Zur Person

Martin Röösli, 50, ist Professor für Umweltepidemiologie am Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institut in Basel. 

Der Fachmann für Mobilfunkstrahlung leitet die beratende Expertengruppe Berenis im Auftrag des Bundesamts für Umwelt und ist Mitglied der Internationalen Kommission für den Schutz vor nichtionisierender Strahlung (ICNIRP). 

Beobachter: Wir benutzen immer mehr Geräte mit elektromagnetischen Strahlungen. Was heisst das für den Menschen?
Martin Röösli: Der Cocktail an Strahlungen nimmt zwar zu, aber es ist nicht sicher, ob die Intensität der Strahlung auch zugenommen hat. Gerade bei den Handys haben wir festgestellt, dass die Strahlung im UMTS-Standard, auch 3G genannt, im Durchschnitt deutlich weniger stark ist als im 2G-Bereich. Auch Schnurlostelefone strahlen heute weniger stark als noch vor 15 Jahren. Unsere Messdaten zeigen, dass die Exposition, der die Menschen ausgesetzt sind, in den letzten zehn Jahren insgesamt nicht zugenommen hat, obwohl Mobilfunk viel stärker genutzt wird.

Beobachter: Heisst das, dass wir heute gesamthaft keine grössere Belastung zu ertragen haben als vor zehn Jahren?
Röösli: Ja, gemäss unseren Erhebungen ist das so. Aber es kommt natürlich auch darauf an, wie man sich verhält. Die Strahlung von Handys hat jedoch eher abgenommen, weil vielerorts die Verbindungen besser sind. Die Strahlung durch Basisstationen anderseits hat ein bisschen zugenommen.

Beobachter: Wie wirken elektromagnetische Felder genau auf uns ein?
Röösli: Hochfrequente Strahlung versetzt Wassermoleküle oder andere bipolare Teilchen in Schwingung. Das erzeugt Reibung und damit Wärme, genau wie bei einem Mikrowellenofen. WLAN nutzt genau die gleiche Frequenz.

Beobachter: Das klingt unheimlich.
Röösli: Nein. Die Grenzwerte sind so festgelegt, dass eine Ganzkörperbestrahlung durch eine Antenne höchstens eine Temperaturerwärmung um ein fünfzigstel Grad auslösen kann. Damit erwärmt sich der Körper überhaupt nicht. Im Bereich des Ohrs, wo Sie das Handy direkt am Kopf halten, kann es lokal eine Erwärmung von 0,1 bis 0,2 Grad geben.

«Wir haben bis jetzt zwar keine Hinweise auf direkte gesundheitliche Risiken. Aber bei sehr hohen Expositionen gibt es Indizien für gewisse physiologische Effekte, Zelleffekte.»

 

Martin Röösli, Umweltepidemiologe

Beobachter: In Italien machte letztes Jahr das Urteil eines Richters Schlagzeilen: Handystrahlung sei schuld daran, dass ein Angestellter, der 15 Jahre lang täglich bis zu vier Stunden telefonierte, Krebs im Innenohr bekam.
Röösli: Das ist ein Erstinstanzentscheid, der sich auf ein Gutachten abstützte, das ich nicht kenne. Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es keinen Konsens, dass Mobilfunkstrahlung Krebs erregen könnte. Wenn wir, gestützt auf Krebsregister, die Anzahl Hirntumore und deren Entwicklung betrachten, sehen wir keine Zunahme in den letzten 15 Jahren, obwohl dies aufgrund der immer stärker verbreiteten Handynutzung eigentlich erwartet werden müsste.

Beobachter: Studien zeigen aber, dass Menschen unter der Strahlung leiden können, an Kopfweh, Schwächegefühlen, Schlaf- und Konzentrationsstörungen.
Röösli: Dabei handelt es sich meist um Einzelfallberichte und nicht um Studien. Es gibt sehr viele Studien, die im Labor durchgeführt wurden. Versuchspersonen wurden zum Beispiel einer Strahlenquelle ausgesetzt, die ohne ihr Wissen mal ein-, mal ausgeschaltet wurde. Und sie mussten antworten, ob sie jeweils Symptome spürten. In diesen Doppelblindstudien konnte nicht gezeigt werden, dass die behaupteten Symptome signifikant erhöht auftauchten, wenn die Probanden bestrahlt wurden. Wenn Mobilfunkstrahlung Symptome auslöst, dann also höchstens bei einer sehr kleinen Minderheit. Was wir aber feststellen, ist ein sogenannter Nocebo-Effekt. Das ist die Bezeichnung für einen umgekehrten Placebo-Effekt, bei dem man statt erwarteter positiver Wirkungen eben negative Wirkungen spürt. Langfristige Auswirkungen kennen wir allerdings noch weniger gut.

