Ein Eintrag, wie er im Buche steht: «Liebes Tagebuch, heute hat meine Mutter kein einziges Mal auf mir herumgehackt, weil ich einen neuen Freund habe. Ich weiss gar nicht, warum sie gestern so zickig war. Aber vielleicht war ja auch ich etwas zickig.» Oft vertrauen junge Mädchen dem Tagebuch ganz persönliche Erlebnisse, Gedanken und Reflexionen an, die sie selbst vor der besten Freundin geheim halten. Mit positiven Folgen: Wer regelmässig sein Innerstes zu Papier bringt, kommt seinen Gefühlen näher und lernt mit Konflikten umzugehen.

Auf diesen Prozess der Selbsterkenntnis liessen sich Jugendliche schon vor 150 Jahren ein, wie autobiografische Dokumente im Deutschen Tagebucharchiv im südbadischen Emmendingen bezeugen. Ein junges Mädchen hielt am 2. Juli 1870 in der Einführung zu seinen Lebenserinnerungen fest: «Ich will versuchen, so genau, wie ich kann, alles das aufzuschreiben, was ich bisher erlebt, gedacht und empfunden habe. Vielleicht hat dieses kleine Tagebuch noch den Zweck, dass ich mir über alles so recht klar werde.» Und eine 15-Jährige notierte am 17. Juni 1951: «Ich begann heute dieses Tagebuch, weil ich jemand brauche, dem ich auch mein Innerstes zeigen kann.»

Triebfeder beim Tagebuchschreiben ist die Frage nach der eigenen Identität. «Gerade bei jungen Mädchen ist das eine Hilfe zur Selbstreflexion und Konfliktlösung», erklärt Koni Rohner, Psychologe FSP und Lebensberater. Auch Einband und Format eines solchen «Journal intime» liegen den Jungautorinnen am Herzen. Hoch im Kurs steht immer noch das pinkfarbene Jungmädchentagebuch, versehen mit einem goldenen Schlösschen samt Schlüssel, der den Inhalt vor fremden Blicken schützt. «Wenn beispielsweise eine Mutter im Tagebuch ihrer Tochter schnüffelt, begeht sie einen massiven Vertrauensbruch, der schwerer wiegt als jede aufgedeckte Krisensituation», gibt Ratgeberautor Koni Rohner zu bedenken.

Grundsätzlich will man im Tagebuch seine Gegenwart für die eigene Zukunft bewahren und zeichnet eine persönliche Lebensspur auf. Auch Reiseerlebnisse und Naturphänomene bieten sie sich als Gedankenstützen an. Die einen schreiben ihre Beobachtungen und Erlebnisse Tag für Tag fein säuberlich zwischen zwei Buchdeckeln nieder, andere kritzeln spontan Kassenzettel oder lose Blätter voll. Wieder andere richten sich im Internet ein digitales Tagebuch ein, ein so genanntes Weblog, kurz Blog. Je nach Lust lässt man die Öffentlichkeit an seinem Seelenstriptease teilhaben und wartet auf mehr oder weniger gewichtige Kommentare. Dieses Online-Outing wird auch als «Klowand des Internets» bezeichnet.

Auf eine hochstehende Schreibe legte auch Urs Tremp aus St. Gallen Wert. Der 2014 verstorbene künstlerische Leiter der Gigeregg, einer Galerie für Phantastischen Realismus, wählte für seine Tagebuchblätter die lyrische Form. Mit dieser differenzierten Sprachkunst fange er eine momentane Stimmung ein und lasse sie später wieder aufleben. «Prosa ist mir zu banal», sagte er damals gegenüber dem «Beobachter». Situativ zu schreiben begonnen habe er 1982 «aus dem Schmerz heraus und aufgrund tiefster Verletzungen».

Impulse für das «kreative Tagebuch» vermittelt die Erwachsenenbildnerin und Therapeutin Kathrin Bohren aus Bern in Kursen und Einzelstunden. Die Teilnehmerinnen bekommen Anregungen, die den kreativen Prozess fördern. Sie tauchen in alltägliche Beobachtungen, Erfahrungen und persönliche Gefühle ein und geben sich dem Schreibfluss hin. «So entstehen neue Zugänge zum Alltag und zu sich selber», sagt die Seminarleiterin. Das neue Instrumentarium kann zu Hause leicht angewendet werden. In den fortlaufenden Gruppen sind meist ausschliesslich Frauen. «Tagebuchschreiben hat eine lange Tradition in der Frauenkultur», meint Kathrin Bohren.

Selbstgespräche von Schriftstellern

In der literarischen Kultur des deutschen Sprachraums gehören Tagebücher von Schriftstellern, die ihre Memoiren noch zu Lebzeiten unters Volk bringen, zur Tagesordnung. Ob Peter Handke, Christa Wolf oder Martin Walser: Sie führen schreibenderweise tiefsinnige Selbstgespräche und gehen dann damit auf Lesetournee.

Der Literatur-Nobelpreisträger Elias Canetti kanzelte dieses Gehabe schon 1965 mit deutlichen Worten ab: «Ein Tagebuch, das nicht geheim ist, ist keines, und die Leute, die anderen immer aus ihren Tagebüchern vorlesen, sollten lieber gleich Briefe schreiben oder besser noch Rezitationsabende über sich veranstalten.»

Wie das Tagebuch-Schreiben gelingt
  • Wählen Sie ein Heft oder ein Buch, dessen Gestaltung Ihnen besonders gut gefällt. Sie suchen sich damit nämlich einen Freund oder eine Freundin aus.
  • Versuchen Sie, beim Schreiben absolut ehrlich zu sein.
  • Finden Sie Ihren eigenen Rhythmus. Für die einen ist es hilfreich, regelmässig – sei es wöchentlich oder täglich – Eintragungen zu machen. Andere schreiben nur dann in ihr Tagebuch, wenn das Herz vor Freude überläuft oder wenn ein Leidensdruck da ist.
  • Notieren Sie nicht nur Ereignisse und Verhalten, sondern auch Ihr inneres Erleben.
  • Wehren Sie sich beim Schreiben nicht gegen aufkommende Gefühle und Stimmungen, sondern schauen Sie den Tatsachen ins Gesicht. Was niedergeschrieben ist, verliert an Bedrohlichkeit.
  • Bewahren Sie das Tagebuch an einem sicheren Ort auf. Lassen Sie es nicht offen herumliegen. Ohne Ihre Einwilligung darf es niemand lesen.
  • Mit dem Schreiben allein ist es nicht getan. Der grosse und wichtige nächste Schritt besteht nämlich darin, die Gefühle den anderen mitzuteilen. Das braucht Mut. Wer sich nur seinem Tagebuch öffnet, kann einsam werden.