Sie musste ihr Team dauernd antreiben. Und immer mehr Kunden gewinnen. Der Druck war enorm – über Jahre. Und so glitt die Ausbildnerin von Kosmetikberaterinnen in eine schwere Depression. Sie konnte nicht mehr arbeiten.

Später zog sie den Arbeitgeber zur Verantwortung. Und bekam recht. Das Bundesgericht sprach ihr eine Genugtuung von 10'000 Franken zu – wegen arbeitsbedingter Stresserkrankung.

«Stress entsteht, wenn wir in Situationen kommen, die neu und schlecht kontrollierbar sind – und deren Ausgang ungewiss, aber von Bedeutung ist», sagt Ulrike Ehlert, Professorin für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Uni Zürich. Da Arbeit einen sehr hohen sozialen Stellenwert hat, ist da die Anfälligkeit für Stress speziell gross.

Zusammenhänge für Stress am Arbeitsplatz

Das fördert Stress

Das mindert Stress

Pauschal gesagt entsteht Stress durch ein Missverhältnis von Einsatz und Anerkennung. «Dann schüttet der Körper Stresshormone aus, Blutdruck und Herzfrequenz steigen, der Appetit lässt nach, die Verdauung spielt verrückt», sagt Psychologin Ehlert. Auf Dauer kann das krank machen – mit Schlafstörungen , Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Erschöpfungsdepression.

Der Arbeitgeber darf in solchen Fällen nicht tatenlos zusehen. Er muss Persönlichkeit und Gesundheit der Mitarbeitenden schützen. Ansonsten riskiert er eine Haftung für materielle und immaterielle Schäden, die sie erleiden – die sogenannte Stresshaftung.

Wer was beweisen muss

Bevor man einen Arbeitgeber belangen kann, müssen allerdings etliche Voraussetzungen erfüllt sein.

  • Vertragsverletzung: Die Pflicht, die Gesundheit der Angestellten zu schützen Arbeitsplatz Wir sind keine Batteriehühner! , ist Teil der arbeitsrechtlichen Fürsorgepflicht. Welche Massnahmen nötig sind, kommt auf die jeweilige Situation an. Der Arbeitnehmer muss beweisen, dass es einen Verstoss gab.
     
  • Schaden: Der Arbeitnehmer muss beweisen, dass er auch einen finanziellen Schaden erlitt wie Lohneinbussen, Kostenbeteiligung gegenüber der Krankenkasse, Fahrkosten zur Behandlung oder Kosten für Haushaltshilfe oder Kinderbetreuung. In schweren Fällen ist auch eine Genugtuung als Ausgleich für seelischen Schaden denkbar.
     
  • Kausalzusammenhang: Der Arbeitnehmer muss beweisen, dass er nicht erkrankt wäre, wenn der Arbeitgeber seine Fürsorgepflicht wahrgenommen hätte. Das ist schwierig, da stressbedingte Erkrankungen auch andere Auslöser haben können, etwa familiäre oder finanzielle Probleme. Es ist daher oft unmöglich, die nötigen Beweise voll zu erbringen. Das berücksichtigen die Gerichte auch. Wenn es mehrere Ursachen für den Stress gibt, muss der Arbeitgeber eventuell nur teilweise haften.
     
  • Verschulden: Der Arbeitgeber wiederum muss beweisen, dass er die Stresserkrankung weder vorsätzlich noch fahrlässig verursacht hat. Massgebend dabei ist, ob er die Gefahr erkannt hat oder hätte erkennen können – und trotzdem keine geeigneten Massnahmen ergriffen hat.
Tipps: So schützen sich...

... gestresste Arbeitnehmer

  1. Weisen Sie den Chef im persönlichen Gespräch so früh wie möglich auf die Belastung hin und bitten Sie um Hilfe. Halten Sie das Gespräch schriftlich fest und verlangen Sie, dass es ins Personaldossier kommt.
  2. Falls der Chef nichts unternimmt, um Ihre Gesundheit zu schützen, können Sie sich an das kantonale Arbeitsinspektorat wenden.
  3. Wenn das nichts hilft und ein finanzieller Schaden vorliegt, bleibt nur noch der Rechtsweg. Das beginnt mit der Eingabe eines Schlichtungsgesuchs. Weil die Sache schnell kompliziert werden kann, ist ein Anwalt zu empfehlen.
     

