Lernen Kinder überhaupt etwas, wenn sie selber auswählen, was sie lernen wollen? Ein Schulbesuch in Herbetswil, einem Dorf im Solothurner Jura mit 536 Einwohnern. Die Primarschule wird gemeinsam mit der Nachbarsgemeinde Aedermannsdorf geführt. Im Klassenzimmer von Franziska Roth sitzen 21 Erst- und Zweitklässler im Kreis. Es ist Montagmorgen, die Kinder erzählen vom Wochenende. «Wir waren auf dem Vogelberg», sagt ein Bub. «Weisst du, wo das ist?», fragt die Lehrerin. «Im Kanton Baselland», antwortet ein Mädchen. «Im Westen», ein anderes. «Wo ist Westen?», will Lehrerin Roth wissen. «Wo die Sonne untergeht», sagt der Bub, der auf dem Vogelberg war, wie aus der Pistole geschossen. 21 Arme zeigen in die entsprechende Himmelsrichtung, dann nach Süden, Norden, Osten.

Die Kinder lernen mit Freude

Wenig später verlässt die Hälfte der Schülerinnen und Schüler das Klassenzimmer, um zum Werken zu gehen. Für die andere Hälfte ist eine sogenannte Reflexion angesagt: Sie sollen darüber nachdenken, was sie in den kommenden zwei Stunden lernen wollen. An der Tafel steht in grossen Buchstaben: «Ich rechne, lese, schreibe, zeichne, spiele.» Noël will im Schönschreibheft weitermachen. Leila ebenso. Aki will rechnen. Nathalie hat sich noch nicht entschieden. Lionel steht der Sinn nach Rummikub, einem Denk- und Rechenspiel. Janik und Ebubekir schliessen sich ihm an. Morena will in den Sprachordner schauen, Jasmin im Zahlenbuch arbeiten. Nathalie entscheidet sich für «Grundbausteine der Rechtschreibung».

Keine zwei Minuten dauert das. Anschliessend erinnert Franziska Roth mit fester Stimme daran, vor dem Loslegen den Eintrag ins «Lerntagebuch» zu machen. Zusammen mit dem «Lernjournal» der Lehrerin dient es zur Kontrolle über den Lernstand des Kindes und den kantonal verordneten Stoffplan, der zwingend zu erfüllen ist. Jedes Kind vermerkt in einem Heft das Datum und seine jeweilige Tätigkeit. «Ich schreibe», heisst es bei Noël. «Ich rechne», notiert das Rummikub-Team. Dann beginnen alle mit der Arbeit – selbständig, konzentriert, interessiert und mit Freude. Sieben und acht Jahre alte Kinder.

Jedes Kind wird individuell gefördert

Was hier so selbstverständlich vonstattengeht, ist ein Experiment. Lehrerin Roth, seit über 20 Jahren in Herbetswil tätig, bildet sich an der Hochschule für Heilpädagogik Zürich (HfH) berufsbegleitend zur Heilpädagogin weiter. «Wir wurden aufgefordert, lebendige Mathematikstunden zu entwickeln, in denen sich die Schüler wohl fühlen», so die 44-Jährige. Roth liess sich von einem Vortrag des italienischen Pädagogen Nicola Cuomo inspirieren, der über das Rechnen sinngemäss sagte: Kinder blühen in der Mathematik dann auf, wenn ihre Interessen ernst genommen werden; wenn nicht ein festes Schema den Unterricht beherrscht, sondern am Vorwissen der Kinder angeknüpft wird. Kurz nach dem Gastvortrag stiess Roth auf das «dialogische Lernen», ein Lernkonzept, das durch eine totale Öffnung des Unterrichts darauf abzielt, jedes Kind individuell zu fördern. Angesteckt von diesen Ideen, die eine Absage an den Frontalunterricht darstellen, beschloss Roth, das dialogische Lernen für ihre HfH-Projektarbeit im eigenen Klassenzimmer zu erproben, zunächst in Mathematik. Die Schulleiterin war von Anfang an offen für das Experiment. «Zu Beginn des Schuljahrs bot ich den Erst- und Zweitklässlern ganz normale Rahmenbedingungen: den Stundenplan, das Zahlenbuch, Hilfsmittel wie Spielgeld oder Punktefelder sowie eine Reihe von Spielen», erzählt Roth. Doch nun konnten die Kinder selbst bestimmten, was sie lernen wollten.

Ein Wunschkonzert also? «Von den neun Erst- und zwölf Zweitklässlern wusste jedes Einzelne, was es wollte», so die Lehrerin. «Die einzige Voraussetzung war, dass sie etwas wählen mussten, was sie schon kannten oder von dem sie das Gefühl hatten, es ohne Hilfe lösen zu können.» Das war in manchen Fällen ziemlich viel. 30 Prozent aller Kinder beherrschen bereits den Stoff der ersten Klasse, wenn sie eingeschult werden, besagt eine Studie der Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm von der Universität Freiburg. Eine Erstklässlerin löste schon in der ersten Woche die Additionen im Zahlenbuch auf Seite 30.

