In den frühen achtziger Jahren hätte man meinen können, dass neue Wohnmodelle bald Alltag sein würden. In Häusern etwa, die während der Jugendunruhen besetzt wurden, erprobten die Bewohner neue Formen des Zusammenlebens. Und zur selben Zeit entstand auch die Vision «Bolo Bolo» des Autors P. M. Er propagierte eine neue Gesellschaft, die sogenannten Bolos, eine riesige Wohngemeinschaft für mehrere hundert Menschen. Diese Bolos konnten sowohl Grossgemeinschaften sein als auch entsprechend angepasste Stadtteile. Doch die Visionen verpufften, und aus Bolo Bolo wurde in einer abgespeckten Version die Wohngenossenschaft Kraftwerk in Zürich, die von P. M. mitbegründet wurde.

Das Gros der Leute hingegen lebt auch 30 Jahre später noch in Wohnungen, die den bekannten Mustern entsprechen. «Beim Wohnen sind wir konservativ, deshalb wünschen sich die meisten Menschen eine Wohnung üblichen Zuschnitts», sagt Joëlle Zimmerli, Soziologin, Planerin und Inhaberin des Büros Zimraum in Zürich. Sie ist spezialisiert auf Untersuchungen zum Wohnen.

Die Wohnung ist der Anker

Warum wir so konservativ wohnen, ist für sie einfach zu erklären: «Die Wohnung ist für uns ein Anker im Alltag und bietet Kontinuität, während sich Haushaltsformen und Partnerschaften verändern können.» Schwer haben es sogenannte kommunikative Wohnmodelle, bei denen das Leben nicht nur in den Wohnungen selber, sondern auch in gemeinsam genutzten Bereichen stattfindet oder die Mieter verpflichtet sind, Unterhaltsarbeiten auszuführen.

Daran konnten auch die grossen gesellschaftlichen und demographischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte wenig ändern. Kommt dazu, dass die Wohnungsindustrie angesichts der konservativen Klientel selten zu Experimenten bereit ist: «Die meisten Investoren müssen sicher sein, über eine lange Zeit ihre Rendite erwirtschaften zu können – deshalb will man kaum Risiken eingehen», sagt Dieter Beeler, Partner und Spezialist für Immobilienmarketing bei Acasa in Glattbrugg. Experimentierfreudiger geben sich die Wohnbaugenossenschaften: «Die grosse Nähe zur Bewohnerschaft ist sicher ein Innovationstreiber», sagt Urs Hauser, Direktor ad interim des Verbands der gemeinnützigen Wohnbauträger.

Fünf Trends zeichnen sich ab

Der Blick 30 Jahre zurück zeigt, dass sich im Wohnbereich wenig getan hat, doch wie sieht unser Wohnumfeld in weiteren 30 Jahren aus? «Gegenüber heute wird sich nicht allzu viel ändern», sagt Joëlle Zimmerli. Rund 75 Prozent der Leute würden auch künftig in klassischen Wohnungen leben.

Trotzdem wird es – zumindest für die restlichen 25 Prozent – in nächster Zeit einige Innovationen geben. Das zeigen die Recherchen von Beobachter Extra bei Immobilien-, Wohn- und Baufachleuten. Fünf Trends sind zu erwarten.

Trend 1: Flexibilität. «Gebäude, die verschiedene Nutzungen zulassen, gewinnen an Bedeutung», sagt Immobilienfachmann Beeler. Er denkt dabei an Häuser ohne innere Trennwände, die sich je nach Wunsch zum Wohnen, Arbeiten oder zu Schulräumen ausbauen lassen. Ein solch flexibles Gebäude steht zum Beispiel seit 2007 im Amsterdamer Quartier IJburg.

Trend 2: günstige Wohnungen. Der Druck auf die grösseren Städte hat in den letzten Jahren die Mieten in die Höhe schnellen lassen. Für Menschen mit tiefem Einkommen wird es deshalb immer schwieriger, passenden Wohnraum zu finden. «Um die Mietpreise zu senken, braucht es wieder mehr kleinere und einfachere Wohnungen», sagt Margrit Hugentobler, Leiterin des Wohnforums an der Architekturabteilung der ETH Zürich. Wie diese aussehen könnten, zeigt eine aktuelle Studie des Bundesamts für Wohnungswesen. Sie schlägt kleinere Wohnungen, einfachere Ausbaustandards sowie mehr gemeinsam genutzte Räume vor, wie etwa eine Dachterrasse statt individueller Balkone. Für Immobilienfachmann Beeler reicht dies aber nicht aus, um wirklich genügend preiswerten Wohnraum zu schaffen: «Es braucht ganz andere Denkansätze, zum Beispiel in Form einer neuen Art von Wohngemeinschaft.» Zudem müsse im urbanen Umfeld sinnvoller verdichtet werden.

