Die Schwierigkeit, Beruf und Familie zu vereinbaren, ist ein beliebtes Diskussionsthema - unter Freunden, im Büro, aber auch in Politik- und Wirtschaftskreisen. «Familie» definiert sich dabei als ein Elternpaar mit Kindern im Vorschul- oder Schulalter. Über die grosse Gruppe der Frauen und Männer, die neben der Erwerbsarbeit einen pflegebedürftigen Elternteil betreut, spricht hingegen niemand - obwohl sie ähnliche Probleme haben.

Angehörige - in 90 Prozent der Fälle eine Tochter - leisten den Löwenanteil in der informellen Pflege. Viele von ihnen sind berufstätig. Unter Frauen ist es gang und gäbe, sich für Betreuungsaufgaben frühzeitig pensionieren zu lassen. In einer Studie des Bundesamts für Sozialversicherung aus dem Jahr 2005 gaben zwölf Prozent der frühpensionierten Frauen familiäre Verpflichtungen als Grund für den Rückzug aus dem Erwerbsleben an. Bei Männern lag der Anteil bei 0,4 Prozent.

Einsatz wird bestraft
Gemäss der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung 2004 betreuen rund 135'000 über 50-Jährige einen erwachsenen Verwandten. Hinzu kommen Tausende unter 50-Jährige - genaue Zahlen gibt es nicht. Die informelle Pflege reicht vom wöchentlichen Einkauf über administrative Arbeiten bis zu regelmässigen Einsätzen mit Kochen, Putzen, Körperpflege und nächtlichen Hilfestellungen. Betreuung umfasst aber auch seelische Zuwendung: Ausflüge, gemeinsame Stunden auf dem Balkon. Alles Aufgaben, die von der Gesellschaft als selbstverständlich hingenommen werden. Doch: Künftig werden immer weniger Junge immer mehr Betagte pflegen müssen.

In der Politik scheint dies aber wenige zu kümmern. Für Birgitta Martensson, Geschäftsleiterin der Schweizerischen Alzheimervereinigung, unverständlich: «Die informelle Pflege muss dringend thematisiert werden, wenn Menschen weiterhin zu Hause betreut werden sollen.»

Lucrezia Meier-Schatz, CVP-Nationalrätin und Generalsekretärin von Pro Familia, wollte das Thema im Dezember lancieren. Ihre Forderung, die Leistungen von Angehörigen systematisch zu unterstützen, wies der Bundesrat aber ab; mit der Begründung, die bisherigen Massnahmen - etwa die Unterstützung von Pro Senectute und der Alzheimervereinigung, die Angehörige beratend begleiten - würden genügen. Meier-Schatz akzeptierte die Antwort nicht, die Diskussion muss nun im Parlament stattfinden. «Heute laufen Familien, die Pflegeleistungen erbringen, Gefahr, dass sie dafür von der Gesellschaft bestraft werden: Ihr Erspartes wird im Alter deutlich geringer sein als das von Personen, die keine solchen Leistungen erbringen und voll berufstätig bleiben können», betont Meier-Schatz. «Die demographische Entwicklung und die wachsende Individualisierung erfordern politisches Handeln statt sinnlose Verdrängung.»

AHV-Betreuungsgutschriften sind heute die einzige Form der Anerkennung für die informelle Pflege. Das ist keine Geldleistung, sondern ein Betrag, der dem AHV-Konto der Betreuungsperson als Einkommen gutgeschrieben wird. 2005 haben aber gerade mal 2700 Personen diese Gutschriften geltend gemacht. Die Auflagen sind streng: Pflegende und Pflegebedürftige müssen verwandt sein und unter dem gleichen Dach beziehungsweise auf dem gleichen Grundstück wohnen, was heute nur noch selten der Fall ist. Zudem muss mindestens eine «Hilflosigkeit mittleren Grades» vorliegen, was einen massiven Betreuungseinsatz von täglich mehreren Stunden verlangt. Laut Bundesamt für Sozialversicherungen hat man eingesehen, dass die Praxis «nicht befriedigend» ist: Im Rahmen der 11. AHV-Revision soll der Kreis der Berechtigten ausgeweitet werden.

