Trauma: Was heisst das?

Nicht alles, was umgangssprachlich traumatisch genannt wird, entspricht der eigentlichen Definition des Begriffs. Die Psychologie spricht von einem traumatischen Ereignis, wenn dieses den Rahmen alltäglicher Erfahrungen und Belastungen weit übersteigt, wenn eine Flucht davor unmöglich ist und die psychische Verarbeitung einen überfordert.

Als besonders schwerwiegend gelten von Menschen verursachte Traumata (etwa bei Vergewaltigung, Mord, Überfall).

Es kann jeden treffen. Jederzeit. Es reicht, zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein und wie Marianne Gubler* auf der Autobahn von einem überholenden Wagen touchiert zu werden. Das Auto der 53-Jährigen gerät ins Schleudern, prallt gegen die Leitplanke, dreht sich einige Male um die eigene Achse und kommt auf der Überholspur zum Stehen.

Dann sieht die verletzte Pflegefachfrau die Lichter des nachfolgenden Verkehrs auf sich zurasen, erkennt die Form eines Lastwagens und wird plötzlich «ganz ruhig». Doch sie hat Glück: Der Chauffeur hat den Unfall beobachtet und stellt seinen Laster geistesgegenwärtig wie einen Schutzschild vor ihr Auto. Das alles versteht sie erst Tage später, als sie mit gebrochenem Brustbein und Prellungen wieder zu Hause ist.

Spurlos geht ein solches Erlebnis an niemandem vorbei. Während der lebensgefährlichen Situation aktiviert der Körper sämtliche Stress- und Notfallmechanismen: unkontrollierte Reaktionen, die auch Jahre später in derselben Heftigkeit wieder ausgelöst werden können. Oft reicht ein Geräusch oder ein Geruch, denn davor kann man sich während des Geschehens am wenigsten schützen.

Sie erinnert sich nur an die Musik im Auto

Marianne Gublers Erinnerung an die Ereignisse unmittelbar nach dem Unfall sind auch sieben Jahre danach nur bruchstückhaft. Aber die Musik von Tschaikowsky, die während des Crashs im Auto lief, hat sich tief in ihr Hirn eingebrannt. Wie sie heute auf die Melodie reagieren würde, weiss sie nicht – sie will es gar nicht herausfinden. Zu gross ist die Angst, alles könnte hochkommen. Und wenn sie bei Regen auf der Autobahn unterwegs ist oder im Dunkeln von einem Auto überholt wird, beschleicht sie noch heute ein mulmiges Gefühl.

Dass Marianne Gubler überhaupt wieder Auto fährt, ist alles andere als selbstverständlich. Viele Traumatisierte meiden Situationen, die sie an ihr persönliches Drama erinnern – auch wenn damit grosse Einschränkungen verbunden sind. Psychologen sprechen von «Vermeidungsstrategien», die man im Auge behalten sollte. Es kann durchaus sinnvoll sein, einen Lokführer nach dem Zusammenstoss mit einem Lebensmüden für zwei Wochen krankzuschreiben. Das ist aber eine Gratwanderung und darf keinesfalls die einzige Massnahme bleiben. Zudem reagieren nicht alle Betroffenen gleich: Es gibt auch Lokführer, die schon am nächsten Tag wieder arbeiten wollen.

Alpträume, Flashbacks, Bedrohungsgefühl

Wenn Menschen einer schrecklichen Situation ausgeliefert sind, reagieren sie bereits vor Ort sehr unterschiedlich. Manche erstarren, geben keinen Laut von sich. Andere schreien oder lachen, zeigen sich aggressiv – oder funktionieren ganz normal weiter, als ob nichts geschehen wäre.

Auch nach dem Ereignis kommen verschiedene Verhaltensmuster vor. Manche wollen das Erlebte wieder und wieder erzählen, andere kein Wort darüber verlieren. Das Gefühl, den Vorfall nicht wirklich erlebt zu haben, neben sich zu stehen, nichts mehr fühlen zu können, sind bekannte Reaktionen. Auch Schlafstörungen, Alpträume, sogenannte Flashbacks und andauernde Bedrohungsgefühle gehören zum normalen Verarbeitungsprozess. Erst wenn sich diese Beschwerden nach vier bis sechs Wochen nicht legen und es keinen Weg zurück ins bisherige Leben zu geben scheint, sprechen Fachleute von einer posttraumatischen Belastungsstörung.

 

«Es deutet vieles darauf hin, dass Menschen, die psychologisch begleitet wurden, ein Trauma besser verarbeiten.»

 

Raphael Romano, Notfallpsychologe

Ob und wie schnell es gelingt, ans frühere Leben anzuknüpfen, hängt von vielen Faktoren ab. Einer davon ist die Betreuung unmittelbar nach dem Ereignis. Vieles deutet darauf hin, dass Menschen, die psychologisch begleitet wurden, ein Trauma besser verarbeiten und seltener unter einer posttraumatischen Störung leiden. Deshalb rückt heute bei jedem grösseren Unfall ein psychologisches Care-Team aus.

Inzwischen gibt es in allen Kantonen Notfallpsychologen, die aufgeboten werden, wenn Polizei oder Sanität dies für notwendig halten. Sie überbringen gemeinsam mit der Polizei Todesnachrichten, betreuen leichter Verletzte und Zeugen eines Autounfalls oder Opfer eines Banküberfalls. Auch die Armee, die SBB und grosse Firmen arbeiten schon länger mit psychologischen Care-Teams zusammen.

