«Der Besitz eines Autos ist ein Kündigungsgrund» - dieser Satz könnte schon bald in Mietverträgen stehen. Denn autofreie Wohnsiedlungen sind nicht mehr nur Wunschträume von Ökofreaks. Noch verhindern zwar oft Gesetze und unflexible Behörden den Bau autofreier Siedlungen. Denn bislang galt: Ein Parkplatz gehört zur Wohnung wie der Kühlschrank. Die kommunalen und kantonalen Baugesetze schreiben deshalb eine Mindestzahl von Parkplätzen vor, meistens einen pro Wohnung.

Diesen Automatismus hinterfragen nun aber auch kalkulierende Investoren. Einer von ihnen ist Urs Frei, Besitzer einer Fensterfabrik in Zürich und Präsident der Baugenossenschaft Zurlinden, die eine Siedlung mit rund 200 Wohnungen und fast ohne Parkplätze in Zürich-Leimbach plant. «Einen unterirdischen Parkplatz am Sihlufer zu erstellen kostet etwa 50'000 Franken», rechnet er vor. «Man müsste einen kostendeckenden Zins von 250 Franken erzielen, löst aber auf dem Markt höchstens 170 Franken.»

Der 1923 gegründeten Genossenschaft Zurlinden gehören rund 50 eher bürgerlich ausgerichtete Handwerksbetriebe an; sie besitzt heute rund 1100 Wohnungen. Aus Sicht des Vorstands zahlt sich der Verzicht auf Parkplätze aus: «In den Siedlungen unserer Genossenschaft steht jeder fünfte Parkplatz leer, was uns jedes Jahr ein Loch von fast 200'000 Franken in die Kasse reisst», erklärt Präsident Frei. Einen Teil des Geldes, das die Genossenschaft spart, indem sie nun im «Sihlbogen» in Zürich-Leimbach weitgehend auf Parkplätze verzichtet, will sie in Form eines übertragbaren Abonnements für den öffentlichen Verkehr an die Mieter weitergeben.

Rundherum braust der Verkehr

Initianten von autofreien Siedlungen wie Urs Frei orientieren sich am von der ETH Zürich entwickelten Leitbild der «2000-Watt-Gesellschaft» - ein Lebensstil, mit dem man bei gleichem Komfort zwei Drittel weniger Energie als heute verbrauchen würde. Autofreie Siedlungen sollen deshalb optimal durch den öffentlichen Verkehr erschlossen und mittels Erdsonden, Holzfeuerung oder Solarpanels energetisch praktisch selbstversorgend sein. Frei, der statt von einer «autofreien» lieber von einer «autoarmen» Siedlung redet, entspricht so gar nicht dem Typ grüner Fundi, sondern wirkt wie ein bodenständiger Unternehmer: «Ökologisch gebaute Wohnungen sind ökonomisch und kommen langfristig günstiger zu stehen.»

Zwar gibt es auch in einer autoarmen Siedlung einige Parkplätze, doch nur für gemeinsame Autos (Carsharing), Notfälle, Besucher oder Behinderte. Das sind nach der heute üblichen Definition weniger als 0,2 Parkplätze pro Wohnung. «Sie sehen, wir überholen hier die Grünen links», schmunzelt Frei, wenn er das Projekt «Sihlbogen» erklärt.

In mehreren europäischen Ländern wie Deutschland, Grossbritannien und den Niederlanden gibt es mittlerweile autofreie Siedlungen. Vorbild für viele ist «Wien 21», eine Siedlung in der österreichischen Hauptstadt mit 250 Wohnungen, die bereits Ende 1999 erstellt wurde. Hier gibt es lediglich 0,1 Parkplätze pro Wohnung, und selbst das Carsharing wird wesentlich weniger genutzt als vorgesehen. «Man plante ursprünglich zwei Dutzend Plätze, jetzt sind es noch zwei Autos, die aber meist nur am Wochenende benutzt werden», sagt Monika Gragl vom Bewohnerbeirat. Was bei den Parkplätzen eingespart wurde, investierte der Bauträger in die Gemeinschaftseinrichtungen. Dazu gehören ein Partyraum, eine Sauna, ein Internetcafé, ein Tageselternzentrum, ein Waschsalon, ein Kinderhaus, ein Jugendraum und vieles mehr. Und wie strikt wird das Autoverbot eingehalten? «Schätzungsweise acht bis zehn Leute halten sich nicht daran und stellen ihr Auto in der Nachbarschaft ab», meint Monika Gragl.

Die Siedlung «Wien 21» ist nicht nur eine lebhafte Siedlung geworden, sondern ein Forschungs- und Studienobjekt. «Ständig trifft man auf Gruppen von Architekten oder anderen Interessenten», sagt die Bewohnerin Kornelia Zipper. «Manchmal kommt man sich vor wie im Zoo.» Trotzdem hat es in Wien noch kein Folgeprojekt gegeben, obwohl es dort gesetzlich möglich ist, nur noch 0,1 Parkplätze pro Wohnung zu erstellen. Dadurch bleibt auch ein Nachteil von «Wien 21» bestehen: «Es ist eine zu kleine Insel, die von zu viel Autoverkehr umgeben ist», sagt Peter Moser, der im Auftrag der Stadt eine Evaluation durchführte und dabei zum Schluss kam, dass es wesentlich grössere autofreie Quartiere geben müsste, damit diese nicht als isolierte Zonen dastehen.

