Ohne Wasserkraft läuft in der Schweiz gar nichts: 50 bis 60 Prozent des hierzulande produzierten Stroms stammen aus Wasserkraftwerken. Die Strombranche und Politiker von links bis rechts rühmen die Wasserkraft als erneuerbare Energie. In den Worten des Bundesamts für Energie tönt das so: «Wasserkraft ist die grösste erneuerbare inländische und damit von Rohstoffimporten unabhängige Energiequelle.»

Tatsächlich ist Wasser als Energiequelle fast unerschöpflich. Würde jeder Wassertropfen zur Stromerzeugung genutzt, könnte die Schweiz daraus jährlich rund 150 Milliarden Kilowattstunden gewinnen, heisst es in einer Studie des Bundes. Dies entspricht fast der dreifachen Strommenge, die unser Land jedes Jahr verbraucht. Doch dieses theoretische Potential schrumpft in der Praxis zusammen: Technisch gesehen liegt das Machbare nach Schätzungen des Bundesamts für Energie bei maximal 42 Milliarden Kilowattstunden.

Die Strommenge, welche die 430 Laufkraftwerke (Kleinstkraftwerke nicht eingerechnet), 86 Speicher- und 16 Pumpspeicher- und Umwälzwerke in der Schweiz jährlich produzieren, hängt zudem stark vom Wetter ab. Je nach Niederschlagsmenge können die Wasserkraftwerke mal 36 Milliarden Kilowattstunden Strom liefern (2007) oder auch mal nur knapp 30 Milliarden Kilowattstunden (1996).

Weil aber die Wasserkraft auch wirtschaftlich und ökologisch vertretbar und damit sozial akzeptiert sein soll, ist ein weiterer Ausbau in der Schweiz nur noch beschränkt möglich. Während in anderen europäischen Ländern «erst» rund 75 Prozent des wirtschaftlichen Wasserkraftpotentials ausgeschöpft werden, liegt die Schweiz bereits bei weit über 90 Prozent.

Der Bund schätzt das Ausbaupotential bei der Stromproduktion aus Wasserkraft − mittels Kraftwerkserneuerungen, Ausbaggerungen, höherer Staumauern und neuer Klein- und Grosswasserkraftwerke − auf 4,3 bis maximal 5 Milliarden Kilowattstunden Strom pro Jahr. Das ist etwas mehr, als das AKW Mühleberg produziert. Doch der Ausbau der Wasserkraft ist ein langfristiges Unterfangen: Der Bund plant mit einem Zeithorizont bis 2050.

Ökoenergie Wasserkraft?

«Wasserkraft ist nicht a priori Ökostrom», sagt der WWF-Wasserspezialist Andreas Knutti. «Eine umweltfreundliche Wasserkraft braucht strenge ökologische Auflagen», betont er. Doch die meisten Wasserkraftwerke foutieren sich um gesetzliche Vorgaben. 15 Jahre erhielten die Kantone einst Zeit, um die Kraftwerke auf die gesetzlich verlangten Restwassermengen zu verpflichten.

Mit wenig Erfolg: Heute noch werden die Bäche teilweise derart gestaut, dass sie unterhalb der Kraftwerke oft trocken bleiben. Knutti: «Die Kraftwerke müssen endlich die gesetzlichen Restwassermengen einhalten.»

Grosses Engagement legen die Kraftwerke an den Tag, wenn es um die Vermarktung des Stroms geht. Fast jedes Stromunternehmen hat inzwischen ein eigenes Stromlabel kreiert, um den eigenen Strom in möglichst gutem Licht darzustellen. Aus Kundensicht herrscht inzwischen ein eigentlicher Stromlabelsalat. Das verlässlichste Label für Ökostrom ist «naturemade star», hinter dem unter anderen Pro Natura, WWF, Wasserwirtschaftsverband, Konsumentenforum, aber auch Unternehmen wie etwa die BKW stehen. Das Label garantiert, dass bei der Stromproduktion verschiedenste ökologische Vorgaben eingehalten werden.

Dieser Ökostrom hat sich aber alles andere als durchgesetzt: Nur gerade ein Dreissigstel der gesamten Stromproduktion aus Schweizer Wasserkraft wurde letztes Jahr als Ökostrom zertifiziert. Verkauft wurde davon aber lediglich die Hälfte, nämlich rund 580 Millionen Kilowattstunden.

Immerhin wird zurzeit ein Fünftel des Stroms aus Wasserkraft als «naturemade basic» zertifiziert. Doch mit Ökostrom hat dieser Begriff wenig gemeinsam. Zertifizierte Unternehmen wie etwa die Kraftwerke Oberhasli dürfen den Begriff «naturemade» verwenden, womit immerhin kontrolliert werden kann, dass nicht mehr Wasserkraftstrom verkauft als tatsächlich produziert wird. Sprich: «naturemade basic»-Strom wird zwar in Wasserkraftwerken produziert, aber die Kraftwerke produzieren die Elektrizität nicht zweifelsfrei ökologisch. Das heisst, sie verstossen unter Umständen gegen die Vorschriften der Restwassermengen.

