Autos sind Pia Bieris Leidenschaft. Am liebsten ist ihr der Audi A3, eine Limousine. Blau muss er sein. 15 Jahre lang war die 54-Jährige Taxifahrerin in Zofingen AG. Rund 700'000 Kilometer fuhr sie tags und nachts in all den Jahren, unfallfrei. Alle drei Jahre liess sie sich vorschriftsgemäss von einem Arzt auf ihre Fahreignung testen, selbst als sie schon nicht mehr Taxi fuhr. Er hatte nie etwas auszusetzen. 

Doch am 8. November 2016 musste Bieri ihren Führerschein abgeben.

Ihre langen, blau lackierten Fingernägel krallen sich am Tisch fest, sie kann es immer noch nicht richtig fassen. Ohne Auto fühlt sich Pia Bieri unvollständig, amputiert. «Ich brauche das Auto auch für meine Mutter. Sie ist 89, geht am Rollator und muss ständig zum Arzt oder ins Spital», sagt sie. Pia Bieri selbst leidet an Fibromyalgie, Weichteilrheuma, kann kaum gehen ohne Schmerzen. Blaue Tapes schauen unter ihrem Polo-Shirt hervor, sie sollen die Schulter stützen, die Schmerzen mindern.

Sie ist auf das Auto angewiesen

«Einkaufen ohne Auto ist ein riesiges Problem für mich», sagt Bieri. Schon ein Liter Milch in der Tasche sei zu schwer für sie. Als Taxifahrerin kann sie schon lange nicht mehr arbeiten. In den letzten Jahren lebte sie deshalb von der Sozialhilfe. Seit diesem Sommer bekommt sie wegen ihres Gesundheitszustands eine 75-prozentige IV-Rente.

In Bezug auf den Führerschein wurde die IV-Abklärung für Pia Bieri zum Verhängnis. Sie hatte sich im Auftrag der IV im vergangenen Jahr zwei Tage lang am Unispital Basel von Spezialisten untersuchen lassen müssen. Das Gutachten vom September 2016 war ein Schlag: Es kam zum Schluss, Bieri konsumiere Kokain und sei von Psychopharmaka und Opiaten abhängig. Zudem diagnostizierten die Ärzte eine «mittelschwere neuropsychologische Funktionsstörung» und «Anzeichen einer Frontalhirnsymptomatik», die auf eine Hirnverletzung in der Kindheit zurückgehen.

«Ich habe noch nie im Leben Kokain genommen», sagt Bieri. Wegen der Schmerzmittelabhängigkeit hatte sie vor Jahren einen Entzug gemacht, und die Hirnverletzung stammt von einem Autounfall, als sie zwölf Jahre alt war. Damals, 1976, erlitt sie einen Schädelbruch. Sie nennt die Verletzung «meinen kleinen Dachschaden».

Pia Bieri lässt selbst eine Haaranalyse machen – auf eigene Kosten. Sie zeigt, dass sie kein Kokain konsumiert hat.

Die IV-Stelle Aargau informierte aufgrund des Gutachtens das kantonale Strassenverkehrsamt. Es lägen «Zweifel an der Fahreignung» vor. Darauf hat man Pia Bieri mit Verfügung vom 8. November 2016 vorsorglich den Führerausweis entzogen. 

Dass es zur Meldung der IV-Stelle kam, ist ein normaler Vorgang. Ärzte müssen die Behörden informieren, wenn Zweifel an der Fahrtauglichkeit einer Person auftauchen. Merkwürdig ist allerdings, dass bis dahin noch nie jemand Pia Bieris Fahrtüchtigkeit angezweifelt hat.

«Das ist reine Schikane», sagt ihr langjähriger Hausarzt Claudius Frey, zu dem sie alle 14 Tage in die Praxis nach Aarburg kommt. «Ich weiss nicht, wie so ein Gutachten entstehen konnte. Ich bezweifle dessen Seriosität.» 

Ein Zweittest wurde nie gemacht

Ganz viele Leute nehmen die Medikamente, die Bieri gegen ihre Schlafstörungen und Ängste bekomme, sagt Frey weiter. «Da müsste man einem Viertel der Bevölkerung den Führerschein entziehen.» 

Zudem habe Pia Bieri nie Kokain konsumiert. Der Hausarzt kritisiert den Schnelltest beim Unispital Basel. «Er hätte unbedingt mit einem Zweittest bestätigt werden müssen. Das hat man unterlassen, und das ist nicht in Ordnung.» Auch Pia Bieris Psychotherapeutin teilt Freys Einschätzung vollumfänglich.

«Ich weiss nicht, wie so ein Gutachten entstehen konnte. Ich bezweifle dessen Seriosität.»


Claudius Frey, Pia Bieris Hausarzt

Bieri liess selbst eine Haaranalyse machen – auf eigene Kosten. Sie zeigt, dass sie kein Kokain konsumiert hat. Das Basler Gutachten wird geändert: «Eine nachgereichte Haaranalyse […] ergab keinen Hinweis auf regelmässigen Gebrauch von Kokain, so dass keine Kokainabhängigkeit vorliegt.»

Das Strassenverkehrsamt verfügte, dass Bieris Fahreignung nochmals zu überprüfen sei. Der beauftragte Arzt kam zum Schluss: «Anlässlich meiner Untersuchung vom 12. Mai 2017 […] ist aus meiner Sicht die Fahreignung gegeben unter der Auflage der regelmässigen hausärztlichen Kontrolle.»

Kanton fordert weiteres Gutachten

Das Departement Volkswirtschaft und Inneres des Kantons Aargau wies die Beschwerde von Pia Bieris Anwältin gegen den Führerscheinentzug ab. Die Bedenken des Strassenverkehrsamts seien berechtigt. 

Jetzt muss Pia Bieri auch noch zum Verkehrspsychiater, der ihre «kognitive Leistungsfähigkeit» ebenfalls beurteilen muss. Sie versteht nicht, wieso sie jetzt schon fast ein Jahr auf das Billett verzichten muss, obwohl sie nichts falsch gemacht und auch ihre Lebensweise nicht geändert hat. «Bis zu diesem Gutachten war ich ganz normal – abgesehen von meinem kleinen Dachschaden», sagt sie. Und lacht. Den Humor hat sie noch nicht verloren.

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