Um Viertel nach zehn Uhr abends ruft der Kuckuck. Manuel
greift in die Seitentasche seiner Berghose, wirft ein leicht
verlegenes «Dieser Rufton war auf dem Handy programmiert»
in die Runde und meldet sich. Es ist Paul, der mitteilt, dass
er es leider nicht mehr aufs Niederhorn schafft, weil er den
letzten Zug verpasst hat.
Somit startet das Berner Ala Team bloss zu dritt in den
wichtigsten Tag des Jahres: Manuel Schweizer, 23, Biologiestudent,
Alain Jacot, 30, Biologe und «European Wildlife Photographer
2001», sowie Markus Ehrengruber, 36, Biochemiker und
Gymnasiallehrer. Paul Walser, 36, Agronom und ebenfalls Gymnasiallehrer,
wird die Gruppe am nächsten Tag in Thun treffen. Das
Ziel der vier Männer: innerhalb der nächsten 24
Stunden so viele Vogelarten wie möglich zu entdecken
und so ein drittes Mal in Folge das Birdrace des Schweizer
Vogelschutzes zu gewinnen.
Vorerst aber sitzt das Trio noch am Tisch im Berghaus Niederhorn
hoch über dem Thunersee und erzählt von ornithologischen
Raritäten. Vom Birkhuhn etwa, das man ein Jahr zuvor
entdeckte. Oder von den Ammer-Hybriden halb Gold-,
halb Fichtenammer , die Manuel im Iran gefangen und
bestimmt hat «mit Bewilligung des Innenministeriums!».
Alain ist erst am Morgen aus Finnland zurückgekommen,
von einem Kongress mit anschliessender Vogelexkursion, natürlich.
Überhaupt, das Reisen: Alain und Markus waren schon in
Namibia auf der Pirsch, Manuel und Paul in Indien, wo Markus
auch schon zweimal war. Bulgarien, Polen und Ungarn gehören
zum Standardprogramm. Für Manuel stehen dieses Jahr noch
die Insel Helgoland und Nordostindien auf dem Programm.
Und das ökologische Gewissen?
«Eine verdammt schwierige Frage», antwortet Manuel.
«Zum Teil sind wir einfach egoistisch und fliegen durch
die Welt, weil wir seltene Vögel sehen wollen. Aber wenn
ich mich dafür in einem Artenschutzprogramm engagiere,
kann ich vielleicht ein klein wenig davon kompensieren.»
Ehrlichkeit ist Ehrensache
Im Berghaus leert sich die Gaststube langsam. Es ist halb
elf. Seit einer halben Stunde dürften Vögel gesucht
werden. «Keine Chance», sagt Markus und schiebt
noch einen Löffel Zwetschgensorbet in den Mund. «Vor
Tagesanbruch müssen wir hier oben gar nicht zu suchen
beginnen.» Samstagmorgen, halb sieben. Der Nebel, den
der «Niederhorn»-Wirt am Vortag angekündigt
hat, hockt im Tal. Nur ein paar Wolken ziehen über den
Himmel. Drei vermummte Gestalten laufen dem Niederhorngrat
entlang Richtung Osten. Nach 50 Metern bleiben sie stocksteif
stehen. Ein schwarzer Punkt schwirrt durch die Luft. «Ringdrossel»,
sagt Manuel, «Ringdrossel», bestätigt Alain,
und Markus nickt: «Stimmt. Erste Art: Ringdrossel.»
Die Einigkeit ist Vorschrift: «Von den vier oder
drei Mitgliedern des Teams müssen immer drei eine Art
sicher bestimmt haben (gesehen oder gehört)», heisst
es in den «gemeinsamen Regeln für die Teilnahme
am Birdrace», und weiter: «Die Beobachtungen werden
in einer Artenliste festgehalten. Es ist Ehrensache, dass
nur eindeutig bestimmte Arten aufgeführt werden.»
Ehrensache ist auch die Wahl der Fortbewegungsmittel: Nur
Zug, Bus, Seilbahnen, Velo und die eigenen Füsse zählen.
Keine Vorschriften gibt es hingegen bei der Routenplanung:
«Start und Ende sind nicht zentral, sondern nach freier
Wahl jeder Gruppe irgendwo in der Schweiz.»