Mit Pistole und Messer bedroht

Die Bankangestellte Angela Pedrini* befand sich allein in der Schalterhalle, als sie plötzlich einen Pistolenlauf auf sich gerichtet sah und gezwungen wurde, die Kasse zu öffnen. Weil es dem Täter nicht schnell genug ging, zückte er zusätzlich ein Messer. Die bedrohte Frau hoffte verzweifelt, dass die Arbeitskollegen sich ruhig verhalten und keine Kunden das Geschäft betreten würden. «Der Täter war so nervös, dass nicht absehbar war, was passieren würde.»

Erst nach dem Überfall erfuhr Pedrini, dass ihre Kollegen die Worte, die sie gegenüber dem Täter gebraucht hatte, für ziemlich unverfroren und mutig hielten. Sie selber konnte sich an den Dialog nicht wirklich erinnern, und vor allem fühlte sie sich alles andere als mutig. «Ich handelte völlig automatisch, wie im Traum.» Die Angst kroch erst viel später hoch.

Die Bankangestellte beschreibt das erste Treffen mit dem Notfallpsychologen als «sehr emotional»; Tränen seien geflossen. In der ersten Sitzung geht es vor allem darum, den genauen Ablauf des Ereignisses zu rekonstruieren und über die möglichen Folgen eines Traumas aufzuklären.

Doch niemand konnte Angela Pedrini das Gefühl abnehmen, dass gleich wieder etwas passieren würde. Ihr Freund zeigte grosses Verständnis, verzichtete auf seine Freizeitbeschäftigungen und kam in den folgenden Wochen immer gleich nach der Arbeit nach Hause. Ein gutes soziales Umfeld, das den Betroffenen zuhört und deren Ängste ernst nimmt, gilt als wichtiges Puzzlestück bei der Genesung Traumatisierter.

Obwohl in der Fachwelt inzwischen eher vor einer Überbetreuung gewarnt wird und der Begriff Trauma für Banalitäten wie ein verlorenes Fussballspiel herhalten muss, gibt es nach wie vor Lücken bei der psychologischen Nachbearbeitung. Wer betreut die Schulklasse, die zusehen musste, wie eine Klassenkollegin tödlich verunglückte? Wer kümmert sich um zufällige Zeugen eines Zugunglücks?

Auch das Unfallopfer Marianne Gubler bekam nicht automatisch psychologische Unterstützung. Aber dank ihrer Arbeit im Gesundheitsbereich wusste sie, dass traumatische Erlebnisse die Seele verletzen und schwerwiegende Konsequenzen haben können. Deshalb wandte sie sich kurz nach dem Unfall aus eigener Initiative an eine Notfallpsychologin.

«Ich hatte absolut keine Kontrolle mehr»

Wie nützlich das war, merkte Gubler ein knappes Jahr nach dem Unfall. Plötzlich sah sie auf der Basler Herbstmesse hinter sich die Lichter einer startenden Chilbibahn auf sich zurasen. In Panik rannte sie weg. Das sei einfach mit ihr passiert: «Ich hatte absolut keine Kontrolle mehr über mein Handeln.» Dass solche Reaktionen auch lange nach einem Ereignis durchaus normal sind, wusste sie dank der Sitzung mit der Notfallpsychologin. «Sonst hätte ich mich für komplett verrückt gehalten.» Dabei sind weder die Menschen, die so etwas erlebt haben, noch ihre Reaktionen abnormal: Abnormal ist nur das, was ihnen passiert ist.

*Name geändert

Traumatisierte Personen: Das können Angehörige und Freunde tun
  • Hören Sie geduldig zu, wenn der oder die Traumatisierte reden will. Aber akzeptieren Sie auch, wenn die betroffene Person dazu noch nicht bereit ist.
  • Vertrauen Sie darauf, dass der oder die Betroffene einen Weg findet, das Trauma zu überwinden. Helfen Sie wenn nötig dabei, diesen Weg zu gehen.
  • Bestärken Sie die traumatisierte Person darin, sich selber Gutes zu tun: lange Spaziergänge, Massage, Weekend-Urlaub et cetera. Und auch darin, nötigenfalls professionelle Hilfe anzunehmen.
  • Akzeptieren Sie Veränderungen: Viele Menschen sind nach einem solch einschneidenden Erlebnis nicht mehr dieselben wie zuvor.
  • Bleiben Sie über Wochen oder Monate hinweg aufmerksam und ansprechbar. Viele Reaktionen können erst stark verzögert auftreten – so etwa auch das Bedürfnis zu reden.
  • Vermeiden Sie tröstlich gemeinte, aber eigentlich unpassende Phrasen wie «Morgen sieht die Welt wieder anders aus» oder «Es wird alles wieder gut».
  • Decken Sie Ihr Gegenüber nicht mit unzähligen Vorschlägen ein, wie man wieder auf die Beine kommen könnte. Er oder sie muss einen eigenen Weg finden.
  • Fehl am Platz sind auch ungeduldige Bemerkungen im Stil von: «Jetzt ist es schon vier Wochen her, kannst du nicht endlich vergessen und wieder normal werden?»
  • Machen Sie gegenüber der betroffenen Person keine Versprechungen, die Sie nicht einhalten können.
  • Nehmen Sie der betroffenen Person nicht wochenlang alles ab, was sie ebenso gut (wieder) selbst bewältigen könnte.

Adressen von Notfallpsychologen finden Sie unter www.psychologie.ch (in der Suchmaske die Zusatzqualifikation «Notfallpsychologie» eingeben).