Er habe Mühe, seine Gefühle auszudrücken, sagt ein 37-jähriger Familienvater am Beobachter-Beratungstelefon. Zögernd erklärt er, es komme immer zum Streit, wenn seine Frau über Probleme und die Beziehung diskutieren wolle, er aber eigentlich lieber seine Ruhe hätte. Dies treibe seine Frau immer so sehr auf die Palme, dass sie jeweils in rasender Wut auf ihn eindresche. Sie werfe mit Pfannen nach ihm und habe ihn auch schon mit dem Messer bedroht – und das alles, weil er sich so schlecht ausdrücken könne. Er habe dies halt als Kind nicht gelernt. Der Gedanke, dass er ein Opfer häuslicher Gewalt sein könnte, kommt ihm gar nicht. Stattdessen denkt er an Scheidung.

«Dass ein Mann Opfer sein kann, widerspricht seinem Selbstverständnis», sagt der Sozialarbeiter Matthias Hagner von der Opferberatungsstelle für gewaltbetroffene Jungen und Männer. «Männer haben eine eingeschränkte Wahrnehmung in Bezug auf ihre Opferrolle.» Das Opfersein widerspreche dem Bild vom starken Mann, der Unangenehmes wegsteckt und über der Sache steht.

Die Angst, als Mann versagt zu haben
Die Vorstellung, dass ein normaler Durchschnittsmann gar nicht Opfer sein kann, ist verhängnisvoll für die Betroffenen. Sie fühlen sich als Versager, Schwächlinge und Ausnahmefälle. Zudem fürchten sie oft, man glaube ihnen nicht und sie würden ausgelacht. Oder sie haben Angst davor, mit dem Vorwurf konfrontiert zu werden, durch ihr eigenes Verschulden Opfer geworden zu sein.

«Männliche Gewaltopfer werden meist nur auf Opfer schwuler Gewalt und männliche Kinder reduziert», sagt Berater Hagner. Doch Gewalt hat auch ein anderes Gesicht: Im Kanton St. Gallen musste die Polizei letztes Jahr 451 Mal wegen häuslicher Gewalt ausrücken. In 81 Fällen waren Frauen gewalttätig geworden. Das entspricht einem Anteil von 18 Prozent. In anderen Kantonen, die den Frauenanteil an häuslicher Gewalt erfassen, liegt der Anteil zwischen 13 und 22 Prozent.

Akzeptieren, dass man Gewaltopfer ist
«Trotz diesen Zahlen ist häusliche Gewalt an Männern ein gesellschaftliches Tabu – bei Männern wie bei Frauen», sagt Matthias Hagner. Ähnlich äussert sich Elsbeth Aeschlimann, Leiterin der Zürcher Allgemeinen Opferhilfe-Beratungsstelle: «Die Dunkelziffer häuslicher Gewalt liegt sicher höher, denn die Betroffenen scheuen sich oft, Anzeige zu erstatten.» Es sei Männern peinlich, über ihre Gewalterfahrungen in der Partnerschaft zu sprechen. Zu gross sei ihre Scham, als Mann und/oder Vater versagt zu haben. «Möglicherweise fürchten sie, dass sie als Opfer nicht ernst genommen werden oder dass ihnen nicht das gleiche Verständnis und Mitgefühl entgegengebracht wird wie weiblichen Opfern.» Stattdessen wollen sich Männer bei den Opferhilfe-Beratungsstellen über das Scheidungsrecht informieren.

Doch darauf sind diese nicht spezialisiert (siehe unten: «Gewalt in der Ehe: Hilfe für die Opfer»): «Wir informieren umfassend über das Opferhilfegesetz und unterstützen unsere Klienten bei der Verarbeitung der Straftat», erklärt Hagner. Die Beraterinnen und Berater begleiten ihre Klienten, wenn sie im Strafverfahren von der Polizei, der Untersuchungsbehörde oder vom Gericht befragt werden. Hilfe wird auch angeboten, wenn ein Mann sich nicht sicher ist, ob er überhaupt Strafanzeige erstatten soll, oder wenn er sich aus Angst vor Gewalt nicht mehr nach Hause traut und für ihn eine Notunterkunft gesucht werden muss.

Warum werden immer mehr Frauen gewalttätig und schlagen ihre Männer? «Das Stichwort Gleichberechtigung ist hier fehl am Platz», sagt Beraterin Aeschlimann. «Gewaltausbrüche kann man sehr wohl erklären und verstehen, aber man kann sie deshalb nicht gutheissen», ergänzt Sozialarbeiter Hagner. Gewalt entstehe dort, wo nicht vorgebeugt werde, wo Gewalt zur einseitigen Durchsetzung von Interessen diene, Machtgefälle dominierten, Ohnmacht herrsche und funktionierende Kommunikationsformen auf beiden Seiten fehlten. Einseitige Schuldzuweisungen wie «böse Frau, guter Mann» taugten als Erklärung wenig. «Es gibt Familien, in denen dem Frieden zuliebe Spannungen unter den Teppich gekehrt werden, statt sie konstruktiv zu lösen», weiss Hagner. Auch soziale Benachteiligung, finanzielle Probleme und ungelöste Konflikte in der Ehe sind Faktoren, die zu Gewalt führen können.

Opfer – ob männlich oder weiblich – fühlen sich hilflos und ausgeliefert. Sie müssen versuchen, die Kontrolle über ihr Leben wiederzuerlangen. Männer lernen dies als Buben, indem sie Gewalterfahrungen im Alltag als Lektion oder als Sozialisation verbuchen und nicht darüber reden. Werden sie auf der Strasse zusammengeschlagen oder sind sie Opfer eines Überfalls geworden, suchen sie den Fehler meist bei sich – wie der Familienvater, der von sich sagt, er könne sich schlecht ausdrücken. Es kann zwar Sinn machen, sich zu fragen, was man am eigenen Verhalten ändern kann, doch darf dies nicht selbstabwertend geschehen. «Wenn ein Mann akzeptieren kann, dass er Opfer geworden ist, dann kann dies auch Sicherheit und Ordnung ins Leben bringen», sagt Matthias Hagner. Doch dazu müssen Männer lernen, auch untereinander über ihre Opfererfahrung zu sprechen.

Gewalt in der Ehe: Hilfe für die Opfer

Sobald die Strafverfolgungsbehörde Kenntnis eines Delikts hat, muss sie aktiv werden. Das Opfer kann jedoch um Einstellung des Verfahrens ersuchen.

Rechte der Opfer

  • Anspruch auf Hilfe und Beratung haben Sie, wenn Sie durch eine Straftat körperlich, sexuell oder psychisch verletzt oder beeinträchtigt worden sind. Unter bestimmten Voraussetzungen haben Sie Anspruch auf finanzielle Hilfe.
  • Die Opferhilfe-Beratungsstellen leisten und vermitteln medizinische, psychologische, soziale, materielle und juristische Hilfe nach einer Straftat.
  • Hilfe einer Beratungsstelle setzt nicht voraus, dass ein Strafverfahren durchgeführt wird. Opferhilfe kann auch beansprucht werden, wenn keine Strafanzeige gemacht worden ist.


Adresse