Nur schon der Gedanke ans Schreiben löste bei Reto K. Panik aus. Wann immer möglich drückte er sich davor. Und wenn das nicht ging, fühlte er sich innerlich wie gelähmt. Aus lauter Angst vor Fehlern machte er dann erst recht welche. Die Folge: «Ich war immer verunsichert und demoralisiert.»


Schon in der Schule stand Reto K. mit dem Schreiben auf Kriegsfuss. Er konnte noch so viel üben, sich noch so anstrengen: Seine Diktate glichen Schlachtfeldern. Reto K. kann sich nicht erinnern, dass sich ein Lehrer je die Mühe genommen hätte, den Grund für seine Schreibprobleme herauszufinden. Auch seine Eltern konnten ihm nicht helfen.


Von seinen Lehrern wurde er recht und schlecht durch die Schulzeit geschleppt. Erst Jahre später fand er den Mut zu einer Lehre. Der erfolgreiche Abschluss verlieh Reto K. so viel Energie, dass er bald zum Geschäftsführer eines Handwerksbetriebs aufstieg. Nun war er plötzlich gezwungen zu schreiben – und schämte sich seiner vielen Fehler.


Leben in ständiger Angst

Mit allen Mitteln versuchte Reto K. seine Schreibschwäche zu vertuschen. Er lebte in ständiger Angst vor dem Entdecktwerden. Mal hatte er gerade keine Zeit, ein Formular selbst auszufüllen, mal redete er sich mit Flüchtigkeitsfehlern heraus. Stück für Stück verlor er sein Selbstbewusstsein.


Seit dem Frühling besucht Reto K. nun einen Schreibkurs. Zum ersten Mal braucht er dort seine Probleme nicht mehr zu verheimlichen.


Seit mehr als zehn Jahren führt der Verein «Lesen und Schreiben» solche Kurse durch. Reto K. mit seiner Schreibschwäche ist ein typischer Teilnehmer. «Jene, die überhaupt nicht lesen und schreiben können, erreichen wir gar nicht», sagt Kursleiterin Maxa Goop. Vermutlich hätten die Betreffenden sich in ihr Schicksal gefügt, trauten sich nicht, zu ihrem Unwissen zu stehen – oder seien überzeugt, sowieso nichts lernen zu können.


Eine Studie der Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD), die seit 1995 in verschiedenen Ländern die Lesefähigkeit Erwachsener unter die Lupe nimmt, kommt zum Schluss, dass gegen zehn Prozent der Schweizerinnen und Schweizer kaum einen Alltagstext verstehen, geschweige denn schreiben können. Funktionaler Analphabetismus wird das Phänomen genannt: Obwohl die Betroffenen acht oder neun Jahre zur Schule gingen, sind viele schon überfordert, wenn sie eine Adresse im Telefonbuch suchen.


Die Ursache dafür ist gemäss Anton Strittmatter, Leiter der Pädagogischen Arbeitsstelle des Schweizer Lehrerverbands, «immer in einem unglücklichen Wechselspiel mehrerer individueller und schulischer Faktoren» zu suchen. Gefährdet sind beispielsweise Kinder, die daheim wenig Unterstützung in schulischen Dingen erhalten, wegen häufiger Wohnortswechsel in verschiedenen Schulhäusern zur Schule gehen und vom Lehrpersonal nicht die nötige erhöhte Zuwendung erhalten.


«Erwachsene, die nicht lesen und schreiben können, werden ausgegrenzt», weiss Maxa Goop. Wer keine Formulare ausfüllen und keine Verträge abschliessen kann, behördliche Rundschreiben und Abstimmungsunterlagen nicht versteht, steht am Rand der Gesellschaft. Funktionale Analphabeten werden schnell als dumm abgestempelt – und glauben es schliesslich auch.


Ein Aufruf an die Politiker

Dabei entspricht dies meist nicht der Realität – im Gegenteil: Wer sich ohne Schrift durchs Leben schlagen muss, legt sich oft unglaubliche Strategien zurecht und vollbringt Wahnsinnsleistungen, um das Manko wettzumachen. Maxa Goop hatte einen Kursteilnehmer, einen Detektiv, der sämtliche Rapporte im Kopf behielt und sie abends seiner Frau diktierte.


Wer die Schriftsprache nicht beherrscht, hat auch im Beruf denkbar schlechte Karten. «Der Druck im Beruf ist oft der Auslöser, dass sich jemand zum Kursbesuch durchringt», erklärt Maxa Goop. «Bis jemand aber diesen Schritt wagt, hat er meist einen langen Leidensweg hinter sich.»


Politische Massnahmen gegen Analphabetismus und die damit verbundene Ausgrenzung fehlen weitgehend. «Obwohl man schon lange darum weiss, wird das Problem nicht ernst genommen», ärgert sich Eliane Niesper, Koordinatorin des Vereins «Lesen und Schreiben». «Ohne politische und finanzielle Unterstützung sind wir weitgehend machtlos.»


Der Verein reichte deshalb im März bei den Bundesbehörden eine Petition ein.


Darin werden von Bund und Kantonen mehr finanzielle Mittel verlangt. Zudem soll das Recht auf eine Grundausbildung in der Verfassung verankert werden. Und das Gesetz soll die Kantone verpflichten, die Ausbildung benachteiligter Erwachsener zu fördern.


Die Petition wird derzeit in der zuständigen parlamentarischen Kommission behandelt und steht für Oktober auf der Traktandenliste des Nationalrats. Eliane Niesper räumt ihrem Vorstoss keine grossen Chancen ein: «Analphabeten haben keine Lobby.»




Weitere Infos


  • Verein Lesen und Schreiben für Erwachsene

    c/o Schweizerisches Arbeiterhilfswerk, Quellenstrasse 31, 8005 Zürich, Telefon 01/2731216, Fax 01/2725526

    Der Verein bietet Informationen und Adressen zu Lese- und Schreibkursen für Erwachsene. Kurse werden derzeit in folgenden Deutschschweizer Kantonen angeboten: Aargau, Basel, Bern, Freiburg, Graubünden, Luzern, Schaffhausen, Solothurn, St. Gallen, Zug, Zürich

    Unter der gleichen Anschrift ist auch die Broschüre «Lernkiosk für Lernungewohnte» erhältlich. Sie informiert über Bildungsmöglichkeiten für Erwachsene, die ein schulisches Nachholbedürfnis und eine geringe Grundbildung haben.
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