Hans-Peter Schmidts Trauben wachsen nicht in einem Rebberg, sondern in einem Garten. Leicht gebückt, als wäre ihm seine Grösse peinlich, steht der 38-Jährige neben dem Roggen, der zwischen zwei Rebzeilen wächst und diese fast zudeckt. Ein paar Schritte weiter wachsen Rosen zwischen den Reben, schönste Zuchtrosen. Und noch etwas weiter entfernt steht ein Bienenhotel: ein Kasten, gefüllt mit gebündelten Schilfrohren und Holunderzweigen sowie Lärchenholz und Lehm, in die verschieden grosse Löcher gebohrt wurden.

Rebell: Hans-Peter Schmidt ist überzeugt, dass Biodiversität im Rebberg den Wein verbessert.

Quelle: Alexander Jaquemet
Harmonie statt Krankheiten

Mit langen, gemächlichen Schritten steigt Schmidt den Rebhang hoch. In Arbaz, in der Nähe von Sion, auf rund 800 Metern Höhe liegen die fünf Hektaren der Domaine de Mythopia, die er seit ebenso vielen Jahren als Freiluftlabor bewirtschaftet. Hier erforscht er die Biodiversität im Weinbau: «Der Einsatz von Herbiziden, Pestiziden, Fungiziden und synthetischen Düngemitteln hat in den letzten 50 Jahren die Bodenaktivität geschwächt, und die Biodiversität im Boden hat extrem verarmt», sagt Schmidt. Deshalb will er vor allem den komplexen Beziehungen zwischen der Bodenstruktur und der Pflanze, den Wurzeln, Würmern, Pilzen und Bakterien auf den Grund gehen, um ein natürliches Gleichgewicht zu finden, die Abwehrkraft der Reben zu stärken, Schädlinge mithilfe natürlicher Feinde einzudämmen und natürlich die Qualität der Trauben zu fördern.

Schmidt ist Biowinzer, grenzt sich aber von anderen Biowinzern bewusst ab. «Bio ist mehr, als synthetische Spritzmittel durch biologische zu ersetzen», sagt er immer wieder. Dem traditionellen Biorebbau wirft er vor, sich vom konventionellen Rebbau kaum zu unterscheiden. Schmidt sucht einen Systemwechsel, weg von der Monokultur, hin zur Biodiversität: «Krankheiten breiten sich deshalb aus, weil wir Monokulturen geschaffen haben. Biodiversität hilft gegen den Krankheitsdruck; sie harmonisiert das lokale Ökosystem.»

Eine kürzlich im Wissenschaftsmagazin «Biological Conservation» veröffentlichte Studie der Universität Freiburg gibt Schmidt im ersten Punkt recht: In Bioweinbergen kommen nicht mehr Tier- und Pflanzenarten vor als in Rebbergen, die nach den Kriterien der integrierten Produktion (IP) bewirtschaftet werden. Die Zahl der Heuschreckenarten in den Weinbergen am Bielersee ist in den IP-Parzellen sogar höher als in den Bioparzellen.

Multikultur: Der Pflanzenmix versorgt die Reben mit Wasser und Dünger.

Quelle: Alexander Jaquemet
Eine Charta für die Artenvielfalt

Wenn Schmidt über seine Versuche spricht, über die Begrünung mit Leguminosen und Blumenmischungen zwischen den Rebzeilen oder die Biokohle im Kompost, dann ist er ganz Forscher, sachlich und präzise. Doch er hat auch eine andere Seite: «Die traditionelle Landwirtschaft ist eine Gefängnissituation, in der Bauern zu Wärtern werden, die ihre Pflanzen als Gefangene züchten und viel Energie für deren Ernährung aufwenden.»

Benutzt Schmidt eine solche Kraftsprache, funkeln seine Augen gefährlich. Dann weiss man, dass hier kein weltfremder Idealist am Werk ist, sondern einer, der tatsächlich daran ist, die Welt zu verändern. Damit eckt Schmidt an, nicht nur bei den konservativen Walliser Weinbauern, sondern auch bei den Biowinzern.

René Güntert, Präsident der Fachkommission Biovin bei Bio Suisse, geht mit Schmidt einig, dass Begrünung zwischen den Rebzeilen die Monokultur unterbrechen muss. Der 58-jährige Walliser bewirtschaftet in Miège oberhalb von Sierre seit 31 Jahren selber drei Hektaren Reben, seit 21 Jahren biozertifiziert. Schmidts Ansich-ten gehen ihm aber viel zu weit: «Ziel des Bioweinbaus muss immer ein guter Wein sein, der sich auch verkaufen lässt.» Den Winzer zum Gärtner zu machen sei der falsche Ansatz – «utopisch und unwirtschaftlich».

Reynald Parmelin von der Domaine La Capitaine bei Begnins VD, mit 14 bewirtschafteten Hektaren einer der grössten Bioweinproduzenten der Schweiz, teilt Günterts Kritik. Er will keine zusätzlichen Regulierungen. Mit den gegenwärtigen Bioregeln im globalisierten Markt zu bestehen sei schwierig genug. Er habe einige Kollegen bankrottgehen sehen, weil sie die Umstellung auf Bio mit höheren Kosten und geringerem Ertrag nicht geschafft hätten. «Biodiversität im Rebberg ist ein schöner Traum, aber am Schluss muss man exzellenten Wein herstellen, um davon leben zu können», sagt der 44-Jährige.

