Ein Flur, weiss gestrichen, lang und kahl. Und mittendrin der sechsjährige Karl. «Der Junge sass völlig verloren auf einer Bank und weinte still in sich hinein», erinnert sich Bernhard Franke. Er habe ihn in den Arm genommen und getröstet. «Ich mache so etwas sonst nie. Aber in dieser Situation war es mir wichtiger, als Mensch da zu sein, als mit professioneller Distanz zu reagieren.»

Bernhard Franke ist Berufsbeistand, Karl einer seiner Schutzbefohlenen. Der Flur befindet sich im Kriseninterventionszentrum für Jugendliche und junge Erwachsene der Psychiatrie Neuhaus in Ittigen bei Bern. Eigentlich hat Karl hier nichts verloren. «Aber in der Kinderstation war einfach nichts zu machen. Karl war zwar dringlich ärztlich eingewiesen worden. Doch alles war belegt», sagt Franke.

Spucken, schreien, stehlen

Auf einen freien Platz zu warten, war keine Option. Karl, der Kindergärtler, terrorisierte seine Gspänli, griff die Erzieherinnen an, riss an Haaren, spuckte, schrie, trat, stahl, fluchte. Warf mit Mobiliar um sich. Der Sechsjährige drohte auch, sich umzubringen. Selbst Medikamente nützten nichts.

Karls Vater ist ein verurteilter Gewalttäter und Drogendelinquent. Ein grober, bösartiger Mensch, der damals gerade des Landes verwiesen wurde. Die Mutter ist psychisch krank, trotz einer engagierten Familienbegleitung unfähig, sich richtig um ihre zwei Kinder zu kümmern. Die Wohnung ist total verwahrlost. Und Karls nur gerade mal ein Jahr ältere Schwester füllt das Machtvakuum, dirigiert ihn und die Mutter herum.

Die Situation eskaliert, als die Mutter die Wohnung kündigt, ohne eine neue in Aussicht zu haben. Sie kommt in einer Frauenwohngemeinschaft unter. Die Kinder müssen in die Kindernotaufnahme. Als die Mutter erfährt, dass man die Kinder an einem anderen Ort unterbringen wird, will sie sich das Leben nehmen. Sie springt vor den Augen des Notfallpsychiaters aus dem Fenster, verletzt sich schwer. Nach dem Spitalaufenthalt wird sie in die Psychiatrie eingewiesen. Erst fast ein Jahr später kann sie in eine Institution eintreten, wo sie Betreuung und eine Tagesstruktur erhält. Hier lebt sie heute noch.

«Karl ist nicht mehr tragbar»

Für das Mädchen war die Kindernotaufnahme eine gute Zwischenlösung. Nicht so für den sechsjährigen Karl. Am 24. Juni entschied die Institution: «Karl ist nicht mehr tragbar und muss die Einrichtung verlassen.» Eine stationäre psychiatrische Behandlung war unausweichlich. Doch dann gab es in der Kinderpsychiatrie keinen Platz für ihn.

Es kommt immer wieder vor, dass Kinder notfallmässig in ungeeignete psychiatrische Institutionen überwiesen werden müssen, weil ein kindgerechter Platz fehlt. Fachleute sprechen von einem eigentlichen Notstand in der Kinder- und Jugendpsychiatrie.

«Wir haben Mühe, geeignete Mitarbeiter zu finden. Auf unsere Stelleninserate meldet sich fast niemand.»

 

Christine Gäumann, Geschäftsleitung Integrierte Psychiatrie Winterthur-Zürcher Unterland

Eine Studie im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit vom Oktober 2016 bestätigt den Mangel. In der Schweiz gebe es eine «deutliche Unter- und Fehlversorgung» für psychisch kranke Kinder und Jugendliche. «Betroffen sind alle Regionen und Angebotsformen.» Also Stadt und Land, ambulante und stationäre Therapieplätze. Weiter heisst es: «Mitunter müssen Jugendliche in Einrichtungen für Erwachsene untergebracht werden.» Und dort ist nicht nur das Umfeld ungeeignet. Das medizinische Personal ist schlicht nicht geschult für den Umgang mit den kleinen Patienten.

Die Kinder- und Jugendpsychiatrien sind zum Bersten voll. Was das bedeutet, erlebt Ulrich Müller-Knapp täglich. Er ist Chefarzt der Klinik Sonnenhof in Ganterschwil SG. Beschaulich ist nur das Dorf, in der Klinik herrscht Hochbetrieb. 39 Betten stehen für den Normalbetrieb zur Verfügung. Doch in der Regel müssen mehr als 40 Kinder und Jugendliche gleichzeitig betreut werden.

Die Zahl der Notfälle nimmt zu

«Unsere Teams sind oft an der Belastungsgrenze. Und die Warteliste ist lang», sagt der Chefarzt. «Zum Glück ist es bisher weder in der Wartezeit noch während der Behandlung zu schwerwiegenden Zwischenfällen gekommen.» Notfälle wie suizidgefährdete oder hochaggressive Jugendliche würden an der Warteliste vorbeigeschleust. 2016 waren 40 Prozent der Eintritte Notfälle. 2013 waren es noch 31 Prozent gewesen.