Die Lehrerin ist Partnerin und Lerncoach

Wie und warum treffen die Kinder ihre Wahl für ein mathematisches Thema? «Sie wählen und lernen das, was für sie im Moment bedeutsam ist», erklärt Franziska Roth, «Themen, die sie im Alltag beschäftigen, die Uhr, der Meter. Oder die Höchstgeschwindigkeit von Autos.»

Im Unterschied zum üblichen Rechenunterricht liess es Franziska Roth aber nicht beim Zahlenbuch bewenden. Dieses stellt für sie lediglich das Grundgerüst dar, das sie mit einer Vielzahl von Materialien und eigenen Ideen anfüllt. Kinder, die sich für Zentimeter interessierten, liess sie zwei Wochen lang alles Mögliche erst schätzen, dann messen und anschliessend den Unterschied berechnen – die eigenen Finger und andere Körperteile, das Mobiliar im Schulzimmer, die Gegenstände im Flur. Die Kinder erschlossen sich das Feld buchstäblich aus eigenem Antrieb.

Zentrale Triebfeder dieses Prozesses sind die offenen Fragen, die die Lehrerin laufend stellt. Franziska Roth nennt sie die W-Fragen: «Warum willst du das lernen?» «Was fehlt dir noch, damit du es verstehst?» «Wie verhält es sich genau?» Es sind Fragen, die die Kinder nachdenken lassen und sie dazu bringen, eine reflektierte Antwort zu formulieren. Aber auch die Rolle der Lehrerin ändert: Sie ist nicht die allwissende Autoritätsperson, die den Stoff vorgibt; sie ist vielmehr Partnerin oder Lerncoach, der die Interessen der Kinder erkundet. Sie unterstützt ein Lernen, das ganz vom einzelnen Kind ausgeht, wobei eine gute Beziehung dabei zentral ist. «Nur so gelingt nachhaltiges und motiviertes Lernen», betont Franziska Roth.

Auch an diesem Herbstmorgen ist das so. Zwei Stunden lang, unterbrochen von einer 20-minütigen Pause, sitzen die Kinder einzeln, zu zweit oder zu dritt an ihren Aufgaben und arbeiten selbständig. Noël schreibt in Schnurschrift kleine l, dann gesellt er sich zur Rummikub-Runde. Jasmin und Morena bestimmen auf Arbeitsblättern geometrische Formen. Aki, die Erstklässlerin, löst Additionsaufgaben auf Seite 45 im Zahlenbuch. Wenn sie nicht weiterweiss, fragt sie Leila, ihre Banknachbarin. Leila malt das Bild einer Schnecke, dazu schreibt sie einen Schlangensatz: «OjeichhapHöhenangst» – mit Hilfe der Lehrerin wird nun Wort für Wort gesucht. Aki zeigt ihr am Schluss die Rechnungen zum Korrigieren. Die Lehrerin hat nichts zu beanstanden, «ausser dass die Zehn nicht nur richtig, sondern auch schön sein muss». Franziska Roth bewegt sich in diesem kreativen Miteinander auf Augenhöhe mit den Kindern von Bank zu Bank. Sie erklärt hier eine Regel, sieht dort eine Seite mit Schönschrift durch, bringt da eine Buchstabentabelle zu Hilfe, und immer wieder stellt sie Fragen, immer mit einem W am Anfang: Was müsste besser sein? Wollen wir zusammen daran arbeiten? Was hast du heute Neues gelernt? Wie kann ich dir helfen?

Durchwegs positive Rückmeldungen

Es war während des Mathematikversuchs, als Franziska Roth beschloss, das dialogische Lernen auf den gesamten Unterricht auszudehnen. Die Kinder selbst platzten mit dem Wunsch heraus, und das ausgerechnet während eines Besuchs der Mentorin von der HfH. «Für mich war es ein heikler Moment, weil ich unter Beobachtung einer Fachperson plötzlich vom Plan abwich», erzählt Franziska Roth. «Gleichzeitig zeigte sich so exemplarisch, wohin selbstmotiviertes Lernen führen kann.»

Am Ende des Schuljahrs fragte Franziska Roth die Eltern, ob sie mit dem dialogischen Lernen weiterfahren solle. Sie erhielt ausschliesslich positive Antworten. Die schönste Rückmeldung kam von jener Mutter, die sagte: «Mein Sohn ist zu Hause kaum zu führen, doch von der Schule ist der Bub total begeistert.»