Mirjam Sibler* fährt seit Jahrzehnten Auto. Einen Unfall verursacht hat sie nie, nicht einmal eine Busse bekommen. Dann erhält die 79-Jährige einen Brief, der ihre Welt erschüttert. Er stammt vom Strassenverkehrsamt des Kantons Zürich, Abteilung Administrativverfahren.

«Aufgrund einer Drittmeldung ergeben sich Bedenken hinsichtlich Ihrer Fahreignung. Da wir verpflichtet sind, solche Meldungen ernst zu nehmen, bitten wir Sie, […] einen ärztlichen Bericht einzureichen, der über Ihre weitere Fahreignung Auskunft gibt.» Eine Möglichkeit, gegen diesen Entscheid Einsprache zu erheben, fand sich im amtlichen Schreiben nicht.

Bedenken hinsichtlich Fahreignung? Die rüstige Mirjam Sibler hat eine eigene Yogaschule, an der sie dreimal wöchentlich unterrichtet. Sie lässt sich vorschriftsmässig alle zwei Jahre auf ihre Fahreignung kontrollieren. Ihr Arzt hat nie etwas beanstandet.

Da ist doch dieser Nachbar

Aber Sibler hat einen Verdacht. Ein Nachbar plagt sie und ihren Mann schon lange. Vor vier Jahren wurde ihr Mann anonym bezichtigt, er könne nicht mehr sicher Auto fahren – zu Unrecht, wie medizinische Abklärungen bewiesen. Die Siblers vermuteten damals schon, dass der Nachbar dahintersteckt. Die entsprechenden Akten seien vernichtet, teilt die Behörde nun dem Beobachter mit.

Mirjam Sibler schickt das verlangte Arztzeugnis ans Amt. Darin schreibt der Arzt, es könne sein, dass ein «unwohlwollender Nachbar, der Frau Sibler und ihren Mann seit Jahren beobachtet und schon öfters problematische Meldungen an die Gemeinde geschickt hat, […] die Gefährdungsmeldung […] unberechtigt und in böser Absicht gemacht hat».

Sibler verlangt vom Strassenverkehrsamt, ihr den Namen des anonymen Schreibers bekanntzugeben. Das Amt weigert sich und verweist auf die rechtliche Grundlage. «Die Identität der meldenden Person darf auch im Rahmen von Administrativverfahren nicht preisgegeben werden», steht in der Verordnung.

Zweifel an der Fahreignung – das ist die Rechtslage

Privatpersonen können den kantonalen Strassenverkehrsämtern Zweifel an der Fahreignung einer Person melden. Das sieht die Verkehrszulassungsverordnung vor. Das Amt kann dann beim behandelnden Arzt einen Bericht einholen. 

Dem Melder muss Vertraulichkeit zugesichert werden, falls er dies wünscht. Seine Identität darf man auch im Rahmen von Administrativverfahren nicht preisgeben. Er hat im Verfahren keine Parteistellung, das heisst, er erhält keine Auskunft über die Folgen seiner Meldung. 

Wenn ernsthafte Zweifel an der Fahreignung einer Person bestehen, kann ihr vorsorglich der Führerausweis entzogen werden.

Die eigentlich gut gemeinte Verordnung sei eine «ungewollte Aufforderung zur Denunziation», sagt Hans Giger, Präsident des Forschungsinstituts für Strassenverkehrsrecht. Missgünstige Personen könnten auf diese Weise, ohne sich für ihr Verhalten rechtlich verantworten zu müssen, unbescholtene Personen anschwärzen. «Das stösst ohne Zweifel gegen fundamentale Grundsätze der Bundesverfassung.» Und der Datenschutzbeauftragte des Kantons Zürich schreibt: «Wurde eine Meldung offensichtlich unbegründet, zur blossen Schikane, erstattet und fällt das Ergebnis der Fahreignungsuntersuchung positiv aus, besteht auf Seiten der Drittperson kein schutzwürdiges Interesse an der Geheimhaltung ihrer Daten.»

Trotzdem geht das Strassenverkehrsamt nicht auf Siblers Anliegen ein. Es zweifelt das aktuelle Arztzeugnis wegen einer früheren Erkrankung an. Die Yogalehrerin wird zur verkehrsmedizinischen Abklärung beim Institut für Rechtsmedizin der Uni Zürich aufgeboten. Im Voraus muss sie dafür eine Gebühr von 406.65 Franken zahlen.

Auch diese Abklärung ergibt: Mirjam Sibler ist fahrtüchtig. Jetzt schaltet die Zürcherin einen Anwalt ein – sie will das Geld zurück. Der Anwalt will vom Strassenverkehrsamt wissen, ob es bei anonymen Anzeigen nicht eine erhöhte Sorgfaltspflicht habe. Die lapidare Antwort: Jede Person könne eine Meldung einreichen, auch anonym. «Wir sind verpflichtet, bei Zweifeln an der Fahreignung eine Abklärung zu tätigen.» Das Vorgehen entspreche dem gesetzlichen Auftrag. Dass die Meldung anonym eingereicht wurde, ändere nichts daran, dass die Kosten für die Abklärung in jedem Fall von den Betroffenen zu tragen seien.

Rechtlich korrekt, aber «billig»

Der Anwalt findet das Vorgehen des Amts stossend. «Es ist billig, sich bei der gegebenen Sachlage einfach hinter dem Argument der Verkehrssicherheit zu verstecken.» Fakt sei, dass Sibler nun auf den Kosten sitzen bleibt, Zeitaufwand und Aufregung kommen noch hinzu. Und der anonyme Schreiber lacht sich vermutlich genüsslich ins Fäustchen.

Auf Nachfrage des Beobachters hat das Amt Siblers Fall erneut überprüft. Rechtlich sei alles korrekt gelaufen, sagt der Mediensprecher. Doch er entschuldigt sich für die knappen Antworten an Sibler: «Wir hätten Ihnen ausführlicher darlegen sollen, warum wir Ihrer Forderung nach Transparenz aufgrund der Gesetzeslage nicht nachkommen können und warum die angeordneten Abklärungen, obwohl für Sie mit finanziellen und zeitlichen Belastungen verbunden, nötig waren. Das bedauern wir.»

 

*Name geändert

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