Mit den «zusätzlichen Regulierungen» meint Parmelin die «Charta für Biodiversität im Weinbau» von Delinat, einer auf die Erforschung des Anbaus und den Verkauf von Bioweinen spezialisierten Firma. Die Charta umfasst eine Reihe von Massnahmen, beispielsweise die Aktivierung und Begrünung der Böden, das Pflanzen von Sträuchern und Bäumen oder das Errichten von Nisthilfen. Sie regelt auch die natürliche Weinherstellung und setzt Sozialstandards für das Personal. «Konvertiert eure Weinberge in Paradiese und verabschiedet euch von Monokultur und überholten Tabus», forderte Delinat-Gründer Karl Schefer im Frühling seine Winzer in einem Rundbrief auf.

Bienenhotel: In Zweigen und angebohrten Hölzern nisten Wildbienen.

Quelle: Alexander Jaquemet
Kein typischer Walliser

Hans-Peter Schmidt, aus dessen Feder die Charta stammt, ist überzeugt: Dank diesen Richtlinien wird der Wein besser. Dass sie ihn verteuern, glaubt er nicht, weil Dünger eingespart werden kann und die Sekundärkulturen, also die Rosen, das Obst und die Aromakräuter, zusätzlichen Ertrag bringen.

Augenfälligstes Resultat von Schmidts Forschung ist das Biotop, das er geschaffen hat. Besuchern, denen sein Weinberg offensteht, fällt sofort auf, dass es in den Parzellen seiner Nachbarn Wasserleitungen gibt, während Schmidts Weinberg ohne Bewässerung auskommt – an einem der trockensten Orte der Schweiz notabene. Die Leguminosen zwischen den Rebzeilen trinken den Trauben nicht etwa das Wasser weg, sie helfen im Gegenteil, es zu speichern. Und sie machen jegliche Düngung unnötig, weil sie Stickstoff aus der Luft binden und zu den Wurzeln führen.

Schmidts Weine, ein Pinot noir und ein Fendant, werden im Steinkeller natürlich vinifiziert, in Eichenholzfässern gelagert und nicht gefiltert. Es sind keine mehrheitsfähigen, gefälligen Weine, sondern sie haben – ein Zauberwort in der Branche – Terroir: intensive Geschmacksnoten und unverwechselbaren Charakter. Mit dem Fendant, der hektoliterweise im Wallis hergestellt wird, hat Schmidts bernsteinfarbener Tropfen nichts zu tun.

Obwohl Schmidts Forschung den methodischen Ansprüchen renommierter Wissenschaftszeitschriften nicht genügen würde, sind verschiedene wissenschaftliche Organisationen auf ihn aufmerksam geworden: Gemeinsam mit dem Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) macht er Studien zur Bodenfruchtbarkeit, mit der Hochschule Changins erforscht er den Pflanzenschutz, mit der Universität Würzburg die Wildbienen und mit dem Geographischen Institut der Universität Zürich die Biokohle. Mit Partnern hat Schmidt die Firma Swiss Biochar gegründet, die im April in Lausanne Europas erste industrielle Anlage zur Produktion von Biokohle in Betrieb genommen hat. Ziel ist, der Atmosphäre CO2 zu entziehen und im Boden zu speichern. Schmidt vertritt die These, dass Biokohle auch für die Pflanzen nützlich ist, weil sie wie ein Schwamm wirkt, der Nährstoffe und Wasser aufsaugt und bei Bedarf wieder abgibt.

Der Philosoph als Winzer

Bodenspezialist Samuel Abiven, der an der Universität Zürich mehrere Masterarbeiten über Biokohle betreut, lobt Schmidts Ideenreichtum: «Hans-Peter Schmidt ist innovativ und hat den Mut, im grossen Massstab Versuche durchzuführen, die kein universitäres Institut durchführen würde.» Denn Schmidt isoliert nicht, wie in der traditionellen Forschung üblich, einen einzelnen Faktor, um dessen Auswirkungen zu studieren, sondern versucht, das ganze Ökosystem im Weinberg zu verstehen.

Dabei ist Schmidt nicht mal Biologe oder Umweltwissenschaftler: Er hat in Hamburg Philosophie und visuelle Kommunikation studiert und sich mit Ökosystemtheorie beschäftigt. Nach dem Studium verlagerte er sein Arbeitsgebiet auf den Alten Orient und untersuchte, wie sich Alltagserfahrungen in Literatur und Religion widerspiegeln; 2005 erschien sein Buch «Die Bibel als literarisches Meisterwerk». Dazwischen arbeitete er als Übersetzer und Journalist und lehrte Deutsch am Goethe-Institut in Brüssel und am Collège in Saint-Maurice VS sowie interreligiöse Studien an der Universität in Bern, wo er mit seiner Frau und seinen zwei Kindern seit kurzem wohnt. 2005 gründete er sein Freiluftlabor, die Domaine de Mythopia, um sich nicht nur theoretisch, sondern ganz praktisch mit der Reorganisation landwirtschaftlicher Ökosysteme zu beschäftigen.

Hans-Peter Schmidt spricht ungern von seiner Tätigkeit als Autor und Übersetzer, wenn es eigentlich um die Forschung im Rebberg geht. Er trennt die Literaturwissenschaft von der Ökologie, weil er fürchtet, sonst in beiden Welten nicht ernst genommen zu werden. Er selber sieht sich aber nicht als Aussteiger oder Umsteiger, sondern als Lebenskünstler: «Die Literaturwissenschaft ist genauso eine Kunst wie die Erforschung von Ökosystemen.»