Zürich ist die heimliche Hauptstadt Graubündens. An der Limmat wohnen – wenigstens unter der Woche – mehr Bündner als in Chur. Am Wochenende ziehts viele von ihnen zurück in die Berge. Vor allem in den Wintermonaten, wenn die dicke Nebeldecke über dem Zürichsee selbst sonnigen Gemütern zusetzt.

Zu den Heimwehbündnern zählt sich auch Roland Deflorin: «Seit 2000 wohne und arbeite ich in Zürich. Ich kehre aber fast jedes Wochenende zurück.» Aus diesem Grund hat sich Deflorin in Zürich als Wochenaufenthalter angemeldet. In Graubünden wohnt er bei den Eltern. Das ging problemlos – bis im Herbst 2003. «Dann musste ich beim Zürcher Steueramt antraben, wo ich regelrecht ausgequetscht wurde», erinnert er sich.

In der Schweiz gibt es schätzungsweise 100'000 Wochenaufenthalter, und viele von ihnen müssen über ihren Status regelmässig Rechenschaft ablegen. Anfragen zum Steuerdomizil sind denn auch im Beobachter-Beratungszentrum an der Tagesordnung. Fragt man bei einzelnen Steuerämtern nach, heisst es meistens, es werde jeder Fall einzeln überprüft. Tatsache ist aber, dass vielerorts Standardmodelle zur Anwendung kommen. Verantwortlich dafür sind auch die Gerichte – allen voran das Bundesgericht. Sie haben für die Frage, ob das Steuerdomizil am Wochenaufenthalts- oder am Wochenendort liegt, einheitliche Kriterien entwickelt.

Der Lebensmittelpunkt entscheidet

Wichtigster Grundsatz: Das Steuerdomizil ist nicht frei wählbar. Massgeblich ist, wo eine Person den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen hat. Dieser so genannte Lebensmittelpunkt hängt von verschiedenen Faktoren ab: von der Wohn- und Arbeitssituation, aber auch von familiären und gesellschaftlichen Verhältnissen. In der Praxis unterscheidet man folgende Kategorien: 

  • Ledige Erwerbstätige haben ihren Lebensmittelpunkt und damit auch das Steuerdomizil grundsätzlich am Arbeitsort. Denn erfahrungsgemäss sind die am Arbeitsort gepflegten Beziehungen stärker als die in der Freizeit geknüpften Kontakte. Es gelten aber spezielle Beweisregeln: Wer zum Beispiel mit Bahnbilletten belegen kann, dass er mindestens alle 14 Tage zu seinen Eltern oder Geschwistern zurückkehrt, spielt den Ball zurück ans Steueramt – nun muss dieses beweisen, dass sich der Lebensmittelpunkt am Arbeitsort befindet. Das ist nach Ansicht des Bundesgerichts der Fall, wenn ledige Steuerpflichtige am Wochenaufenthaltsort eine Wohnung eingerichtet haben, dort mit einem Partner zusammenleben oder sonst einen besonderen Freundes- und Bekanntenkreis pflegen. Wer damit nicht einverstanden ist, muss nachweisen, dass seine Beziehungen zum Wochenendort trotzdem gewichtiger sind.
  • Studenten oder Studentinnen, die in eine Stadt ziehen, begründen damit grundsätzlich keinen neuen Wohnsitz. Folglich sind Studierende an ihrem Wochenaufenthaltsort nicht steuerpflichtig. Anders sieht es aus, wenn bereits während des Studiums klar ist, dass sie nach dem Abschluss am Studienort bleiben. Das ist etwa bei Personen der Fall, die parallel zum Studium geregelter Arbeit nachgehen und sich auch während der Semesterferien und an den Wochenenden am Arbeitsort aufhalten.
  • Bei Verheirateten, die einen Bezug zu mehreren Orten haben, gewichten die Gerichte die persönlichen und familiären Kontakte höher als die Beziehungen zum Arbeitsort. Mit anderen Worten: Pendler und Wochenaufenthalter, die täglich oder an den Wochenenden zu ihren Ehepartnern und Kindern zurückkehren, sind dort steuerpflichtig, wo sich die Familie aufhält.
  • Personen in leitender Position stellen einen Sonderfall dar: Wer ledig ist und einen Job als Direktor oder eine vergleichbare Funktion hat, ist immer am Arbeitsort steuerpflichtig – selbst wenn er sehr starke Beziehungen zum Ort hat, wo seine Familie lebt. Bei Verheirateten dieser Kategorie kann es zu einer Aufteilung der Steuerpflicht kommen, wenn der Ehepartner regelmässig bei der Familie ist.



Bei Roland Deflorin hat die Stadt Zürich den Status als Wochenaufenthalter bisher akzeptiert. «Da ich Schicht arbeite, knüpfe ich wenig neue Kontakte in Zürich. Meine Freunde habe ich im Bündnerland», erklärt er. Ob das auf die Dauer so bleibt, wird sich weisen. Es soll ja auch schon eingefleischte Bergler gegeben haben, die sich an den zähen Hochnebel im Unterland gewöhnt haben.

Einsprache: Das Vorgehen

Beansprucht das Steueramt am Wochenaufenthaltsort die Steuerhoheit, muss es eine entsprechende Verfügung erlassen. Diese muss nebst der Begründung und den Rechtsgrundlagen auch eine Rechtsmittelbelehrung enthalten. So können sich Betroffene gegebenenfalls gegen den Entscheid zur Wehr setzen – etwa mittels Einsprache oder Rekurs. Wichtig ist, dass die Anfechtung gut begründet ist und die nötigen Belege enthält. Wer also geltend macht, sein soziales Leben finde mehrheitlich am Wochenendort statt, sollte das etwa mit Schreiben von Vereinen, Freunden und Nachbarn untermauern.