Beobachter: Als Gedächtnistrainerin arbeiten Sie gegen das Vergessen. Ist Vergessen eine Schwierigkeit, die man beseitigen muss?
Ruth Schärer-Wicki: Nein, für mich ist das Vergessen etwas ganz Menschliches. Alle vergessen hin und wieder etwas — auch wichtige Dinge. Das ist ganz normal. Ich bin der Meinung, man sollte die Ansprüche an das eigene Gedächtnis nicht zu hoch stellen. Damit macht man sich eher unnötigen Druck. Das beobachte ich oft, sowohl in meinem Bekanntenkreis als auch in meinen Kursen. Unter Druck arbeitet weder das Erinnern noch das Vergessen gut. Es lohnt sich, das natürliche Vergessen zu akzeptieren und geduldig mit dem eigenen Gedächtnis umzugehen.

Beobachter: Wann vergessen Sie etwas?
Schärer-Wicki: Vor allem wenn ich unkonzentriert oder emotional aufgewühlt bin. Da vergesse ich etwa, Dinge mitzunehmen. Wenn ich im Stress bin, setzt auch schon mal eher Vergessen als Erinnern ein. Aber das ist normal. Die Leute freuen sich immer, wenn ich etwas vergesse (lacht). Ich habe ein gesundes, normales Gedächtnis wie andere Menschen auch.

Beobachter: Was ist Ihrer Erfahrung nach der Sinn von Vergessen?
Schärer-Wicki: Ich betrachte das gesunde Vergessen als einen Schutz. Etwa vor all den Informationen, die uns tagtäglich begegnen. Vergessen hilft uns, uns immer wieder auf das Wesentliche zu beschränken. Manchmal, besonders in emotionalen Situationen, vergesse ich Dinge — und im Nachhinein sage ich: Es war gut, diese Erinnerungen abzulegen, es hat mir geholfen. Vergessen schützt also auch ein Stück weit unsere Gefühle.

Beobachter: Wie hat Ihre Tätigkeit als Gedächtnistrainerin Ihre Wahrnehmung des Vergessens und Erinnerns verändert?
Schärer-Wicki: Ich gehe bewusster vor im Alltag. Ich gehe mit offenen Augen und Ohren durch den Tag. Dadurch nehme ich mehr auf und behalte mehr. Ich bin auch geduldiger mit meinem eigenen Vergessen geworden. Mir ist viel klarer bewusst, dass das natürliche Vergessen wichtig für Geist und Seele ist.

Beobachter: Wieso haben die meisten von uns so wenig Geduld mit dem eigenen Vergessen?
Schärer-Wicki: Ich denke, es liegt einerseits an unserer Gesellschaft. Sie erwartet, dass wir Leistung zeigen – auch Gedächtnisleistung. Auch von älteren Menschen wird erwartet, dass sie ihr Erinnerungsvermögen auf Trab halten. Andererseits liegt es vielleicht insgeheim auch an unserer Angst, dass mit unserem Gedächtnis und mit uns etwas nicht stimmt, wenn wir etwas vergessen. Einige überspielen ihre Angst mit Kommentaren wie «Oh, ich hab wohl Alzheimer». Das finde ich sehr unpassend. Alzheimer ist eine sehr ernste Erkrankung, mit der nicht so nachlässig umgegangen werden darf. Aber man sollte sein Vergessen nicht gleich mit Erkrankungen in Verbindung bringen. Vergessen hat ganz klare Aufgaben. Und wir sollten das gesunde, natürliche Vergessen zu schätzen wissen.

Gedächtnistrainerin Ruth Schärer-Wicki aus Wädenswil ZH ist Vorstandsmitglied des Schweizerischen Verbandes für Gedächtnistraining.

Quelle: Yves Roth
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Quelle: Yves Roth