Zu einer ordentlichen Aufnahme gehört ein Vorbereitungsgespräch. Das sei bei Notfällen nicht möglich, sagt Müller-Knapp. Mitunter scheitern Therapien dann am Widerstand der Jugendlichen – oder der Eltern. «Häufig ist die ganze Familie sehr belastet. Man fragt sich: Wieso sind sie nicht schon viel früher gekommen?»

Zu wenig Betten, zu wenig Fachkräfte – es mangelt an vielem

Ein wenig entspannter ist die Situation im Kanton Zürich. Hier hat man zusätzliche Plätze geschaffen. In Spitzenzeiten fehlen allerdings immer noch Betten. Der Ausweg führt auch hier in die Erwachsenenpsychiatrie.

Der Bettenmangel sei nur eines von vielen Problemen, sagt Christine Gäumann, Mitglied der Geschäftsleitung der Integrierten Psychiatrie Winterthur-Zürcher Unterland. Es gebe auch einen Mangel an Fachkräften, bei den Ärzten wie beim Pflegepersonal. «Wir haben Mühe, geeignete Mitarbeiter zu finden. Auf unsere Stelleninserate meldet sich fast niemand.»

Früher habe man Mitarbeitende aus Deutschland rekrutieren können, «heute ist diese Quelle versiegt». Die Anstellungsbedingungen für Psychiatriepflegende hätten sich in Deutschland bedeutend verbessert.

«Unser Berufsstand ist überaltert. Der Nachwuchs fehlt auch, weil Kinder- und Jugendpsychiater weniger verdienen als alle anderen Ärzte.»

 

Alain Di Gallo, Co-Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie

Neuere Studien gehen davon aus, dass bis zehn Prozent der Kinder und Jugendlichen unter psychischen Störungen leiden, die man behandeln müsste. Darunter Angsterkrankungen und Depressionen, Ess- oder Borderline-Störungen. «Viele brauchen Hilfe. Nicht alle bekommen sie», sagt Alain Di Gallo, Co-Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie.

Ein Problem sieht Di Gallo beim Mangel an ambulanten Therapieplätzen: Es gibt zu wenig Kinder- und Jugendpsychiater mit eigener Praxis. «Unser Berufsstand ist überaltert», sagt Di Gallo. «Der Nachwuchs fehlt auch, weil Kinder- und Jugendpsychiater weniger verdienen als alle anderen Ärzte.» Dazu kommt, dass sehr viel Beziehungsarbeit nötig ist: Gespräche mit Eltern, Schulbesuche, Austausch mit Lehrern und Sozialarbeitern.

Jetzt soll es noch schlechter kommen. Die Tarife für Leistungen in Abwesenheit des Patienten sollen gekürzt werden.

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Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Familien leiden besonders

Ob Kinder und Jugendliche heute psychisch anfälliger sind als früher, lässt sich nicht schlüssig beantworten. Sicher ist, dass Unangepasste in Kindergarten und Schule schneller auffallen. Da heisst aber nicht automatisch, dass sie die richtige Hilfe bekommen.

«Wenn die Koordination zwischen Kinderärzten, Schule, Kinder- und Jugendhilfe sowie Psychiatrie nicht funktioniert, können die Angebote nicht optimal genutzt werden», sagt Di Gallo. Zudem ist das Angebot in einzelnen Regionen ungenügend.

Speziell bitter: Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Familien leiden besonders unter den langen Wartelisten, zeigt die Studie im Auftrag des Bundesamtes für Gesundheit.

«Es braucht mehr Plätze für Kinder und Jugendliche in akuten Krisen.»

 

Ulrich Müller-Knapp, Chefarzt Klinik Sonnenhof, Ganterschwil SG

Ausserdem wächst eine spezielle Gruppe von Betroffenen: Kinder und Jugendliche, die als Flüchtlinge in die Schweiz kamen und durch Kriegserfahrungen belastet sind. «Traumatisierungen können die Integration massiv erschweren», sagt Christina Gunsch von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Uniklinik Zürich. Wenn diese Kinder nicht frühzeitig erfasst würden, landeten sie später in der Erwachsenenpsychiatrie – mit noch grösseren Problemen. «Für den Staat bedeutet das horrende Folgekosten.»

«Es braucht mehr Plätze für Kinder und Jugendliche in akuten Krisen», sagt Ulrich Müller-Knapp, Chefarzt der Klinik Sonnenhof. Noch besser wäre es, wenn Schwierigkeiten bereits vorher in Wohngruppen oder Sonderschulheimen mit ambulanten Therapien bewältigt werden könnten. «Damit könnten teure und aufwendige Klinikaufenthalte vermieden werden.»

Doch die problematische Situation wird sich wohl nicht so rasch ändern. Das Bundesamt für Gesundheit will erst Datengrundlagen über die genaue Häufigkeit von psychischen Erkrankungen erheben. Resultate sollen im Frühling 2018 vorliegen. «Dann können wir die nächsten Schritte planen.»