Bern will Kontrolle des Autoverbots

Doch noch gilt überall: Wer eine autofreie Siedlung erstellen will, braucht einen langen Atem. Rekurse von Nachbarn, unflexible Behörden oder unterschiedliche Vorstellungen der Benutzer verzögern oft ein Vorhaben.

Ein Lied vom zähen Umgang mit Behörden kann auch Günther Ketterer, Verwaltungsratspräsident der Berner NPG AG für nachhaltiges Bauen, singen. Neun Monate dauerten die Verhandlungen um die Parkplatzzahl, aber nun kann sich Ketterer als Pionier fühlen: Am 18. August erfolgte der Spatenstich für die autofreie Siedlung «Burgunder» in Bümpliz-Süd - die erste in der Schweiz. Zusammen mit zwei Pensionskassen erstellen die NPG AG und die WOK Burgunder AG direkt neben einer S-Bahn-Station eine Siedlung mit 80 Wohnungen. Die Stadt Bern verlangte, dass das Autoverbot in den Mietverträgen festgelegt und ein jährlicher Bericht über seine Einhaltung erstellt wird. «Die grosse Angst der Stadt Bern bestand darin, dass sich die Mieter nicht ans Autobesitzverbot halten und ihre Autos in der Nachbarschaft abstellen», erklärt Ketterer, der früher Verwaltungsrat der Alternativen Bank war.<

Schweizer Haushalte: Autos und Parkplätze

Autofreie Siedlungen sind nur langsam im Kommen: Die Mehrheit der Schweizer Haushalte setzt nach wie vor auf die eigenen vier Räder.
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Quelle: BFS, ARE (Mikrozensus 2005 zum Verkehrsverhalten, Befragung von 31'950 Haushalten); Infografik: Beobachter/dr

Vor allem Städter leben ohne Auto

Pioniergeist hat auch Ostermundigen erfasst: Die Berner Gemeinde ist eine der ersten in der Schweiz, die mit ihrer Bauordnung eine Reduktion der Parkplätze auf 0,1 pro Wohnung möglich macht. Hier soll denn auch die autofreie Siedlung «Oberfeld» mit 190 Wohnungen entstehen. Träger ist eine vor einem guten Jahr gegründete Genossenschaft mit bereits 160 Mitgliedern. Das grosse Interesse ist keine Überraschung für ihren Präsidenten Christian Zeyer, Energie- und Umweltberater und SP-Gemeinderat. Denn eine von der Wohnbaugenossenschaft initiierte Studie der Liegenschaftsverwaltung der Stadt Bern vom Juni 2007 ergab, dass sich in Stadt und Region rund 40'000 Haushalte für nachhaltiges Wohnen interessieren, 12'400 dieser Haushalte gaben zudem an, die Möglichkeit, autofrei zu wohnen, sei für sie attraktiv. Erstaunlich ist das nicht, ist doch der autofreie Lebensstil vor allem unter Städtern verbreitet - so hat in Bern oder Zürich die Hälfte aller Haushalte kein Auto. Im Herbst hofft die Genossenschaft, die Verhandlungen mit der Stadt Bern, der Grundeigentümerin des «Oberfelds», abschliessen zu können. Im besten Fall könnte man Ende 2009 mit dem Bau beginnen.

Beim «Sihlbogen» in Zürich gibt es unterdessen Schwierigkeiten von unerwarteter Seite. Obwohl die Stadt Zürich selber Genossenschafterin bei der Zurlinden ist und die 2000-Watt-Gesellschaft zum Legislaturziel erklärt hat, wollte das Tiefbaudepartement unter dem sozialdemokratischen Stadtrat Martin Waser auch nach monatelangen Verhandlungen partout keine Ausnahmebewilligung für eine reduzierte Anzahl Parkplätze geben und verlangte deren 150. «Gemäss geltender Parkplatzverordnung war es nicht möglich, eine Reduktion der Parkplatzzahl unter den Pflichtbedarf zu bewilligen», sagt Erich Willi vom Tiefbauamt. «Wir haben alles Mögliche an Kontrollen angeboten zur Durchsetzung einer reduzierten Anzahl Parkplätze, doch es half nichts», ärgert sich Urs Frei. «Nun hoffen wir, dass die neue grüne Stadträtin Ruth Genner mehr Verständnis für eine Überbauung mit einem eigenen Bahnhof hat.» Genner hat ihr Amt am 1. August angetreten.

Hoffen auf die Parkplatzverordnung

Gebaut wird der «Sihlbogen» trotzdem. «Wir bauen die erste Etappe wie geplant ohne Parkplätze. Erst in der zweiten Etappe müssen wir innert fünf Jahren die Parkplätze für beide Etappen erstellen», erklärt Urs Frei, «und bis dahin kann viel passieren - die Zeit arbeitet für uns.» Denn eine neue Parkplatzverordnung für die Stadt Zürich, die eine reduzierte Zahl Parkplätze bei gut erschlossenen Wohnsiedlungen vorsieht, ist in der Vernehmlassung.