Antwort von Christine Harzheim, Psychologin FSP und systemische Familientherapeutin:  

Heutzutage ist man sehr schnell bereit, herausforderndes Verhalten von Kindern zu pathologisieren, für krankhaft zu erklären. Als wäre es eine Fehlfunktion, eine Charakterschwäche oder eine Krankheit, wenn ein Kind «auffällt». Zu laut, zu wild, zu verträumt, zu eigensinnig für ein eng gefasstes Bild vom «normalen Kind» – und schon werden Kinderpsychiaterinnen und -psychologen aufgeboten.

Kinder drücken durch ihr Verhalten oft den Zustand ihrer inneren Welt aus. Sie können ihre Spannungen, Befürchtungen und Glücksmomente noch nicht in Worte fassen und dosiert mitteilen. Es geschieht einfach mit ihnen. Unmittelbar zeigen sie, wie es ihnen geht und was ihnen eventuell fehlt.

Dementsprechend ist aggressives Verhalten für Kinder eine wertvolle Möglichkeit, um auszudrücken, wenn sie unter übermässigem Druck stehen oder ihnen etwas Angst macht. Das heisst nicht, dass man tolerieren muss, wenn ein Kind tritt, beisst oder Sachen demoliert. «Ich will nicht, dass du mich haust, hör bitte auf!» ist eine wichtige Korrektur. Aber: Es braucht immer den Nachsatz: «Und ich merke, dass du wütend und gestresst bist, und es interessiert mich wirklich, was dich so sauer macht.»

Das Hirn reagiert auf Stress wie auf Schmerz

Das scheinbar destruktive Verhalten von Kindern hat häufig die gleiche Funktion wie die Warnlämpchen im Auto. Es signalisiert: Hier ist etwas in Schieflage, und es braucht dringend jemanden, der sich dafür interessiert und versteht, was nicht gut funktioniert.

Und doch wollen Erwachsene vor allem eines: dass das störende Verhalten aufhört.

Ein Autofahrer käme auch nicht auf die Idee, das Öl-Warnlämpchen zu entfernen, damit es endlich nicht mehr blinkt. Er weiss, dass er die Ursache kennen und den Schaden beheben muss. Das Lämpchen dient ihm als Hinweis, dass etwas Wichtiges in Gefahr ist.

Wenn man das Kind nur nötigt, sein Verhalten zu unterlassen, tut man genau das. Man ignoriert den Hinweis und nimmt grössere Schäden in Kauf.

«Ich merke, dass du wütend bist, und es interessiert mich, was dich so sauer macht.»

Christine Harzheim, Psychologin FSP und systemische Familientherapeutin

Gerade in der Schule geraten Kinder oft an ihre Grenzen. Die grosse Gruppe, die Bewertungssituation, Leistungsdruck und ein oft nicht an individuellen Möglichkeiten ausgerichteter Unterricht erzeugen Stress. Bei Kindern, die sich in einer Situation nicht zugehörig fühlen, ist dasselbe Hirnareal aktiviert wie bei körperlichen Schmerzen. Das zeigt die Forschung. Wer schon einmal starkem körperlichem Schmerz ausgesetzt war, weiss, wie schnell die Gelassenheit flöten geht und an ihre Stelle Reizbarkeit und impulsives Verhalten treten.

Ein Kind, das sich in der Schule aggressiv verhält, braucht also nicht sofort therapeutische Unterstützung, sondern Erwachsene, die seine Gefühle wahrnehmen und würdigen und ihm helfen, mit ihnen umzugehen. Das sorgt vielleicht nicht so schnell für Ruhe wie eine Sanktion, wirkt aber nachhaltig und schützt die Integrität des Kindes.

Was tun, wenn der Zweijährige beisst?

Solche Themen an eine psychologische oder psychiatrische Behandlung auszulagern kann im Einzelfall durchaus sinnvoll sein. Doch kindliche Aggression ist zunehmend zum Tabu geworden. Das hat den Massstab verschoben. Immer mehr an normalem, variantenreichem und der Entwicklung entsprechendem kindlichem Verhalten wird als problematisch empfunden. Eltern sind verunsichert und machen sich Sorgen um die psychische Gesundheit ihres Kindes, wenn der Zweijährige beisst, um sein Spielzeug zu verteidigen, die Dreijährige das Zähneputzen verweigert oder der Vierjährige im Kindergarten nicht im Kreis sitzen will.

Lassen Sie sich also durch die Rückmeldung der Lehrerin nicht verunsichern. Fragen Sie in Ruhe nach, wann Ihr Sohn wie reagiert. Versuchen Sie, mit ihm ins Gespräch zu kommen zu diesen Situationen, interessiert und ohne Vorwurf. Erzählen Sie ihm von eigenen Erfahrungen mit Wut und Hilflosigkeit. Und vor allem: Erwarten Sie keine sofortige Lösung. Verstehen und Lösen sind nachhaltige Entwicklungsprozesse für alle Beteiligten, die etwas Zeit brauchen.

Buchtipp

  • Jesper Juul: «Aggression. Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist»; Verlag Fischer, 2014, 172 Seiten, CHF 14.90.-