Über dem Hohgant zeigen sich nun die ersten Sonnenstrahlen,
und mit dem Licht mehren sich die Kreuze: Birkhahn, Bergpieper,
Fichtenkreuzschnabel und Baumpieper sind abgehakt, als Markus
in einer Felswand eine Alpenbraunelle entdeckt: «Super,
die hatten wir noch nie!»
Es kommt aber noch besser. Plötzlich sitzt ein kleines
Ding auf einem abgestorbenen Baum. Für das ungeübte
Auge könnte es ohne weiteres als kommuner Spatz durchgehen.
Drei Feldstecher schnellen in die Höhe, drei Männer
halten die Luft an: «Ein Ortolan! Hier oben!»
8.15 Uhr, im Restaurant: «Wir dürfen nicht eine
halbe Stunde beim Frühstück vergeuden», hat
Markus am Vorabend ermahnt. Der Erfolg des frühen Morgens
jedoch macht übermütig. 18 Arten stehen auf der
Liste. Manuel holt noch ein Gipfeli vom Buffet. Markus spricht
derweil von 130 Arten, die aufzuspüren jetzt drinliege.
Im Vorjahr reichten 121 Arten zum Sieg, der Rekord liegt bei
127 Arten.
Die halbe Stunde, die eigentlich nicht sein dürfte,
wird weidlich ausgenutzt. Man futtert sich Vorräte für
den langen Tag an.
1336 Höhenmeter später ist die Euphorie vorerst
verflogen. Bei der Haltestelle Beatenbucht unten am Thunersee
stehen erst 36 Arten auf der Liste, gleich viele wie im Vorjahr.
Der erhoffte Steinadler hat sich nicht blicken lassen, und
die Alpendohle, die am Abend vorher noch um das Berghaus herumflog,
war auch nicht mehr zu sehen. Auch von der Heckenbraunelle
(«ein Muss!») keine Spur. Da half es auch nicht,
dass Manuel im Wald minutenlang den Ruf des Sperlingskauzes
nachahmte, um so kleine Singvögel zum Protest gegen den
verhassten Räuber zu verleiten.
Und auch das «Pishing» nützte nur wenig:
Das «Pschschpschschpschsch», das Alain immer und
immer wieder in die Landschaft hinausraunte, brachte zwar
einige Kreuze auf der Liste ein. Aber keine Blaumeise. Und
schon gar keinen Grünspecht. Und überdies fühlt
sich Alain irgendwie fiebrig und hat Halsweh.
Sprinten für den guten Zweck
Am Bahnhof in Thun wartet Paul Walser. Es ist Mittag, und
der Rückstand auf den von ihm zusammengestellten Fahrplan
beträgt bereits über zwei Stunden. Jetzt zählt
jede Minute. Die vier Männer schwingen sich auf ihre
Velos und sprinten los in Richtung See. Im Schadaupark identifizieren
sie unter den erstaunten Blicken einer japanischen Familie
einen Baumfalken, drei Minuten später einen Teichrohrsänger
und eine Gartengrasmücke.
Twitchers, zu Deutsch so viel wie Abhaker, heissen in Ornithologenkreisen
diejenigen, die mit Listen durch das Land ziehen und jeden
Vogel vermerken, der ihnen über den Weg fliegt. Der Ausdruck
ist nicht schmeichelhaft gemeint. Das Birdrace ist Twitching
in Reinkultur: Vogel sehen, identifizieren, abhaken, den nächsten
Vogel suchen. Nicht alle Vogelliebhaber bringen für diesen
Wettkampf Verständnis auf. Besonders die Älteren
in der Berner Ala, im Verein, hätten «etwas Mühe»
damit, sagt Manuel: «Aber mittlerweile haben sie sich
daran gewöhnt, dass wir mitmachen.»
Und ausserdem dient das Birdrace einem guten Zweck: Jedes
Team hat die Aufgabe, Sponsoren zu suchen, die pro gesichtete
Vogelart einen im Voraus festgelegten Betrag spenden. Damit
kommen jedes Jahr mehrere tausend Franken zusammen, die für
ein bestimmtes Projekt eingesetzt werden. Dieses Jahr rennt
und strampelt die Ornithologenschar für den Schutz des
Braunkehlchens.
Es ist einer der letzten warmen Spätsommertage. Auf
dem Thunersee schaukeln Segelboote in einer leichten Brise,
an den Ufern sitzen Spaziergänger. Im Wasser planschen
Kinder und Hunde. Für derart irdische Vergnügungen
haben die vier Ornithologen nicht viel übrig.
