Palliativstation keine Untersuchungen und Therapien macht, die man der Krankenkasse verrechnen kann, ist das ein Verlustgeschäft.» Dabei habe die Palliativmedizin grosses Sparpotenzial. 

In Neuenburg, das ein gut ausgebildetes Spitex-Netz hat, sind die Kosten für Patienten im letzten Lebensjahr massiv tiefer als in Yverdon – weil sie nicht so oft im Spital sterben. Mobile Palliativteams seien die Zukunft, davon ist Kessler überzeugt. «Einerseits, weil es weniger kostet. Anderseits, weil so der meist wichtigste Wunsch der Patienten erfüllt wird: zu Hause zu sterben.»