Beobachter: Wo lauern die grössten Gefahren?
Röösli: Wenn jemand kurz vor dem Einschlafen noch Mobilfunkstrahlung am Kopf ausgesetzt wird, sind die Hirnströme verändert. Das ist kein Gesundheitsrisiko, aber es ist doch erstaunlich, weil es rein thermisch nicht erklärbar ist. In Zellstudien hat sich ausserdem gezeigt, dass sich der oxidative Stress in den Zellen erhöht. Allerdings nur bei hohen Belastungen, wie sie eventuell entstehen, wenn das Handy direkt am Körper maximal strahlt. Zudem gibt es einige Studien, die den Verdacht nahelegen, dass die Konzentration, also die Hirnleistung, beeinflusst werden kann. Besonders bei Kindern und Jugendlichen, bei denen die Entwicklung des Gehirns noch nicht abgeschlossen ist, gilt es deshalb, vorsichtig zu sein.

Beobachter: Für die neue Mobilfunkgeneration 5G wird ein Wellenspektrum von 6 bis 100 Gigahertz in Betracht gezogen, also Wellen im Millimeterbereich. Ärzte und auch Physiker warnen vor einem Experiment mit unabsehbaren Folgen.
Röösli: Kurzwelligere Strahlung dringt weniger tief in den Körper ein. Das ist ein Vorteil. Anderseits heisst das, dass die ganze Energie auf einem kleineren Volumen absorbiert wird. Eben in der Haut beziehungsweise in den Schweissdrüsen, wie eine israelische Studie gezeigt hat. Wir haben bis jetzt zwar keine Hinweise auf direkte gesundheitliche Risiken. Aber bei sehr hohen Expositionen gibt es Indizien für gewisse physiologische Effekte, Zelleffekte. Man kann auch nicht ausschliessen, dass Strukturen auf der Haut wie etwa die Schweissdrüsen durch diese grössere Energie geschädigt werden. Denkbar wäre zum Beispiel auch, dass Melanome zunehmen könnten.

«WLAN wird überschätzt. Bei schlechter Verbindung im Zug strahlt ein Handy bis zu 100'000-mal stärker als beispielsweise in einem Café mit guter WLAN-Verbindung.»

 

Martin Röösli, Umweltepidemiologe

Beobachter: Dennoch fordern Telekomfirmen und Wirtschaft eine Erhöhung der geltenden Grenzwerte. Dürfen wir das riskieren?
Röösli: Es geht ja vor allem um eine Erhöhung der Anlagegrenzwerte. Die Schweiz kennt hier sogenannte Vorsorgegrenzwerte, die dafür sorgen sollen, dass Antennen möglichst wenig Strahlung abgeben. Andere Länder kennen nur die höheren Belastungsgrenzwerte, die die maximal zulässige Exposition festlegen.

Beobachter: Das heisst, die Grenzwerte allein sind nicht das Problem?
Röösli: Genau. Es gilt abzuwägen. Wenn mehr Antennen installiert werden, braucht das Handy weniger Funkleistung. Das wiederum hat zur Folge, dass wir weniger Strahlenexposition haben in denjenigen Bereichen, in denen wir teilweise biologische Effekte feststellen, nämlich beim Handy am Körper bei schlechter Verbindungsqualität.

Beobachter: Die Angst der Kritiker bezieht sich aber auch auf all die vielen Antennen, die neu nötig würden.
Röösli: Es gibt kaum Daten, die darauf hinweisen, dass das schädlich sein könnte. Antennen und WLANs verursachen im Vergleich zur Belastung durch das Handy am Körper nur eine sehr geringe Strahlenbelastung. Bei schlechter Verbindung im Zug strahlt ein Handy bis zu 100'000-mal stärker als beispielsweise in einem Café mit guter WLAN-Verbindung.

Beobachter: Die WLAN-Stationen selber erachten Sie als unproblematisch?
Röösli: WLAN wird überschätzt. Wir haben die durchschnittliche Strahlungsdosis für 120 Personen berechnet. Es hat sich gezeigt, dass allein die Telefonate für 96 Prozent der täglichen Strahlendosis verantwortlich waren, die vom menschlichen Hirn absorbiert wurde. WLAN macht typischerweise lediglich ein Prozent der Gesamtbelastung aus. Das geht in der öffentlichen Diskussion unter.

