Früher dachte man, Allergien bei Kindern würden durch Infektionen ausgelöst. 1989 stellte der britische Arzt David Strachan diese Theorie auf den Kopf: Es sei gerade das Fehlen von Infektionen, das zu Allergien führe. Strachan hatte eine Datenbank mit Gesundheits- und sozialen Informationen von 17'000 britischen Kindern aus den 1950er Jahren ausgewertet. Dabei fiel ihm auf, dass es in kinderreichen Familien weniger Allergien gab als in solchen mit Einzelkindern. Und in den kinderreichen Familien waren es vor allem die Erstgeborenen, die anfällig für allergische Erkrankungen waren. Strachan schloss daraus, dass Kinder von den Infektionen ihrer älteren Geschwister profitierten. Und: dass diese frühkindlichen Infektionen sie gegen Heuschnupfen und andere Allergien schützten.

Impfungen und Antibiotika retten Kinder

Strachans Theorie ging als «Hygienehypothese» in die Medizingeschichte ein. Fachleute nehmen bis heute an, dass sie die Zunahme von Allergien teilweise erklärt. Denn im selben Mass, in dem die Zahl der Allergien explodiert ist, haben sich in westlichen Ländern die Hygienestandards verbessert. Heute besagt die Hygienehypothese sinngemäss: Durch übertriebene Sauberkeit hat unser Immunsystem sehr viel weniger mit Infektionen zu kämpfen. Stattdessen kommt es zu einer «Umpolung», und unsere unterforderten Immunzellen greifen nun harmlose Eindringlinge wie Pollen oder Nahrungsbestandteile an.

Das klingt einleuchtend. Aber stimmt es auch? «Zum Teil», sagt der Allergologe Roger Lauener, Chefarzt am Ostschweizer Kinderspital in St. Gallen, der seit Jahren zur Hygienehypothese forscht. «Aber in der Aussage, das Immunsystem habe keine Gelegenheit mehr, zu fighten, steckt auch ein grosses Missverständnis: die Vorstellung, dass Krankheitserreger grundsätzlich etwas Gutes seien.»

In den letzten 100 Jahren sei die Säuglingssterblichkeit massiv zurückgegangen, «und zwar dank Impfungen und Antibiotika, die die schlimmsten Infektionen verhindern».

Wenn heute von der Hygienehypothese die Rede ist, gerät vor allem ein bislang unterschätztes Organ in den Blick: der Darm. Etwa 80 Prozent des Immunsystems sind hier angesiedelt. Viel wichtiger aber: Der Darm ist Hauptsitz unseres Mikrobioms, auch Darmflora genannt. Es besteht aus rund 100 Billionen Mikroben – Bakterien, Viren, Pilzen und Archaeen (früher: Urbakterien) – und ist rund zwei Kilo schwer. Die Zusammensetzung dieses Mikrobioms scheint unsere Gesundheit entscheidend zu beeinflussen. Und auch die Anfälligkeit für Allergien.

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Quelle: Beobachter Bewegtbild

«Dass Krankheitserreger grundsätzlich etwas Gutes seien, ist ein Missverständnis.»

Roger Lauener, Chefarzt am Kinderspital St. Gallen

Mikroben erklären etwa den Bauernhof-Effekt, der in vielen Studien beschrieben worden ist. Demnach erkranken Kinder, die auf einem Bauernhof aufwachsen, seltener an Allergien als andere. Forscher des Universitätsspitals Genf haben diesen Mechanismus in einem Experiment untersucht, bei dem sie Mäuse direkt im Kuhstall platzierten. Wenn die Mäuse dort zur Welt kamen, reagierten sie weniger stark auf ein künstliches Allergen, als wenn sie aus der Labor-Tierhaltung stammten. Die Darmflora der Tiere unterschied sich stark: Im Verdauungstrakt von Bauernhofmäusen war die Vielfalt an Bakterien und Viren viel grösser.

Die ersten Lebenswochen entscheiden

Mit der Darmbesiedlung in den ersten Lebensmonaten haben sich Forscher des Kinderspitals und der ETH Zürich befasst. Sie wollten wissen, welche Bakterien zum Aufbau einer stabilen Darmflora beitragen. Denn heute gilt als gesichert: Die ersten Lebenswochen, in denen der bei Geburt sterile Darm mit Mikroben besiedelt wird, sind für das Immunsystem besonders wichtig. «Bereits drei Wochen nach der Geburt kann man anhand der Stoffwechselprodukte unserer Darmbakterien voraussagen, ob wir ein erhöhtes Risiko für Allergien, Asthma oder Neurodermitis haben», schreibt die erfolgreiche Sachbuchautorin Giulia Enders. Schon die Geburt macht einen Unterschied: Kaiserschnittbabys brauchen Monate, bis sie eine normale Darmflora haben, während vaginal geborene Kinder schon im Geburtskanal Bakterien auflesen. Einen Schutz vor Allergien bewirkt auch das Stillen.

Wie lassen sich die Erkenntnisse im Alltag umsetzen? «Eltern sollen Mut haben zur Normalität», rät Kinderarzt Roger Lauener. Kinder sollen sich im Freien aufhalten und die Welt erfahren; im Sand spielen, auch einmal Dreck in den Mund bekommen dürfen. «Das ist nicht nur wichtig für die Allergieprävention», sagt Lauener, «sondern allgemein für die kindliche Entwicklung.»

Buchtipps

  • Alanna Collen: «Die stille Macht der Mikroben»; Riemann, 2015, 352 Seiten, CHF 26.90
  • Giulia Enders: «Darm mit Charme»; Ullstein, 2014, 304 Seiten, CHF 24.90
Wissen, was dem Körper guttut.
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Chantal Hebeisen, Redaktorin
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