Ein guter Teil dieser Mehrproduktion basiert auf drei Grossprojekten: Das neue, 1,4 Milliarden Franken teure Pumpspeicherkraftwerk «Linthal 2015» soll dereinst jährlich mehr als zwei Milliarden Kilowattstunden Strom liefern. Das unterirdische Pumpspeicherkraftwerk «Nante de Drance» von Atel und SBB im Unterwallis soll 2014 ans Netz gehen und 1,5 Milliarden Kilowattstunden Strom erzeugen - bei einer Milliarde Franken Baukosten. Beide Projekte kommen planmässig voran, Opposition dagegen ist keine auszumachen.

Anders im Grimselgebiet. Hier arbeitet die BKW-Tochtergesellschaft Kraftwerke Oberhasli AG (KWO) seit Jahren an einem mehrstufigen Ausbauprojekt. Die umstrittene Staumauererhöhung ist nur ein Teil davon. Eigentlich wollte die KWO auch noch ein neues Pumpspeicherkraftwerk bauen, das Grimselwerk 3. Doch die Planung ist inzwischen auf Eis gelegt. Gleichzeitig ist die eingeleitete Optimierung der bestehenden Anlagen teilweise durch baurechtliche Unklarheiten blockiert.

Die Umweltverbände kämpfen geradezu verbissen gegen die Erhöhung der heutigen Grimselstaumauer um 23 Meter und vergessen dabei fast, dass mit einem früheren Ausbauprojekt einst eine zusätzliche 200 Meter hohe und 800 Meter breite Mauer in den heutigen Stausee hätte gebaut werden sollen. Wann und vor allem wie es mit dem aktuellen Ausbau an der Grimsel weitergehen wird, ist offen.

Quelle: Alexander Jaquemet

Geldproduktion unter Stromeinsatz

Diese drei Grossprojekte haben, sollten sie je verwirklicht werden, aber eine Kehrseite: Gemäss einer Aufstellung des Bundesamts für Energie würden sie – den KWO-Vollausbau vorausgesetzt - zwar jährlich 3,9 Milliarden Kilowattstunden zusätzlichen Strom produzieren. Weil das Wasser der Pumpspeicherkraftwerke aber immer wieder hochgepumpt werden muss, würden dazu fast fünf Milliarden Kilowattstunden Strom verbraucht. Unter dem Strich werden die geplanten Grossprojekte also dereinst gut eine Milliarde Kilowattstunden mehr Strom verbrauchen, als sie selber produzieren werden - und das Jahr für Jahr.

Doch so lange Herr und Frau Schweizer just zur Mittagszeit nicht nur kochen, sondern gleichzeitig auch noch waschen wollen, schnellt die Verbrauchskurve tagsüber steil nach oben. Um diese Verbrauchsspitzen abzudecken, ist das Stromsystem auf Speicherkraftwerke angewiesen. Denn: Atomkraftwerke oder Kohlekraftwerke lassen sich nicht kurzfristig hoch- oder zurückfahren. Benötigt das Netz kurzfristig zusätzlichen Strom, kann man hingegen in den Alpen mühelos die Schieber öffnen, und die Stromproduktion läuft an. Für das Bundesamt für Energie ist dies «ein wichtiger Standortvorteil für die schweizerische Elektrizitätswirtschaft im europäischen Umfeld».

Was im Stromproduktionssystem der Schweiz sinnvoll ist und von den Kraftwerkbetreibern gern hervorgehoben wird, hat zusätzlich einen für die Kraftwerke angenehmen Nebeneffekt - über den die Kraftwerkbetreiber aber weniger gerne sprechen: Der Strom aus Pumpspeicherwerken lässt sich tagsüber teuer verkaufen, wohingegen der Strom, der nötig ist, um das Wasser nachts wieder in die höher gelegenen Speicherseen zu pumpen, auf dem Strommarkt billig zu haben ist.

347 neue Kraftwerke sind projektiert

Zum Beispiel am 4. September 2008: Kurz vor Mittag wurde der Strom an der Strombörse in Leipzig für umgerechnet 20 Rappen pro Kilowattstunde verkauft. Zur gleichen Zeit lag die Stromproduktion der KWO auf einem Höchststand, wie eine im Internet veröffentlichte Produktionskurve zeigt (siehe Grafik «Der Schweizer Strom fliesst, wenn er teuer ist»). Zwischen vier und fünf Uhr morgens hingegen, als der Strom für gerade mal neun Rappen gehandelt wurde, liefen im Grimselgebiet die Pumpen. KWO-Sprecher Ernst Baumberger sagt dazu: «Klar benötigen Pumpspeicherkraftwerke Strom, aber um den je nach Tageszeit unterschiedlichen Stromverbrauch auszugleichen, gibt es keine bessere Alternative.»