Beobachter: Was weiss man über die Wirkung des Mobilfunks auf Insekten?
Röösli: Dazu gibt es erst wenige, kaum belastbare Studien. Heikel sind die Auswirkungen auf Cryptochrome. Das sind Moleküle, die magnetische Elemente beinhalten. Zugvögel nutzen diese Rezeptoren. Es ist vorstellbar, dass es im Tierreich Effekte gibt, die wir noch nicht abschätzen können. Aber ich denke, dass etwa das Bienensterben eher auf Milben und Pestizide zurückzuführen ist als auf Mobilfunkstrahlung. Konkrete Hinweise darauf, dass die Bienen dadurch geschädigt würden, sind mir bis heute nicht bekannt.

Beobachter: Laut der Studie «Radiofrequency Radiation Injures Trees» von 2016 gibt es Hinweise darauf, dass Antennen Baumkronen schädigen können.
Röösli: Es handelt sich dabei nicht um eine systematische Arbeit. Es wurden einfach Fälle dokumentiert, wo es Baumschäden in der Nähe von Antennen gab. Ob dies häufiger auftritt, als es zufällig zu erwarten ist, kann mit dieser Studie nicht beantwortet werden.

Beobachter: Was für eine Empfehlung würden Sie der Politik mitgeben?
Röösli: Grundsätzlich gibt es sicher noch einige Unsicherheiten. Wenn wir etwas an den Grenzwerten ändern, müssen wir deshalb unbedingt genau verfolgen, was passiert. Ob höhere Grenzwerte zu einer stärkeren Strahlenbelastung der Bevölkerung führen, ist nicht wirklich klar. Bisher wurden keine Unterschiede beobachtet zu Ländern, die seit Jahren höhere Grenzwerte kennen.

Aktuell: Handyantennen sollen stärker strahlen dürfen

Der Druck von Wirtschaft und Telekom-Industrie, die Grenzwerte für Mobilfunkstrahlung in der Schweiz zu erhöhen, steigt. Die Fernmeldekommission des Ständerats fordert in einer Motion eine Lockerung der «zu strikten Vorschriften» für den Schutz vor elektromagnetischer Strahlung.

Hintergrund der Forderung ist die geplante Einführung des neuen Mobilfunkstandards 5G. Der Bund will die nötigen Frequenzen dazu bereits im zweiten Halbjahr 2018 vergeben. Für diese neue, viel schnellere Generation des Mobilfunks, die das «Internet of things» und super schnelles Surfen möglich machen soll, braucht es technische Aufrüstungen – entweder in Form vieler neuer Antennen in einigen 100 Metern Abstand, die vergleichsweise gering strahlen oder in Form höherer Grenzwerte. Wahrscheinlich ist, dass für eine schnelle Einführung des Mobilfunkstandards 5G in jedem Fall ein dichteres Antennennetz nötig sein wird. Ob dadurch aber auch die gesamte Strahlenbelastung für die Bevölkerung erhöht würde oder erhöht werden muss, ist umstritten. Denn je besser der Empfang eines Geräts ist, desto weniger stark strahlt das Gerät selber ab.

Die Telekomfirmen machen geltend, die Schweiz hätte heute deutlich tiefere Grenzwerte als viele andere Länder. Doch die Grenzwerte lassen sich nicht so einfach vergleichen. In der Schweiz gelten neben den international abgestimmten Immissionsgrenzwerten auch so genannte Anlagegrenzwerte, die die maximale Abstrahlung einzelner Antennen im Sinne einer Vorsorge begrenzen. Um diese Grenzwerte geht es. Damit, heisst es auf der entsprechenden Seite des Bundesamts für Umwelt (Bafu), würde auch «das Risiko für vermutete Gesundheitsauswirkungen minimiert». Die Schweizer Ärzte für Umweltschutz, aber auch Kreise aus der Wissenschaft warnen davor, die möglichen gesundheitlichen Auswirkungen der hochfrequenten Mikrowellenstrahlung auf den Menschen und die Umwelt zu unterschätzen.

Mit dem neuen Vorstoss für höhere Grenzwerte aus der Kommission des Ständerats wird die Debatte darüber erneut lanciert. Im Dezember 2016 hatte der Ständerat sich noch mit einer Stimme Mehrheit gegen höhere Grenzwerte ausgesprochen und dem Nationalrat widersprochen.

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