Gelegenheiten, einzugreifen, hätte es genug gegeben, mehr als genug: als Jens Freischmidt*, von angetrunkenen Jugendlichen angepöbelt, den Tramfahrer um Hilfe bittet. Als er als «Judennase» beschimpft und mit Bier übergossen wird und den Fahrer erneut auffordert, die Polizei zu rufen. Als er wenig später bewusstlos geschlagen und aus dem Tram gestossen wird. Als er um ein Handy bittet, weil bei seinem der Akku leer ist. Doch mehr als ein Dutzend Passagiere sowie der Fahrer schauen an diesem Abend in Zürich lieber weg. «Hätte mir nicht in letzter Sekunde ein Kanadier geholfen, wäre ich jetzt vielleicht nicht mehr am Leben», sagt Jens Freischmidt.

Es ist ein Freitagabend in diesem Frühling. Freischmidt ist bei Freunden zum Abendessen eingeladen. Gegen Mitternacht bricht der 45-jährige Architekt auf, nach Hause zu seiner Frau und den vier Kindern. Am Klusplatz nimmt er die Linie 15, das Tram ist noch fast leer. «Ich setzte mich direkt hinter den Fahrer, denn ich bin gern auf der sicheren Seite.» Er schaut hinaus, spürt am Bellevue, wie sich hinter ihm das Tram füllt.

Der Chauffeur will nicht gestört werden

Haltestelle Helmhaus, fünf Jugendliche steigen ein, etwas angetrunken und Bierdosen schwenkend, es wird laut. «Keine Minute war vergangen, da zog mich einer von hinten an den Haaren», sagt Freischmidt. Er dreht sich um: «He, was soll das? Hör auf, sonst rufe ich die Polizei.» – «Ey, was ist los?», entgegnet der andere, spielt den Unschuldigen. Freischmidt geht zum Fahrer, «ich klopfte höflich an die Scheibe und bat ihn, Hilfe zu holen, sonst eskaliere die Situation». Er fahre gerade, entgegnet dieser, er könne jetzt nichts tun. Freischmidt setzt sich wieder. «Ich glaubte noch, dass mir schon jemand helfen würde, sollte es ernst werden.»

Stellungnahme der VBZ: «Der Fahrer hat es erst bemerkt, als es zu spät war»

Die Zürcher Verkehrsbetriebe (VBZ) erklären gegenüber dem Beobachter, der Tramchauffeur habe das Geschehen im Tram «erst bemerkt, als es zu spät war». Die VBZ hätten dem Fahrgast jedoch «unverzüglich danach gute Genesung gewünscht». Das fragliche Tram war nicht mit einer Videoüberwachung ausgestattet.

Zur Frage, ob der Tramführer richtig gehandelt habe, äussern sich die VBZ nicht; der Sachverhalt sei «Gegenstand der laufenden Untersuchungen der Staatsanwaltschaft». Sie bestätigen aber, dass der Tramchauffeur jederzeit mit einem Notrufknopf über die Leitstelle hätte Hilfe anfordern können.

Weniger als eine Minute später wird es das. «Judennase», beleidigt ihn der Anführer der Fünfergang und begiesst ihn mit Bier. Freischmidt fordert den Fahrer erneut auf, die Polizei zu alarmieren. Wieder lehnt dieser ab. Freischmidt zückt sein Handy, doch der Akku ist leer. «Das war ein Tiefschlag, weil ich ahnte, dass ich nun auf mich allein gestellt sein würde.» Freischmidt, von kräftiger Statur, dreht sich um, da steht der Anführer direkt neben ihm. «Hau ab», sagt Freischmidt. «Ey, fass mich nicht an», entgegnet der andere, rudert mit den Armen und knallt seine linke Faust an Freischmidts Hinterkopf. Das Tram ist halbvoll, alle schauen zu, wie Freischmidt taumelt, das Bewusstsein verliert. Haltestelle Central. Die Türen öffnen sich, nun geht es schnell: Einer stösst Freischmidt aus dem Tram, der fällt zu Boden, spürt Fusstritte und Faustschläge, die Täter flüchten, die Brille ist zersplittert.

Die Polizei hat keine Zeit

Erst jetzt greift ein Passagier ein, steigt aus, schüttelt Freischmidt, bis dieser wieder zu Bewusstsein kommt. Freischmidt stolpert reflexartig zurück ins Tram, «weil ich glaubte, dort am sichersten zu sein». Er wendet sich ein drittes Mal an den Fahrer. «Ich brauche ein Handy!», schreit er. Nichts passiert. Der Passagier, der ihm zuvor auf die Beine geholfen hat, ist Kanadier und spricht kein Deutsch, bietet ihm aber sein Handy an. Freischmidt ruft die Polizei an und beschreibt, so gut es geht, die Täter. Der Beamte bittet ihn, am Tag darauf auf die Wache zu kommen. Es sei nicht möglich, sofort jemanden vorbeizuschicken. «Ich war so erschöpft und frustriert und legte auf. Ich hatte starke Schmerzen und wusste nicht mehr, wo ich aussteigen musste.»

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Quelle: PASCAL MORA

Bucheggplatz, Endstation. Als Freischmidt aus dem Tram torkelt und dem Fahrer zuschreit, er hätte wirklich Hilfe erwartet, stemmt dieser die Hände in die Hüften und sagt: «Das ist nicht meine Aufgabe.» Pfff, die Türen schliessen sich, der Chauffeur fährt ins Depot. Feierabend.

In der Notaufnahme untersucht ihn ein Arzt nach dem anderen: Prellungen, zentraler Gesichtsnerv geschädigt, linke Gesichtshälfte taub, Schädelfraktur und Orbitaboden unter dem linken Auge gebrochen. Ohne sofortige Operation würde er erblinden. «Erst da wurde mir klar, welche Folgen diese Attacke hat.» Selbstzweifel («Hätte ich zurückschlagen sollen? Bin ich zu forsch aufgetreten für einen Vater von vier Kindern? Was hätte ich anders machen können?») mischen sich mit Wut, auch auf den Tramfahrer, und Angst.

Die Angst vor dem Tramfahren bleibt

Zweieinhalb Monate nach der Attacke sind die Narben verheilt, aber nur äusserlich: «Die Taubheit in Wange und Nase lässt nur langsam nach, ich verschütte manchmal etwas und muss mich anstrengen, deutlich zu sprechen.» Weil das Sehfeld noch eingeschränkt ist, darf er nicht Auto fahren. Tramfahren macht ihm aber Angst: Was, wenn er in einem Notfall wieder an denselben Fahrer geraten würde?

«Nachhaltig erschüttert» hat ihn, dass ausser dem Kanadier keiner eingegriffen hat. «Es schauten einfach alle weg – das hätte ich nicht für möglich gehalten.» Nur eine einzige Frau kontaktierte die Polizei, auf den Zeugenaufruf hin meldete sich aber keiner mehr. Im Nachhinein will der Tramfahrer Freischmidt nicht bemerkt haben. Es gilt die Unschuldsvermutung.

«Ein Zeuge, der mein Gespräch mit dem Chauffeur bestätigt oder die Täter identifiziert, hätte mir sehr geholfen.» Jens Freischmidt hat das Vertrauen in die Öffentlichkeit verloren.

*Name geändert

Unser Video-Experiment: Zeigen Menschen Zivilcourage?