Wann waren Sie das letzte Mal mutig?
Seit ich das Amt als Regierungsrätin aufgegeben habe, brauche ich jeden Tag Mut, mein Leben neu zu erfinden.
Braucht es Mut, die Jury des Prix Courage zu präsidieren?
Nein, ich bin es gewohnt, Sitzungen zu leiten und in der Öffentlichkeit aufzutreten. Es ist aber eine sehr spannende Aufgabe und eine Chance, unterschiedlichste Menschen kennenzulernen.
Welches Signal wollen Sie als Jurypräsidentin aussenden?
Zivilcourage ist ganz wichtig für das Zusammenleben in der Gesellschaft – das geht leider oft etwas unter. Man sollte jeden Tag Menschen auszeichnen, die etwas Aussergewöhnliches gemacht haben.
Das gesamte Interview finden Sie hier.
Meine mutigste Tat: Als junger Assistenzarzt auf der Kinderonkologie sterbende Kinder und trauernde Eltern zu begleiten, war etwas vom Schwierigsten, das ich je gemacht habe. Innerlich wäre ich da gerne oft einfach weggerannt…
Hier wäre ich gerne mutiger gewesen: Als Kind, wenn andere Kinder ausgegrenzt und geplagt wurden
Der mutigste Mensch der Geschichte: Mahatma Ghandi
Ich bin in der Jury, um etwas sehr wichtiges zu unterstützen. Zivilcourage ist in der heutigen doch recht selbstbezogenen Zeit wichtiger denn je.
Nils Melzer ist Professor für internationales Recht. 2016 wurde er vom Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen zum Sonderberichterstatter für Folter ernannt. In dieser Funktion machte er sich mit seinem unerschrockenen Einsatz für Wikileaks-Whistleblower Julian Assange einen Namen.
Seit Mitte 2022 leitet Melzer die Abteilung Völkerrecht, Grundsätze und Humanitäre Diplomatie beim Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). Er war bereits in früheren Jahren als Rechtsberater und Abgesandter in Kriegs- und Krisengebieten für das IKRK tätig.
Nils Melzer, warum stellen Sie sich für die Jury des Prix Courage zur Verfügung?
Weil es wichtig ist, Menschen hervorzuheben, die sich mit dem breiteren Allgemeinwohl identifizieren und mit Zivilcourage handeln, auch wenn sie damit Risiken auf sich nehmen. Für mich persönlich war die Nomination auch eine wichtige Anerkennung. Man wird dadurch Teil einer neuen Allianz, die helfen kann, im öffentlichen Diskurs ein Gegengewicht zu Angst und Gleichgültigkeit zu setzen.
Für den Beobachter Prix Courage werden immer wieder Whistleblower nominiert. Was zeichnet diese Leute aus?
Den meisten Menschen fällt es schwer, sich zu exponieren, selbst wenn es für eine gerechte Sache ist. Aber Whistleblower können es schlicht nicht mit ihrer Identität und Integrität vereinbaren, Missstände totzuschweigen. Wenn system-intern die Selbstheilungskräfte fehlen oder ausgeschaltet sind, wenden sich Whistleblower an die Öffentlichkeit. Das sind mutige und wichtige Menschen – sie sind quasi der Rauchmelder im Gebäude der Gesellschaft.
Trotzdem sind Whistleblower gerade in der Schweiz rechtlich sehr schlecht geschützt.
Und das ist ein Problem: Wenn solche Menschen verfolgt, eingeschüchtert und bestraft werden, können Missstände unerkannt weiter wuchern. So entstehen rechtsfreie Räume, die nach und nach die ganze Gesellschaft aushöhlen. Das geht rasend schnell.
Warum schlägt Whistleblowern meistens Ablehnung entgegen?
Weil sie uns mit unbequemen Wahrheiten konfrontieren. Um beim Bild des Feueralarms zu bleiben: Es ist halt mühsam, wenn man das ganze Gebäude evakuieren muss, um einen kleinen Brand zu löschen. Aber wenn man die Rauchmelder ausschaltet, dann ist das nächste Mal, wenn man wieder hinschaut das Feuer bereits im ganzen Haus.
Whistleblower werden auch oft persönlich angegriffen und als Nestbeschmutzer verunglimpft.
Missstände zu melden heisst oft, sich gegen die eigenen Leute zu stellen. Der Vorwurf des «Nestbeschmutzers» ist in diesem Zusammenhang ein besonders gefährliches und irreführendes Bild. Wer auf Missstände aufmerksam macht, weist lediglich auf den Schmutz hin, der bereits im Nest liegt – die Beschmutzer sind die anderen.
Im Fall des Wikileaks-Gründers Julian Assange sind Sie selbst zum Whistleblower geworden. Hat sich Ihr Einsatz trotzdem gelohnt?
Diese Frage stellt sich für mich gar nicht. Mit meinem Einsatz für Assange habe ich den Rechtsstaat und die Gerechtigkeit verteidigt, und damit letztlich auch mich selbst und meine Familie.
Im Rahmen des Prix Courage werden nicht nur Whistleblower ausgezeichnet, sondern ganz unterschiedliche mutige Taten. Worin unterscheidet sich der Mut eines Whistleblowers von dem eines Lebensretters?
