Beobachter: Sie waren Gutachter im Prozess gegen den österreichischen Terroristen Franz Fuchs, dessen Bomben vier Menschen töteten und 15 verletzten. Dieser Fall veranlasste Sie, ein Buch über die zerstörerische Macht von Kränkungen zu schreiben.
Reinhard Haller: Ja, der Fall war psychiatrisch schwierig und spannend. Man spekulierte lange über die Motive von Franz Fuchs, vermutete Ausländerfeindlichkeit, aber das war es nicht. Fuchs war einerseits ein genialer Mensch, anderseits äusserst kränkbar. Das heisst, Dinge haben ihn gekränkt, die unsereiner einfach wegstecken würde. Er hat sich in ein Nachbarmädchen verliebt, das von seinem Glück gar nichts wusste. Das hat Fuchs in einen Selbstmordversuch getrieben. Oder er hat ein Stipendium beantragt, das nicht in gewünschter Höhe ausgefallen ist. Da hat er sein Studium hingeschmissen und ist als Hilfsarbeiter ins Ausland gegangen. Bei ihm führten Kleinigkeiten zu einem furchtbaren Prozess, der in einem Racheakt gipfelte. 

Beobachter: Was hat das Fass zum Überlaufen gebracht?
Haller: Es braucht keinen Auslöser. Das Wesen der Kränkung ist: Objektiv sind es Kleinigkeiten, subjektiv aber Katastrophen. Kränkungen führen nicht zu einer akuten Reaktion wie Zornausbruch, Wut oder Rache, sondern schwelen wie ein eiternder Prozess und entfalten ihre destruktive Wirkung erst im Lauf der Jahre. Irgendwann bricht der Eiter durch. Weil man das von aussen nicht erkennt, kann sich das Ganze überhaupt entwickeln. Voraussetzung der Kränkung ist immer auch, dass man sie verdrängt. Wenn man darüber spräche, wäre sie in der Regel schon entschärft. 

Beobachter: Warum spricht der Gekränkte nicht über die Kränkung?
Haller: Er fürchtet, der andere wird es lächerlich finden, er wird sagen: «Also die Sorgen möchte ich haben.»

Beobachter: Was eine erneute Kränkung wäre.
Haller: Genau. Bei jugendlichen Amokläufern ist das Hauptproblem, dass sie hinter der Maske der Coolness leiden. «Cool» ist derzeit eins der Lieblingswörter. Da denkt keiner daran, dass es in einem «coolen» Menschen ganz anders ausschaut. Darum werden die Kränkungen kaum je erkannt – ausser die Jungen teilen ihren Schmerz der Welt übers Internet mit.

Beobachter: Bei Amokläufern kommt der Zugang zu Waffen hinzu.
Haller: Es ist eine Tatsache: Wo Waffen überall verfügbar sind, sitzen sie lockerer. Einen Amoklauf kann ich mit blossen Händen nur bedingt ausführen. 

«Die Jungen wollen ‹cool› sein, weil dies Kränkungen verhindern soll. Dabei sind sie verletzlich und liebesbedürftig.»


Reinhard Haller, Gerichtspsychiater

Beobachter: In Salez im St. Galler Rheintal übergoss ein 27-Jähriger mehrere Zugpassagiere mit einer brennbaren Flüssigkeit und stach auf sie ein. Zwei Frauen starben. Waren Kränkungen die Ursache?
Haller: Das ist schwierig zu sagen, denn meist sind die Täter tot – wie auch in diesem Fall. Man hätte erst schauen müssen, ob er psychisch krank war wie rund jeder dritte Täter. Bei Verbrennungen und auch Selbstverbrennung ist das meist so. Wenn nicht, ist die zweite Möglichkeit, dass er sich ein Leben lang benachteiligt, nicht geliebt, ausgestossen, entwertet gefühlt hat. Und er sich – und das ist das Charakteristische an den Terroranschlägen heutzutage – nicht gegen eine spezifische Gruppe richtete, sondern gegen die Welt. Terroranschläge, Amokläufe hat es immer schon gegeben. Aber sie waren früher gegen Banker, Politiker oder religiös anders Denkende gerichtet. Letzten Sommer kamen Leute um, die zufälligerweise in Nizza spazierten oder im Zug sassen. Warum? Weil sie für Täter stellvertretend Symbole sind für die heile, kalte, sie ausschliessende Welt. Etwas anderes ist es bei den sogenannten Schulamokläufen, die gar keine Amokläufe sind, sondern Massaker. Ein Amoklauf ist im Prinzip blind. Man schiesst alles nieder, was sich bewegt. Aber der «Schulamokläufer» läuft gezielt an seine Schule und richtet dort ein Massaker an. Aber nicht an denen, die schuld sind an seinem Unglück, sondern an irgendeiner Klasse. Warum an der Schule? Weil sie in diesem Lebensalter zwangsläufig der Ort der meisten Kränkungen ist. Schlechte Noten, Mobbing, nicht zur Geburtstagsparty eingeladen…

