Beobachter: Die Schweiz ist stolz auf ihre Demokratie. Frauen dürfen aber erst seit 50 Jahren abstimmen, Ausländer gar nicht. Sind wir heute eine echte Demokratie?
Martina Mousson:
Demokratie ist ein verhandelbarer Begriff, das war schon in der Antike so. Gründerväter wie Aristoteles würde man heute vielleicht alte weisse Männer nennen. Sie beschworen ein hohes Ideal, lebten aber eigentlich in einer sexistischen Sklavenhalter-Demokratie. Die Legitimation demokratischer Entscheidungen steht und fällt mit der Menge an Menschen, die mitreden dürfen, und dem Umgang mit Minderheiten. Per Definition ist die Schweiz eine echte Demokratie. Trotzdem blickt sie auf einiges zurück, was wir heute nicht mehr demokratisch nennen würden.

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Lange durften arme und straffällig gewordene Menschen nicht abstimmen. Oder solche, die zu wenig Steuern zahlten.
Noch absurder: In einigen Kantonen durfte nicht abstimmen, wer ein Wirtshausverbot hatte. Einmal betrunken sein – das reichte für den Ausschluss aus der Demokratie. Häufig musste das Bundesgericht solche rechtswidrigen Einschränkungen aufheben. 


Woher kommen diese willkürlichen Regeln?
Ängste spielen eine wichtige Rolle. Bürgerliche wollten Arme nicht abstimmen lassen, weil sie Angst davor hatten, Wohlstand und Macht zu verlieren. Männer befürchteten, dass das politische System umgestürzt werde und Frauen Staatsgelder für soziale Projekte aus dem Fenster werfen. 


Weder Arme noch Frauen stellten die Schweiz auf den Kopf.
Es hat sich tatsächlich wenig verändert. Gerade beim Frauenstimmrecht ist das erstaunlich, da 1971 über Nacht rund 2,7 Millionen Schweizerinnen als Stimmberechtigte zu den 2,5 Millionen Schweizern hinzukamen. Untersuchungen zeigen, dass sich Frauen und Männer beim Abstimmen meist einig sind. Unterschiede in der Höhe der Zustimmung gibt es, mehrheitsrelevant waren diese seit 1977 aber nur bei 16 von 377 nationalen Vorlagen. Spannend ist, dass Frauen viel häufiger die ausschlaggebende Mehrheit an der Urne bildeten, und zwar zwölfmal, Männer nur viermal. Frauen schossen etwa den Kampfjet Gripen ab, Männer waren bei der Annahme des Krankenversicherungsgesetzes das Zünglein an der Waage.


Wenn die Unterschiede nicht so gross sind, hätten ja einfach weiterhin die straffreien reichen Männer für alle abstimmen können.
Nein. Die Unzufriedenheit wäre riesig. Eine solche Einschränkung lässt sich mit den festen Grundwerten unserer Gesellschaft nicht vereinbaren. Am Ende ist ausschlaggebend, dass man die Möglichkeit hat, mitzubestimmen. Egal, ob man sie wahrnimmt oder ob es einen Einfluss aufs Resultat hat. 


Politisieren Frauen und Männer auch gleich?
Bei den Motionen im Parlament unterscheiden sich die politischen Interessen deutlicher. Frauen reichen vermehrt Motionen im Bereich der Gesundheitspolitik oder der Umwelt ein. Sie setzen sich stärker für soziale Fragen ein. Bei Männern sind Wirtschaft, Finanzen, Arbeit und Staatspolitik vorherrschende Themen.


Das Klischee ist also erfüllt. Gerade junge Frauen wählen häufiger links als Männer im selben Alter. Weshalb?
Weil sie im linken Umfeld ein grösseres Angebot, mehr Identifikationsfiguren und Unterstützung haben. Das hat sich auch bei der Frauenwahl im Jahr 2019 bestätigt. Es kommt aber auf den aktuellen Kontext an, denn Junge werden häufig über Themen politisiert. 2015 war die SVP im Kontext der Flüchtlingskrise die meistgewählte Partei – auch bei den jungen Menschen.


Was die Jungen interessiert, könnte an der Urne entscheidender werden, falls das Stimmrechtsalter 16 eingeführt wird. 
Nach dem Nationalrat hat sich gerade auch der Ständerat dafür ausgesprochen – das hat mich ehrlich gesagt überrascht. Das Thema war schon länger auf dem Tapet, hatte es bisher aber eher schwer. Gegner behaupten, dass sich 16-Jährige nicht für Politik interessieren oder zu wenig informiert sind. 