Die Wirtschaft ist der Politik voraus. Die Zahl der Firmen, die eine Unterstützung für Mitarbeiter, die Angehörige pflegen, im Katalog der familienfreundlichen Massnahmen explizit erwähnen, ist zwar noch niedrig, wächst aber immerhin. Unternehmen wie die Zürcher Kantonalbank oder Astra-Zeneca ermöglichen die Anpassung der Arbeitszeiten, Telearbeit, unbezahlte Urlaube oder pro Krankheitsfall eines Angehörigen drei bezahlte Frei-Tage. Die Zürcher Verkehrsbetriebe boten einem Mitarbeiter nebst einer Pensumsreduktion eine zusätzliche Ferienwoche an (siehe Porträt rechts). IBM Schweiz finanziert eine Beratung durch Fachpersonen, in der die finanzielle Situation einer betroffenen Familie unter die Lupe genommen wird.

«Das Thema ist ein Tabu»
Das sind die positiven Ausnahmen. Im Regelfall ist die Sensibilität gering, und viele Personalverantwortliche stossen eher zufällig auf die Problematik, wie Eveline Erne von der Bank Coop. Während eines Anlasses wurden die Angestellten gefragt, wer zu Hause einen Elternteil pflegt. «Als fünf aufstanden, dachte ich: ‹Hoppla, für die tun wir ja gar nichts!›», so Erne.

«Das Thema ist ein Tabu», sagt Franziska Bischof-Jäggi, Leiterin der Familienmanagement GmbH, die Unternehmen das Zertifikat «familienbewusst» erteilt. «Man erzählt im Betrieb voller Stolz von einem Kind, nicht aber von einem alten und kranken Angehörigen.» Sie kennt die Angst von Angestellten, dass Probleme bei der Arbeit auf die private Belastungssituation geschoben werden könnten. Firmen, die sich um das Zertifikat bemühen, müssen Massnahmen zugunsten pflegender Angestellter anbieten. Die Tatsache, dass seit der Einführung im Jahr 2002 gerade mal fünf Betriebe das Siegel erhalten haben, zeigt, dass noch viel zu tun ist.

Das liegt unter anderem daran, dass die betrieblichen Massnahmen zur Unterstützung von Eltern sich nicht einfach auf pflegende Angestellte übertragen lassen. Denn anders als bei Kindern ist die Betreuung von einem betagten Angehörigen kaum planbar. Niemand weiss, wie lange und intensiv jemand Hilfe benötigt. Ein Sturz im Bad kann alles schlagartig verändern. Eine Lösung zeigt das Software-Unternehmen Comartis auf, indem es die Blockzeiten mit Anwesenheitspflicht abgeschafft hat. Die Arbeitszeit kann individuell «familiären Erfordernissen» angepasst werden und muss im Rahmen der Jahresarbeitszeit abgegolten werden.

Verglichen etwa mit England, sind das aber erst Anfänge. Seit diesem April haben dort alle Angestellten das Recht, ihre Arbeitszeit familiären Pflegeaufgaben anzupassen. Bereits seit 1996 können pflegende Angestellte zudem fünf bezahlte Urlaubstage pro Jahr sowie unbezahlten Urlaub beziehen. Diese Regelungen gehen auf die Anstrengungen der Angehörigen-Lobby «Carers UK» zurück.

In der Schweiz gibt es nichts Vergleichbares. Hierzulande sehen sich Angehörige nicht als eine Gruppe, sondern organisieren sich innerhalb krankheitsspezifischer Interessenvertretungen.

Auch Deutschland diskutiert einen Rechtsanspruch auf Pflegezeit. Seit 1995 besteht dort zudem die Pflegeversicherung, die vom Lohn der Arbeitnehmer abgezogen wird. Je nach Pflegebedarf haben diese dafür im Alter Anrecht auf einen Unterstützungsbetrag, maximal 665 Euro pro Monat. Den können sie auch pflegenden Angehörigen gutschreiben. Sehr viel ist das nicht, dennoch: Die Pflegeversicherung anerkennt familiäre Leistungen, unabhängig von Einkommen und Vermögen.

«Wir wissen hierzulande wenig darüber, wie Angehörige den Spagat zwischen Erwerbstätigkeit und Pflege meistern», so Iren Bischofberger, Pflegewissenschaftlerin an der WE’G Hochschule Gesundheit in Aarau. Deshalb hat sie beim Nationalfonds das Forschungsprojekt «work & care» eingereicht. Auf der Suche nach Praxispartnern ist sie bei der Bank Coop und der Alzheimervereinigung auf offene Türen gestossen. Das zeige, dass Wirtschaft und Organisationen am Thema interessiert seien, sagt Bischofberger, die nun auch bei Politik und Gesundheitswesen den Puls fühlen will. Denn: «Erwerbstätige, die Angehörige pflegen, brauchen ein Gesamtpaket an Unterstützung. Die Notwendigkeit ist längst gegeben, und sie wächst weiter.»