Mittlerweile ergänzen zwei Hochleistungsfernrohre
auf Karbonfaser-Stativen die teuren Feldstecher. Und sie tun
ihren Dienst. Ein winziger, flügelschlagender Punkt weit
draussen über dem See wird übereinstimmend als Zwergmöwe
identifiziert. Und abgehakt. Ein anderer, noch kleinerer Punkt
hoch oben am Sigriswiler Grat lässt die Herzen höher
schlagen: Es ist kein Mäusebussard, wie zuerst vermutet.
«Seht doch mal den Hals und die Handschwingen»,
sagt Manuel. «Das ist ein Steinadler.» Der fehlende
Steinadler! Die Fernrohre werden auf 60-fache Vergrösserung
gestellt, und eine Diskussion über Halslänge und
Gefieder hebt an. Es folgt ein demokratischer Entscheid: Es
war ein Steinadler. Überprüfen lässt sich das
nicht mehr. Der kleine Punkt am Horizont hat sich längst
aus dem Staub gemacht.
Die Konkurrenz hetzt mit
Es geht weiter in einem Wechsel aus Raserei und Vollbremsung.
Das Berner Ala Team ist mittlerweile gut eingespielt. Manuel
und Paul geben bei der Identifizierung den Ton an, Markus
führt die Artenliste nach. Alain, trotz der in Thun eilends
besorgten Medikamente immer noch etwas fiebrig, redet und
sucht mit.
Bei Unsicherheiten gilt der demokratische Entscheid
oder das Wort von Manuel. Der Biologiestudent weist mit 23
Jahren bereits einen ornithologischen Leistungsausweis auf,
der so manchen älteren Vogelliebhaber erblassen lässt:
Er ist Mitglied der «Avifaunistischen Kommission»,
demjenigen Gremium, das aufgrund schriftlicher Meldungen aus
der Ornithologenschar entscheidet, ob ein in der Schweiz gesichteter
Vogel tatsächlich die behauptete Art ist oder nicht vielleicht
doch nur ein naher Verwandter.
In den Ferien leitet Manuel ornithologische Lager für
Jugendliche. Und er steht in der Rangliste der Ornithologen
mit am meisten gesichteten Arten, dem Club 300, auf Rang fünf:
mit 314 von 384 in der Schweiz bekannten (und von der Kommission
anerkannten) Arten. Wird irgendwo in der Schweiz ein seltener
Vogel gesichtet, meldet ihm der SMS Mega Alert, wo das Tier
zu finden ist. Wenn irgendwie möglich, fährt dann
Manuel hin «meistens mit dem Zug», wie
er betont.
13.30 Uhr, 69 Arten auf der Liste. Ein befriedigender Zwischenstand,
aber Hochmut ist fehl am Platz. Auch die Konkurrenz, insgesamt
15 Gruppen mit Namen wie «Oeuf-oeuf-que-lac-je»
oder «Puffinus puffinus», hetzt im gleichen Moment
quer durch die Schweiz.
Die Fahrt auf die Thuner Allmend gleicht mehr einem Mannschaftszeitfahren
als einem Ausflug von Vogelfreunden. Mitten im militärischen
Übungsgelände steuern die vier zielsicher auf einen
Flecken mit steilen Kiesrampen, Pfützen und Büschen
zu. «Ornithologisch gesehen ist das hier immer noch
ein Supergebiet», sagt Paul, «trotz Panzern. Aber
vor 30 oder 40 Jahren brüteten hier noch Vögel,
die man sonst in ganz Europa kaum einmal sah.»
Hoffnung auf Sieg schmilzt
Heute bleibt es bei bekannteren Arten. Der Grünspecht,
der sich am Niederhorn nicht zeigte und jetzt plötzlich
auftaucht, zählt aber nicht: Nur Alain hat ihn gesehen.
«So nä Seich», sagt Manuel.
Im Zug zwischen Thun und Bern klingelt wieder Manuels Handy.
Die Gruppe Keilschwanzregenpfeifer, ein harter Konkurrent
im Kampf um den Siegerpreis, fragt nach dem Zwischenstand.
Manuel meldet 84 Arten, die Keilschwanzregenpfeifer haben
schon 93 verbucht. «Aber die waren schon im Fanel»,
gibt sich Manuel cool. Und das Fanel, das grosse Sumpfgebiet
an der Mündung des Broyekanals in den Neuenburgersee,
das sei so etwas wie das «ornithologische Epizentrum
der Schweiz»: «Kein Wunder, haben die schon so
viele Arten beieinander.»
