Und so etwas in der heilen Schweiz: Während Jahrzehnten zwangen Vormundschafts- und Fürsorgebehörden Männer und Frauen zur Sterilisation oder gar Kastration. So wurde der damals 16-jährige Peter Weiss* 1948 kastriert, weil seine Eltern arm waren und er deshalb über kurz oder lang zum Sozialfall geworden wäre. Und die 18-jährige Bernadette Gächter wurde 1972 von Fred Singeisen, Chefarzt der Psychiatrischen Klinik Wil SG, als «schwer psychopathisch» und «geistesschwach» abgestempelt und unter starkem Druck zur Abtreibung und Sterilisation gezwungen. Der Grund: Sie war unehelich schwanger geworden. Ihr Erbgut dürfe sich nicht verbreiten, meinte der Chefarzt im Gutachten. Singeisen hatte bereits ihre Mutter kastrieren lassen.

Bernadette Gächter ist heute 56 Jahre alt und Sachbearbeiterin bei einem St. Galler Kleinunternehmen. Peter Weiss ist 78 und lebt im Pflegeheim. Beide kämpfen für eine Wiedergutmachung. Und beide schöpften Hoffnung, als im November 2009 der Menschenrechtsausschuss der Uno in seinem dritten Länderbericht die Schweiz rüffelte, weil sie nichts getan hat, um die bis «1987 durchgeführten Zwangskastrationen zu entschädigen oder anderweitig wiedergutzumachen». Der Ausschuss empfahl der Schweiz, das «begangene Unrecht durch Formen der Genugtuung, einschliesslich einer öffentlichen Entschuldigung, wiedergutzumachen». Passiert ist nichts.

Beim Bundesamt für Justiz, das die Uno-Empfehlungen umsetzen müsste, sieht man keinen Handlungsbedarf. Das Parlament sei 2004 auf ein Gesetz zur Entschädigung der Zwangssterilisierten nicht eingetreten, sagt Sprecher Folco Galli. Deshalb müsse man für die Zwangssterilisierten überhaupt nichts unternehmen. Damit verkennt der Bund aber das eigentliche Anliegen der Betroffenen: Ihnen geht es nicht primär um eine Entschädigung, sondern um eine moralische Wiedergutmachung, eine Rehabilitierung durch eine öffentliche Entschuldigung, wie sie zum Beispiel die administrativ Versorgten im letzten September erfahren haben (siehe Artikel zum Thema «Rehabilitation: Tränen der Erleichterung»).

«In Bern oben kümmert man sich um jeden Blödsinn, aber nicht um diese Menschenrechtsverletzungen», kritisiert Bernadette Gächter. «Wir werden als unbequeme Altlasten abgestempelt und vergessen.» Sie fordert von den Behörden neben einer Entschuldigung auch die Sicherung der Akten. «Und zwar bevor die meisten Betroffenen gestorben sind.»

Unterstützung erhält Gächter von Historikern, denn Zwangssterilisationen und -kastrationen sind erst in Ansätzen erforscht. So kennt man nicht einmal das genaue Ausmass dieser Praxis. Und die Zeit drängt auch da: Wegen Platzproblemen in den Archiven werden wichtige Dossiers schlicht und einfach entsorgt. «Es wurden mehr Personen zwangssterilisiert als bisher angenommen», weiss Iris Ritzmann, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin des medizinhistorischen Instituts der Universität Zürich ein Forschungsprojekt zur Psychiatrischen Poliklinik des Kantons Zürich plant. Denn Akten schlummern nicht nur in Staatsarchiven, sondern auch in psychiatrischen Kliniken, ja sogar in chirurgischen Abteilungen der Spitäler. Es sei sehr wichtig, dass diese Akten jetzt gesichert und Gelder für die Forschung gesprochen würden, betont die Historikerin.

Auch da wäre der Bund also gefordert. Doch offenbar zieht er es vor, nichts zu tun – bis die letzten Zwangssterilisierten tot und die Akten geschreddert sind.