Beobachter: In der Jugend sucht man seine Identität, man ist verletzlicher als mit 50, wenn man schon mehrere Kränkungen erlebt hat.
Haller: Ja. Die Jungen wollen cool sein, weil dies Kränkungen verhindern soll. Dabei sind sie verletzlich und liebesbedürftig. Das Ganze spielt sich ab, ohne dass man von aussen etwas merkt. Beim Amoklauf von Winnenden etwa war es eine gute Familie, herzlich und liebevoll. Das Einzige, was die Mutter am Morgen des Amoklaufs bemerkte, war, dass ihr Sohn flunkerte, als er sagte, die Schule beginne erst um zehn. Er war sonst immer verlässlich und pünktlich. Sie machte gute Miene und sagte, gut, dann könnten sie zusammen frühstücken. Sie kochte Pfannkuchen, sein Lieblingsessen, ging dann ins Büro im Haus. Der Junge sass auf der Ofenbank und streichelte die Katze. Das ist das Letzte, was sie sah, ein durch und durch friedliches Bild. Natürlich kann man im Nachhinein sagen: Abschied. Sie hörte, wie er das Haus verliess. Und zwei Stunden später verbreitete das Radio, an der Schule – an der auch ihre Tochter war – werde geschossen, und das Drama nahm seinen Lauf. Die Fenster des Hauses wurden eingeschlagen, Sicherheitsleute sprangen herein, drückten die Mutter zu Boden und führten sie ab. Sie hat das Haus nie wieder betreten.

Beobachter: Die Familie musste wegziehen und den Namen ändern. Auf Fotos sieht der 17-Jährige harmlos aus.
Haller: Er war gross und etwas linkisch. Ich war beim Prozess dabei und hörte die Zeugen, Lehrer, Mitschüler, sie sagten, er war ein netter Kerl – und der beste Pokerspieler. Das Verbergenkönnen ist das Wesen der Kränkung. Mir ist es ein Anliegen, dass man die Kränkungen erkennt und ernst nimmt.

Der gekränkte Mörder

Die biblische Erzählung von Kain und Abel, den ältesten Söhnen von Adam und Eva, handelt von einem Bruderzwist. Ackerbauer Kain soll von Neid auf seinen Bruder, den Hirten Abel, zerfressen gewesen sein, weil Gott Abels Opfergaben bevorzugte. Er erschlug Abel und wurde so zum ersten Mörder der Menschheit.

Kain erschlägt Abel.
Quelle: Getty Images

Beobachter: Für manche Ihrer Kollegen sind Kränkungen kein zentrales Thema.
Haller: Tatsächlich ist Kränkung ein unspezifischer, sehr weiter Begriff. Einer, den man nicht messen kann, auch wissenschaftlich nicht wirklich fassen kann. In der Ausbildung zum Arzt habe ich das Wort Kränkung nie gehört. Auch das Wort Beleidigung war kein Thema, nicht einmal in der Ausbildung zum Psychiater. Und die Wissenschaft will davon nichts wissen, sie rümpft die Nase. Auch meine Psychotherapeuten wollen alle nur Traumata behandeln. Es muss etwas ganz Traumatisches sein. Aber eine Kränkung…

Beobachter: …gilt Therapeuten als zu wenig wichtig?
Haller: Ja. Aber wenn man mit den Leuten redet, dann hat jeder seine Kränkungen erlebt. Wie viele Firmenfusionen und grosse Geschäfte scheitern? Nicht weil es wirtschaftliche Differenzen gäbe. Da hört man, einer habe etwas Blödes gesagt oder den anderen nicht zu Wort kommen lassen. Die grossen Kriege entstanden aus nichtigen Gründen. Wenn man dann ein Buch schreibt, wird das etwas fokussiert dargestellt und überhöht. Aber ich denke, da die Kränkung verdrängt wird, darf man sie durchaus in den Vordergrund stellen.