... Arbeitgeber vor Haftungsansprüchen

  1. Der Betrieb muss so organisiert sein, dass die Gesundheit der Mitarbeitenden nicht leidet. Allenfalls müssen Sie Arbeitsabläufe optimieren oder das Personal aufstocken.
  2. Chefs sollten sich für das Wohlergehen der Angestellten interessieren. Ratsam sind regelmässige Befragungen. Thematisieren Sie Belastung und Arbeitsklima beim Mitarbeitergespräch.
  3. Hat ein Mitarbeiter Stresssymptome, sollten Sie sofort handeln. Vor allem Burn-out-Betroffene wollen ihren Zustand oft nicht wahrhaben.
  4. Schaffen Sie eine Kultur, die es erlaubt, Probleme ohne Angst vor Gesichts- und Jobverlust anzusprechen. Wertschätzung motiviert und mindert das Stressempfinden.
  5. Sorgen Sie dafür, dass die Mitarbeitenden ihre Ferien auch tatsächlich beziehen – davon mindestens zwei Wochen am Stück.
  6. Es ist sinnvoll, alle Schritte zu protokollieren, die Sie unternommen haben. Das kann Sie bei einem Rechtsstreit entlasten.
Beispiele aus der Gerichtspraxis
  • Haftung bejaht: Die Ausbildnerin von Kosmetikberaterinnen wurde unaufhörlich gezwungen, ihre Mitarbeiterinnen weiter anzutreiben, um noch mehr Kunden zu gewinnen und unrealistische Umsatzzahlen zu erreichen. Durch den jahrelangen Druck, dem sie ausgesetzt war, erkrankte die Frau an einer schweren Depression und wurde vollständig arbeitsunfähig Arbeitsrecht Krankgeschrieben – was heisst das? . Interessant: Dem Vertrauensarzt des Krankentaggeldversicherers fiel auf, dass es mehreren Mitarbeitern dieses Betriebs gleich erging. Das Bundesgericht sprach der Angestellten eine Genugtuung von 10’000 Franken zu (BGE 4C.24/2005 vom 17. Oktober 2005).
     
  • Teilhaftung bejaht: Ein Hoteldirektor wurde von seinem Arbeitgeber über längere Zeit massiv unter psychischen Druck gesetzt und ständig kritisiert. Der Mann musste wegen Überlastung in eine Klinik und blieb mehrere Monate arbeitsunfähig. Weil er an der vorherigen Arbeitsstelle bereits unter Überlastung und Depression litt, bestätigten die Bundesrichter eine reduzierte Haftung des Arbeitgebers. Der Betroffene erhielt eine Genugtuung von 5000 Franken zugesprochen (BGE 4C.320/2005 vom 20. März 2006).
     
  • Haftung verneint: Ein Mitarbeiter eines Zentrums für besonders schwierige Asylbewerber wurde von den Bewohnern wiederholt beschimpft, bedroht und tätlich angegriffen. Als der Mann nach seiner Kündigung psychisch erkrankte, machte er seine Arbeitgeberin dafür verantwortlich – sie hätte ihn zu wenig vor solchen Angriffen geschützt und damit die Fürsorgepflicht verletzt. Das Zürcher Obergericht sah jedoch keinen Zusammenhang zwischen der Erkrankung und der behaupteten Sorgfaltspflichtverletzung. Der Job in der Betreuung von renitenten Asylbewerbern bringe alltägliche Risiken mit sich, die der Angestellte von Anfang an gekannt hatte und in Kauf nehmen musste. Zudem habe er sich während der ganzen zehn Jahre nie beim Arbeitgeber über das Arbeitsumfeld beklagt (Entscheid Obergericht Zürich vom 13. November 2015, LA150023).
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