Der Kanton Glarus würde widersprechen.
Genau, da können 16-Jährige schon seit 13 Jahren auf Kantonsebene abstimmen. Die Politik diskutiert gerade viele Themen, die junge Menschen einmal stark betreffen werden – Nachhaltigkeit oder die Altersvorsorge zum Beispiel. Deshalb liegt der Gedanke einer Mitsprache nahe. Meist braucht es Vorreiter und gute Erfahrungen, bis sich eine solche Forderung national durchsetzt. Als das Stimmrechtsalter 1991 von 20 auf 18 gesenkt wurde, gingen viele Kantone voran. Dadurch entstand ein gewisser Druck. 

«Ich bin mir sicher, dass das Ausländerstimmrecht nur eine Frage der Zeit ist.»

Martina Mousson, Politologin

In der Westschweiz und in Graubünden können Ausländerinnen und Ausländer teilweise auf kommunaler und kantonaler Ebene abstimmen. Ist ein nationales Ausländerstimmrecht ein Thema?
Nicht wirklich. Zumindest gibt es keine Motion oder Vorlage. Das ist bedauerlich, denn wir sind ja stolz auf unsere Demokratie und sehen uns auch international in einer Vorreiterrolle. Deshalb finde ich es schwierig, einen Viertel der Bevölkerung systematisch auszuschliessen. Zumal viele Ausländerinnen und Ausländer hier geboren wurden oder ihr halbes Leben in der Schweiz verbrachten, Steuern zahlen und komplett eingebunden sind.


Was fehlt zum Ausländerstimmrecht?
Eine breite Bewegung der Betroffenen. Einzelne Initiativen gibt es schon, das reicht aber nicht aus. Soziale Bewegungen nimmt man erst ernst, wenn sie eine grosse Bühne haben und Schlagkraft entwickeln. So war es vor der Einführung des Frauenstimmrechts. Auch vor der Frauenwahl 2019 sorgten MeToo und der Frauenstreik für Aufwind. Je grösser der Druck, desto eher merkt eine Gesellschaft, dass die Grenzen der Demokratie vielleicht nicht mehr am richtigen Ort sind.


Wo stehen wir in 50 Jahren?
Gut möglich, dass wir dann ein Ausländerstimmrecht haben. Wahrscheinlich geknüpft an gewisse Bedingungen wie etwa eine minimale Aufenthaltsdauer – so kennen wir es heute schon in gewissen Gemeinden und Kantonen. Auf lange Sicht wird sich die momentane Situation schwer halten lassen. Irgendwann müssen wir uns entscheiden: für mehr Einbürgerungen oder eine Erweiterung des Stimmrechts. Die Schweiz ist bei Veränderungen aber schwerfällig – oft kommt es zu einem langen Pingpong, bis sie sich durchsetzen. Ich bin mir sicher, dass das Ausländerstimmrecht nur eine Frage der Zeit ist. 


Wir sprechen immer nur über die Ausweitung des Stimmrechts. Heute darf auch eine 90-jährige Schweizerin abstimmen, die seit 30 Jahren in Thailand lebt. Ergibt das Sinn?
Das ergibt insofern Sinn, als diese Personen Bürgerinnen dieses Landes sind und von Entscheidungen in der Schweiz direkt betroffen sein können, etwa bei der Personenfreizügigkeit. Untersuchungen zeigen aber, dass nur wenige Auslandschweizer abstimmen. Man müsste sich einigen, welche Kriterien fürs Stimmrecht gelten sollen. Mit dem Territorialitätsprinzip dürfte beispielsweise nur abstimmen, wer im Land lebt – das gäbe den Ausländerinnen und Ausländern das Stimmrecht und nähme es den Auslandschweizern weg. Aber das wäre ein grober Umsturz. Eine Beschneidung bestehender Rechte ist in einem Rechtsstaat sehr schwierig. Damit macht man sich keine Freunde, deshalb ist es auch kein Thema auf dem politischen Parkett. 


Wann ist eine Demokratie vollkommen?
Sie ist vollkommen, wenn sie lebt und anpassungsfähig ist. Eigentlich müssen alle relevanten, fähigen Gruppen mitbestimmen können. Wer dazugehört, wird aber stets neu verhandelt, besonders in einer globalisierten Welt. Deshalb: nie. 

Zur Person

Martina Mousson ist Politologin und arbeitet beim Meinungsforschungsinstitut gfs.bern.

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