Beobachter: Die Internationale Klassifikation der Krankheiten führt «Kränkung» unter «paranoide Persönlichkeitsstörung», wie «fanatisch» oder «querulatorisch».
Haller: Aber als eigenständiger Begriff ist sie nicht enthalten. Die Störung, die ihr am nächsten käme, die chronische Verbitterungsstörung, wurde auch nicht aufgenommen. Sie würde es mehr verdienen, weil sie inzwischen weit verbreitet ist. Sie ist auch wichtige Ursache von Frühpensionierungen.

Beobachter: Die Tötung Abels gilt als Urverbrechen der Menschheit. Gott sah Abels Weidetiere mit Wohlgefallen, aber würdigte Kains Gemüsegärten nicht.
Haller: Ich finde zwei Dinge daran speziell. Zum einen die wunderbare Beschreibung der Kränkung. Als Gott erkennt, dass Kain beleidigt ist, sagt er: «Du trägst in dir ein lauerndes Tier.» Zum andern die Auflösung: Er sagt, wie man diesen Teufelskreis der Kränkungen durchbrechen kann. Durch eine mildere Strafe – und letztlich mit Verzeihen. Weil sonst die Gefahr besteht, dass sich die Kränkung von Generation zu Generation fortsetzt und wir Verhältnisse haben wie bei der Blutrache in Sizilien. 

Beobachter: Eine Heilung ist demnach nur durch Verzeihen möglich?
Haller: Wir sind immer darauf bedacht, dass es keine Kränkungen mehr gibt. Aber das ist vollkommen unmöglich. Man kann nicht nicht gekränkt sein, und man kann nicht nicht kränken. Oft kränkt man ja, ohne es zu wissen. Also muss man lernen, damit umzugehen. Das Allerwichtigste ist, dass man dazu steht. 

Beobachter: Indem man sagt: Das hat mich gekränkt.
Haller: Ja. Es ansprechen: So verliert die Kränkung den Charakter des Untergrundkampfs. Sie wird identifiziert, als Problem dargestellt. Man muss versuchen, so gut es geht darüberzustehen, um darüber bestimmen zu können: Ist die Person so wichtig für mich, dass sie mich überhaupt kränken kann? Welche Kränkung lasse ich zu, was kann ich ihr entnehmen? Wenn man diese Dinge analysiert, ist das Problem natürlich nicht gelöst. Aber man hat einen bewussten Umgang und ist so viel eher Herr oder Frau im Ring.

Beobachter: In einem Vortrag sagten Sie, sowohl Flüchtlinge wie die heimische Bevölkerung seien gekränkt. Wer kränkt wen und warum?
Haller: Wenn man dem Flüchtling das Gefühl gibt, man will dich nicht und du bist nichts wert, dann ist das eine grosse Kränkung. Bei Flüchtlingen geht oft vergessen, dass in ihren Ländern die Gastfreundschaft einen anderen Stellenwert hat als bei uns. Umgekehrt sind Leute, die massiv gegen Flüchtlinge auftreten, nicht einfach nur böse. Diese Menschen befürchten, ihre Kultur gehe verloren und ihre Rechte werden beschnitten. Sie erleben das ebenfalls als Kränkung.

Vier Kränkungen, die zu Morden führten
  1. Friedrich (Fritz) Leibacher, Attentäter von Zug, 2001
    Der 57-Jährige erschoss während der Session des Zuger Kantonsrats 14 Parlamentarier und richtete sich dann selber. Der IV-Rentenbezüger fühlte sich von staatlichen Stellen ungerecht behandelt und drohte mit einem «Tag des Zorns für die Zuger Mafia».
     