Egal, ob milliardenteure Investitionen in Pumpspeicher- oder in Kleinwasserkraftwerke: Die Energiekonzerne preisen diese Aufwendungen generell als Engagement für erneuerbare Energien. Weil inzwischen nahezu jeder Stromproduzent ein eigenes Stromlabel etabliert hat (siehe «Ökoenergie Wasserkraft?»), das den Bezug zum natürlichen Wasser unterstreicht, steht Strom aus Wasserkraftwerken heute geradezu als Synonym für Ökostrom.

Mit der neuen kostendeckenden Einspeisevergütung, mit der der Bund Strom aus Kleinwasserkraftwerken fördern will, entsteht zudem ein weiterer Konflikt. Die Umweltverbände sehen sich mit einer gewaltigen Lawine konfrontiert: 347 Projekte für neue Wasserkraftwerke wurden beim Bund eingereicht, sie alle beantragen Fördergelder. Viele dieser Projekte befinden sich laut WWF-Wasserspezialist Andreas Knutti in «sensiblen Gebieten». Knutti kritisiert: «Mit der Subventionierung von neuen Kleinkraftwerken nimmt der Bund in Kauf, dass die letzten naturnahen Bäche verbaut werden.»

Bund redet die Widersprüche klein

Vor dem Hintergrund, dass in der Schweiz die letzten unverbauten Gewässer für die Stromproduktion erschlossen werden sollen, ist die Ausbeute an Elektrizität bescheiden: Auf rund eine Milliarde Kilowattstunden prognostiziert das Bundesamt für Energie die Produktion aus diesem Effort. Das entspricht gerade mal jener Strommenge, die dereinst die grossen Pumpspeicherkraftwerke verschlingen werden, um ihre lukrative Spitzenenergie überhaupt produzieren zu können.

Auch wenn neue Kleinwasserkraftwerke teils in bisher unverbauten Bächen geplant werden und Grossprojekte aufgrund der Pumpenergie zwiespältig sind, geniesst die Wasserkraft einen geradezu tadellos guten Ruf. Unterstützt wird das nicht zuletzt durch wenig differenzierte Aussagen des Bundesamts für Energie.

Im Strategiebericht für die Wasserkraftnutzung in der Schweiz heisst es etwa: «Je stärker die Wasserkraft genutzt wird, umso weniger braucht es andere, mit Problemen und Unsicherheiten behaftete Energieträger.» Oder: «Wasserkraft ist CO2-frei.» Die Tatsache, dass der Strom für die Pumpen aus fossilen Kraftwerken stammen kann, schaffte es im Strategiepapier des Bundes nur gerade in eine Klammerbemerkung. Und: Dass die Pumpen der Speicherkraftwerke dereinst nicht mehr wie heute gesamthaft 2,5 Milliarden Kilowattstunden Strom benötigen werden, sondern langfristig sogar doppelt so viel, steht in einem «Exkurs» des Bundes auf der allerletzten Seite.

Jürg Buri, Geschäftsführer der Schweizerischen Energie-Stiftung, kritisiert die Betreiber der Pumpspeicherkraftwerke scharf: «Der Strom aus Pumpspeicherwerken stammt mehrheitlich aus Kohle- und Atomkraftwerken, damit tragen wir die Risiken der Atomenergie und schaden dem Klima.» Trotzdem verkaufe die Stromwirtschaft den so hergestellten Strom als «saubere Wasserkraft». Buri: «Mit dem Ausbau der Pumpspeicherkraftwerke ist die Stromwirtschaft für die Hälfte der Stromlücke gleich selber verantwortlich.»

Sinn machen könnten die Schweizer Pumpspeicherkraftwerke dann, wenn sie als Ausgleich für die unregelmässig anfallende Wind- und Sonnenenergie benutzt werden könnten. Doch Jürg Buri hat diesbezüglich keine Hoffnung: «Das wird in nächster Zeit nicht stattfinden.» Für den Basler SP-Nationalrat Rudolf Rechsteiner gäbe es eine naheliegende Lösung: «Axpo, Atel und BKW müssten in Norddeutschland einfach einen Windpark kaufen, und das Problem der bisher aus Atom- und Kohlekraftwerken stammenden Pumpenergie wäre gelöst.» Aufgrund der finanziellen Lage wären die Schweizer Stromkonzerne dazu zweifellos in der Lage.

Der Strom fliesst, wenn er teuer ist

Der Tagesverlauf der Stromproduktion im Grimselgebiet zeigt, wann die Schweiz viel Elektrizität verbraucht und wie die Kraftwerke in Spitzenzeiten Geld verdienen können.19-08-Wasserkraft00.jpg

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1Daten vom 4. September 2008
Quellen: KWO, Swissix/European Energy Exchange
infografik: Beobachter/dr

Serie: Braucht die Schweiz ein neues AKW?

Dies ist der dritte Teil einer vierteiligen Serie mit Fakten und Argumenten zur Stromfrage.

Teil 1: Atomkraft: Ein strahlendes Comeback
Teil 2: Atomkraftwerke: Die Kosten werden schöngerechnet
Teil 4: Alternativenergie: Bestechende Theorie, ernüchternde Praxis