In Bern bleiben 25 Minuten bis zur Abfahrt des Zugs nach
Ins. Zeit genug für einen kurzen Spurt zur Universität.
Die zwei erhofften Arten Alpensegler und Felsenschwalbe
werden fast beiläufig abgehakt. 86 Arten auf der
Liste.
Das Grosse Moos bringt die Ernüchterung. Auf dem Weg
von Ins an den Neuenburgersee brennt die Sonne. Auf den Feldern,
wo Goldammer und Feldlerche zu finden sein sollten
müssten! , regt sich nichts. Kein Steinschmätzer,
keine Grauammer, nichts. «Es ist zu heiss», stellt
Paul fest, «die Viecher pennen alle irgendwo. Wenn jetzt
ein Gewitter käme, wären Boden und Himmel nachher
voll, aber so» Anderthalb Stunden dauert die Suche,
doch die Ausbeute ist mager: ein Kuckuck, ein Braunkehlchen
und eine Schleiereule, zu der Alain anmerkt: «Die hat
jeder, der hier in der Gegend vorbeikommt. Da weiss man einfach,
wo sie sitzt.»
Man beschliesst, die Suche auf den Feldern aufzugeben und
ins Fanel zu fahren. Der Zwischenstand ist für die Favoriten
enttäuschend: Weniger als 100 Arten stehen auf der Liste,
und es bleiben noch zweieinhalb Stunden Tageslicht. Mit dem
Sieg rechnet niemand mehr in der Gruppe.
Immerhin, das grosse Schilfgebiet des Fanel lässt
noch auf einige Kreuze hoffen. Allerdings nicht nur für
das Berner Ala Team. Auch die Tha Schüschus haben sich
dort eingefunden, ebenso das Team Bubo Bubo und die Flachseetaucher.
Etwa 30 Personen mit Feldstechern drängen sich auf dem
schmalen Damm.
Man begegnet sich mit freundschaftlicher Zurückhaltung:
Wer eine neue Art sichtet, lässt die anderen Gruppen
zwar durchaus am Gesehenen teilhaben. Aber an die grosse Glocke
hängt man den Schilfrohrsänger, die Sturmmöwe
und den Steinwälzer doch lieber nicht.
Hochspannung bis zum Ende
Es ist 19.20 Uhr, und erst 114 Arten stehen auf der Liste.
Nun werden die Zweifel langsam zur Gewissheit: «Dieses
Jahr schaffen wir es nicht», orakelt Alain. «Irgendjemand
hat auf den Feldern versagt», meint Manuel ironisch,
«wir oder die Vögel.»
Langsam wird nun auch die Sicht schlechter. Über dem
Neuenburgersee braut sich von Westen her das ersehnte Gewitter
zusammen. Durch die Wolken dringen letzte Sonnenstrahlen,
auf dem See kräuselt sich das Wasser. Vögel krächzen,
zirpen und tschilpen, ansonsten herrscht Ruhe, eine andächtige
Ruhe.
Dann fallen die ersten Tropfen. 15 Minuten später
stehen 30 pudelnasse, aber glückliche Ornithologinnen
und Ornithologen auf dem Damm. Der kurze Regenguss hat Wunder
gewirkt. Auf einer Sandbank taucht ein Knutt auf, auf der
«Berner Insel» jenseits des Damms eine Knäkente,
und im Schilf zeigt sich eine Minute lang eine Rohrdommel.
Die Stimmung steigt wieder beim Berner Ala Team, der Glaube
an den Sieg kehrt zurück.
21.50 Uhr, Vereinshaus der Berner Ala im Fanel. Ein Topf
Spaghetti steht auf dem Tisch, und Markus zählt die Liste
durch: 121 Arten, gleich viele wie im Vorjahr. Inklusive eines
Flamingos, der sich aus Südfrankreich an den Neuenburgersee
verzogen hat. Markus meldet die Leistung nicht ohne Stolz
ans Wettkampfbüro. Ob all dem Erlebten wird der Abend
lang, aber Paul und Manuel stellen den Wecker auf sechs Uhr:
«Man muss doch profitieren, wenn man schon einmal hier
ist.»
Die gute Nachricht kommt am nächsten Mittag per Telefon
vom Organisationskomitee: Die 121 Arten haben erneut zum Sieg
gereicht.