  2. Tim K., Amokläufer von Winnenden (D), 2009
    Der 17-Jährige hätte zur Klassenfahrt nach Rom aufbrechen sollen – doch kein Mitschüler wollte mit ihm das Zimmer teilen. K. erschoss 15 Menschen. Seine Eltern und seine Schwester leben mit neuer Identität an einem neuen Ort.
     
  3. Sabine R., Amokläuferin von Lörrach (D), 2010
    Die 41-jährige Rechtsanwältin erschoss ihren Mann, erstickte ihren Sohn, legte Feuer und erschoss einen Angestellten der Klinik, in der sie Jahre zuvor eine Fehlgeburt erlitten hatte. R. wurde von der Polizei erschossen.
     
  4. Simon S., Amokläufer von Salez SG, 2016
    Der 27-jährige Werkstudent galt als Einzelgänger und stellte Frauen nach. Er legte im Regionalzug im Rheintal Feuer und stach auf die Passagiere ein. Zwei Frauen und der Täter starben.

Beobachter: In Lörrach bei Basel lief 2010 eine 41-Jährige Amok, tötete ihren Mann, erstickte ihren Sohn und erschoss einen Mitarbeiter einer Klinik. Warum sind Amokläuferinnen so selten?
Haller: Solche Tragödien, die man im weitesten Sinn als Familientragödien bezeichnet, haben oft damit zu tun, dass es einen länger dauernden Rosenkrieg gab und dass der, der verliert – meist ist es der Mann –, das nicht erträgt und sich schwört: «Einmal werde ich noch recht haben, einmal werdet ihr mich noch ernst nehmen.» Dann gibt es solche Exzesse. Dass die Frau zur Klinik ging, deutet darauf hin, dass sie schon wahnhaft interpretiert hat, dass die schuld sind. Aber es ist völlig richtig, Frauen sind für weniger als ein Prozent der Amokläufe verantwortlich. Im Übrigen verliert eine Frau eine partnerschaftliche Auseinandersetzung nur sehr selten. Wenn das trotzdem geschieht, wird die Frau eine ähnliche Entwicklung durchmachen wie ihre männlichen «Tatkollegen». 

Beobachter: Wie haben sich die Erklärungsmuster im Lauf Ihrer Karriere geändert?
Haller: Was wir Gerichtspsychiater als Erklärungen bringen, sind nichts anderes als Hypothesen und Privatmeinungen. Und sie sind tatsächlich stark vom Zeitgeist abhängig. Ich muss das sagen mit meinen 65 Jahren. Als ich ein junger Gutachter war, interessierten die Opfer von sexuellem Missbrauch überhaupt nicht. Man wollte nur wissen, was mit dem Täter war, ob er eine schlimme Kindheit hatte. Da war der Zeitgeist stark auf Entschuldigung ausgerichtet. Wenn man sagte, das Opfer habe aber auch einiges erlitten, wurde das gar nicht gehört. Dann änderte sich alles, man rückte den Fokus stark aufs Opfer. Beim Täter hört man nur noch: Kopf ab, Schwanz ab, für immer einsperren und Ähnliches. Dort fehlt mir teils der therapeutische Gedanke. Der Täter war vielleicht auch Opfer. Bei den Pädophilen ist mindestens jeder Fünfte selbst als Kind missbraucht worden. Solche Dinge interessieren heute überhaupt nicht mehr. Ich finde es ausgesprochen gut, dass die Opfer am wichtigsten sind, aber dass die Täter nicht unter empathischen Gesichtspunkten betrachtet werden, bedaure ich. Wer keine Empathie hat, kann der Sache nicht gerecht werden und etwas nachvollziehen. Aber man darf Verständnis nicht verwechseln mit Entschuldigen.

Zur Person

Reinhard Haller, 65, leitet seit mehr als 30 Jahren die Klinik für Suchtpatienten im österreichischen Frastanz bei Feldkirch. Als Gerichtspsychiater hat er über 400 Mörder begutachtet. Er ist Autor mehrerer Bücher, darunter «Die Macht der Kränkung» (2015, 248 Seiten, CHF 31.90) und «Nie mehr süchtig sein» (2017, 244 Seiten, CHF 36.90).

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