Trend 3: neues Wohnen im Alter. Die Zahl der Menschen über 65 nimmt zu. Viele von ihnen sind fit und mobil und haben auch im höheren Alter keine Lust, im Altersheim zu leben. «Mehrgenerationenhäuser sind ein spannender Lösungsansatz», sagt Dieter Beeler. Ein Beispiel ist das kürzlich bezogene Wohnhaus «Giesserei» der Genossenschaft Gesewo in Winterthur.

Trend 4: Bauen für Zielgruppen. Investoren erstellen immer häufiger exakt auf eine Zielgruppe zugeschnittene Gebäude. «Dadurch können Gleichgesinnte zusammenwohnen, und es entsteht eine Community», sagt Dieter Beeler von Acasa. Ein Beispiel sind Wohnhäuser für Studierende oder solche für ältere Menschen, die ihre Einfamilienhäuser verkauft haben.

Trend 5: Nachhaltigkeit. Schon heute werden immer mehr neue Wohnsiedlungen im städtischen Raum nach den Vorgaben der 2000-Watt-Gesellschaft gebaut. Dazu gehört der weitgehende Verzicht auf ein Auto. Dieser Trend wird sich künftig noch verstärken.

Während diese fünf Trends die nächsten fünf bis zehn Jahre prägen werden, sind Prognosen, die weiter in die Zukunft reichen, schwerer zu erstellen. Einen Einblick in die Welt von 2030 bietet die Vertiefungsstudie «Wohnformen 2030» von Swissfuture. Sie wurde letztes Jahr im Rahmen einer Publikation zum künftigen Wertewandel in der Schweiz bis 2030 veröffentlicht.

Die vier möglichen Szenarien

Die Studie nimmt mögliche und plausible Entwicklungen aus den Bereichen Demographie, Gesellschaft, Wirtschaft, Umwelt und Politik auf, verdichtet sie zu vier Szenarien für die künftige Schweiz und zeigt, wie die jeweilige Wohnwelt dazu aussehen könnte (siehe unten: Infografik «Wohnentwicklung»). Die Szenarien decken die ganze Bandbreite von einem starken Wachstum bis zu einer sehr pessimistischen wirtschaftlichen Entwicklung ab. Das Szenario A beispielsweise geht davon aus, dass unser Wohlstand wächst, die Bevölkerung auf 9,5 Millionen Einwohner zunimmt und genügend Geld für eine nachhaltige Entwicklung vorhanden ist.

Ganz anders sähe unsere Zukunft beim Eintritt des Szenarios D aus: Die Bevölkerungszahl würde stagnieren, die wirtschaftlichen Perspektiven wären wenig rosig. Entsprechend käme es zu einem schleichenden Zerfall der Liegenschaften. Die Menschen müssten in den noch bewohnbaren Häusern zusammenrücken.

Welches der vier Szenarien eintreffen wird, kann niemand voraussagen: «Aufgrund der aktuellen Entwicklungen gehe ich derzeit davon aus, dass wir irgendwo zwischen Szenario A und Szenario D landen werden», sagt Zukunftsforscher Georges T. Roos, der die Studie geleitet hat. Indizien sind für ihn auf der einen Seite die derzeit immer noch steigende Bevölkerungszahl sowie die stärkere Ausrichtung auf eine nachhaltige Entwicklung und auf der anderen Seite die politisch forcierte Regeldichte.

Egal, welches Szenario künftig eintrifft, erprobt werden die dazu passenden Wohnformen schon heute: So entstehen immer mehr Siedlungen nach den Ideen der 2000-Watt-Gesellschaft. Ebenso werden an verschiedenen Orten neue Wohnmodelle getestet, etwa Clusterwohnungen, die gemeinschaftliches und individuelles Wohnen kombinieren. Jeder Bewohner hat einen privaten Bereich mit kleiner Küche und Bad, der an einen grossen gemeinschaftlich genutzten Aufenthaltsbereich mit einer grossen Küche angeschlossen ist.

Klicken Sie auf die Grafik, um sie vergrössert anzuzeigen. (Grafik: Beobachter Extra/AS/AK)

Quelle: Infografik: Andrea Klaiber und Anne Seeger