Ein Whistleblower hat oft länger Zeit, sich sein Vorgehen zu überlegen als ein Lebensretter, der spontan eingreifen muss. Die Unvermeidlichkeit ist letztlich aber dieselbe, denn beide identifizieren sich mit einem grösseren Allgemeininteresse und haben im Grunde gar keine Wahl. Daher empfinden sie ihr Eingreifen in der Regel auch nicht so sehr als selbstlose Aufopferung, sondern eher als eine Art überpersönliche Selbstverteidigung.
«Wenn ich über meine Vergewaltigung spreche, fühlt es sich jedes Mal an, als würde ich mich nackt ausziehen», sagt Cindy Kronenberg. Jedes Wort, jede Erinnerung daran schmerzt. Trotzdem tut sie es immer und immer wieder. In Gesprächen mit Betroffenen, mit Journalisten und mit Parlamentarierinnen. Sie tut es für die rund 430'000 Frauen in der Schweiz, die laut Amnesty International schon Geschlechtsverkehr gegen ihren Willen gehabt haben.
Für sie alle hat die 29-jährige Luzernerin die Plattform Vergewaltigt.ch gegründet. Dort tauscht sie sich mit anderen Betroffenen aus. Vielen Opfern von sexueller Gewalt fehlt es an Unterstützung und an wichtigen Informationen. Immer wieder wird ihnen aber auch eine Mitschuld gegeben. Dagegen kämpft Cindy Kronenberg an. «Egal, ob man getrunken oder geflirtet hat, egal, ob es ein Fremder oder ein Ehemann war, egal, ob man sich gewehrt hat oder in Schockstarre verfallen ist – es ist nie okay, wenn die sexuelle Selbstbestimmung missachtet wird.»
Für ihren Mut und ihr Engagement wurde Cindy Kronenberg 2021 mit dem Prix Courage ausgezeichnet.
Nadya und Candid Pfister verloren im August 2017 ihre einzige Tochter Céline durch Suizid. Die 13-Jährige wurde wochenlang per Smartphone gemobbt. Seither kämpfen Pfisters unter dem Hashtag #Célinesvoice für den Straftatbestand Cybermobbing, für eine härtere Bestrafung der Täter und dafür, dass Schulen, Jugendliche sowie die Gesellschaft stärker für das Thema sensibilisiert werden.
Das Ehepaar führt sein Engagement für Jugendliche auf den sozialen Medien fort. «Wir wollen für gemobbte Junge in Not immer erreichbar sein», sagt Candid Pfister. «#Célinesvoice soll den jungen Menschen ins Herz reden. Damit sie im Netz nicht zu Mobbern werden. Und wenn doch, dass sie mit schärferen juristischen Konsequenzen rechnen müssen», sagt Nadya Pfister.
An einem Samstagabend steigt Iluska Grass am Zürcher Manesseplatz aus dem Bus. Sie hört Schreie, rennt los und stellt sich zwischen angetrunkene Rechtsradikale und einen am Boden liegenden orthodoxen Juden. Die Skins hatten den Mann verfolgt, bespuckt und mit Naziparolen verhöhnt. «Ich habe nicht gross überlegt, sondern einfach gehandelt», sagt Iluska Grass. So hat sie Schlimmeres verhindert. Der Haupttäter war ein mehrfach vorbestrafter Neonazi.
Aufgrund von Grass’ Aussagen wurde er wegen Rassendiskriminierung und Tätlichkeiten zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Er ficht das Urteil jedoch an. Ende Februar 2019, fast vier Jahre nach der Tat, spricht ihn auch das Zürcher Obergericht schuldig. Seine Haftstrafe wird auf zwölf Monate reduziert, er muss dem Opfer 3’000 Franken Genugtuung zahlen.
Für ihren Mut und ihre Menschlichkeit wurde Iluska Grass 2019 mit dem Prix Courage ausgezeichnet.
Natalie Urwyler ist Ärztin und Mutter. Eine Frau. Kein Arzt, kein Mann, kein Papi. Genau das – ihr Geschlecht – wird ihr zum Verhängnis. «Ich verlor alles: Job, Karriere, Renommee», sagt die 46-Jährige. Urwyler arbeitete 11 Jahre lang an der Klinik für Anästhesiologie und Schmerztherapie am Inselspital Bern. Sie forschte im Ausland und holte Forschungsgelder für die Uniklinik. Sie war eine Nachwuchshoffnung, eine angehende Professorin.
Nach der Geburt ihrer Tochter kam es zum Bruch. Im Juni 2014 wurde ihr gekündigt «aufgrund eines komplett zerrüttenden Vertrauensverhältnisses». Die Ärztin hatte wiederholt den ungenügenden Schutz von Schwangeren am Inselspital kritisiert, lange, bevor sie selber Mutter wurde. Sie wehrte sich gegen die Benachteiligung von Frauen, forderte einen besseren Mutterschutz. Nach der Kündigung machte Urwyler vor Gericht eine systematische Diskriminierung geltend und zwei Instanzen gaben ihr vollumfänglich recht.
Für ihren Mut und ihre Hartnäckigkeit wurde Natalie Urwyler 2018 mit dem Prix Courage ausgezeichnet.